Reden an die deutsche Nation

Buch Reden an die deutsche Nation

Berlin, 1808
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Die Rettung Deutsch­lands und der Welt

Napoleons Sieg über Preußen und der beinahe vollständige Untergang der ehemaligen europäischen Großmacht ve­r­an­lassten den Philosophen Johann Gottlieb Fichte 1807/08, sich in 14 Reden an die Deutschen zu wenden. Sein lei­den­schaftlicher Appell an seine Landsleute, sich gegen die Franzosen aufzulehnen, um sich selbst und im Übrigen auch die gesamte Menschheit vor dem Untergang zu retten, hinterlässt heute einen zwiespältigen Eindruck. Die Grenzen zwischen Aufklärung und Ver­nun­ft­despotie, zwischen Pa­tri­o­tismus und Na­tion­al­is­mus sind fließend. Bei allen na­tion­al­is­tis­chen Tönen geht es Fichte jedoch nicht um eine deutsche Weltherrschaft, sondern darum, die Ideen der Französischen Revolution gegen den Tyrannen Napoleon zu verteidigen. Das einzige Mittel, um sein Ideal eines sittlichen, auf Vernunft gegründeten Staates zu ver­wirk­lichen, sieht der Philosoph in der Erziehung. Der Einzelne muss angeleitet werden, seinen Egoismus zu überwinden und die Sache des Staats zu seiner eigenen zu machen. Als Fernziel dieser Anstren­gun­gen nennt Fichte nichts Geringeres als ein neues Men­schengeschlecht.

Take-aways

  • Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation sind ein flammender Appell zum Widerstand gegen Napoleon.
  • Inhalt: Um sich gegen ausländische Einflüsse zur Wehr setzen zu können, müssen sich die Deutschen auf ihre Eigenarten und ihre historische Rolle besinnen. Die kulturelle Überlegen­heit der Deutschen beruht auf ihrer ursprünglichen, lebendigen Sprache. Mithilfe eines nationalen Erziehungs­plans soll eine neue Nation, ja ein neues Men­schengeschlecht erschaffen werden.
  • Fichte sah in der Niederlage Preußens gegen die Franzosen den Beweis für die Dekadenz seiner Zeit, zugleich aber auch die Chance für einen Neubeginn.
  • Er hielt die Reden im Winter 1807/08 im französisch besetzten Berlin.
  • Damit nicht nur Studenten und Gelehrte, sondern auch Vertreter des einfachen Volkes sie hören konnten, fanden die Ve­r­anstal­tun­gen sonntags zur Mittagszeit statt.
  • Trotz der langen Satzkon­struk­tio­nen zeigt das Werk ausgeprägt rhetorische Züge mit teilweise lei­den­schaftlichen Appellen und einer fast lyrischen Sprache.
  • Die Reden entfalteten zunächst keine messbare Wirkung, bee­in­flussten aber später Denker wie Karl Marx oder Rudolf Steiner.
  • Die Gle­ich­set­zung von Vernunft und Deutschtum sowie die Haltung, dass dieses mit den Mitteln der Erziehung über die ganze Menschheit verbreitet werden sollte, trug Fichte den Vorwurf des Chau­vin­is­mus ein.
  • Während Fichte lange als Wegbereiter des Na­tion­al­sozial­is­mus galt, betont die jüngere Forschung stärker den kos­mopoli­tis­chen, aufklärerischen Ansatz des Werks.
  • Zitat: „(...) wir müssen, um es mit einem Worte zu sagen, uns Charakter anschaffen; denn Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gle­ichbe­deu­tend (...)“
 

Zusammenfassung

Zur Lage der deutschen Nation

Wenn im Folgenden von den Deutschen die Rede ist, sind alle Deutschen gemeint, unabhängig von den Un­ter­schei­dun­gen, die in den letzten Jahrhun­derten die Nation gespalten haben. Die Deutschen müssen endlich der Wahrheit ins Auge blicken und ihre Lage erkennen, und sie müssen sich auf ihre eigenen Kräfte besinnen, statt Hilfe von außen zu erwarten. Wenn es um ihre Sicherheit geht, verlassen sich die Deutschen immer auf andere Staaten. Sie wähnen sich im Frieden, solange ihre Grenzen nicht angegriffen werden; sie verwechseln eine schwache Regierung mit Humanität und Liberalität. An die Stelle von Furcht und Hoffnung, die früher das Schicksal des Einzelnen an das der Gemein­schaft gebunden haben, sind leere Werte wie Na­tionalehre und Ruhm getreten. Nur durch eine neue Na­tionalerziehung aller Deutschen gleich welchen Standes kann der Niedergang der Nation noch aufgehalten werden.

Ein neues Men­schengeschlecht

Die neue Na­tionalerziehung sollte sich nicht auf die Ermahnung beschränken, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Vielmehr muss sie in den jungen Menschen die Wil­lens­frei­heit vernichten, sodass diese gar nicht mehr anders können, als das Gute zu wollen. Selbst brave Bürger sind nämlich innerlich oft schlechte Menschen, die sich nur um ihr eigenes Wohlergehen sorgen und sich allein aus Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung im Jenseits für das Gemeinwohl einsetzen. Ziel der Erziehung muss also sein, die Selbstliebe auszutreiben und an ihrer Stelle die Liebe zum Guten einzupflanzen. Man strebt nämlich nur nach dem, was man liebt. Die Schüler sollten Erziehung nicht bloß passiv erdulden, sondern gerne und selbstständig lernen.

„Ich rede für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus bei­seite­set­zend und wegwerfend alle die trennenden Un­ter­schei­dun­gen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhun­derten in der einen Nation gemacht haben.“ (S. 13)

Wenn die Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt sind, strebt er von Natur aus danach, sich geistig zu betätigen und weit­erzuen­twick­eln. Die neue Pädagogik nutzt diese natürliche Anlage, indem sie die Fantasie und den Geist anregt. Die Schüler gelangen durch Sel­ber­denken und durch praktische Anwendung zu Erkenntnis, nicht durch mech­a­nis­ches Auswendigler­nen. Nur lustvolles Lernen aus eigenem Antrieb fördert die Sit­tlichkeit, während oberflächliches Pauken den Geist lähmt und die Selbstsucht weckt. Der junge Mensch soll sich als Teil einer höheren, göttlichen Ordnung begreifen, für die er im Hier und Jetzt wirkt, nicht erst im Jenseits. Erziehung in diesem Sinne ist die Kunst, den ganzen Menschen zum Menschen zu bilden, zu dem, was ursprünglich in ihm angelegt ist. An die Stelle des dunklen Gefühls und der Selbstsucht, die ihn heute antreiben, müssen klare Erkenntnis und Liebe treten. Am Ende dieses Prozesses steht die Erschaffung eines neuen Men­schengeschlechts, das vom gegenwärtigen vollkommen verschieden ist.

Die Beson­der­heiten der Deutschen

Das deutsche Volk ist durch seine Geschichte dazu prädestiniert, eine geistige Führungsrolle einzunehmen. Immerhin waren es die Germanen, die am Ende des Altertums ein neues Zeitalter einläuteten. Von anderen Völkern ger­man­is­cher Abstammung un­ter­schei­den sich die Deutschen durch ihre Sprache. Nur das deutsche Volk ist im Besitz einer lebenden Mut­ter­sprache, während die neu­lateinis­chen Sprachen sich vom Lateinis­chen – und damit von einer toten Sprache – ableiten. Die lateinische Sprache gehört der römischen und damit einer vergangenen, vorchristlichen Welt an, deren Vorstel­lun­gen und Begriffe uns heute fremd sind. So sind etwa die neu­lateinis­chen Wörter „Humanität“, „Popularität“ und „Liberalität“ leere Worthülsen. Sie hatten zwar bei den Römern eine Bedeutung, die sich aber heute nicht mehr intuitiv verstehen, sondern nur mithilfe von erlerntem his­torischem Wissen erschließen lässt. Allein die deutsche Sprache eignet sich wahrhaft für geistige Tätigkeiten, weil sie unmittelbar unserem Denken entspringt, weil sie ursprünglich, sinnlich und mit dem wirklichen Leben verbunden ist.

„Diese Erziehung erscheint nun nicht mehr (...) bloß als die Kunst, den Zögling zu reiner Sit­tlichkeit zu bilden, sondern sie leuchtet vielmehr ein als die Kunst, den ganzen Menschen durchaus und vollständig zum Menschen zu bilden.“ (S. 49)

Die künstliche Trennung von Leben und Bildung hat im Ausland zu einer Aufteilung des Volkes in streng voneinander geschiedene Stände geführt. Die Angehörigen der gebildeten Stände halten sich für bessere Menschen, die aufgrund ihrer Geburt anderen überlegen sind. Sie nehmen keinen Anteil am Leben des Volkes, sondern verachten es und nutzen es aus. Deutschland übernahm diese Aufteilung der Stände und stülpte sie dem Volk künstlich über. Deutsche handeln aber gegen ihre Natur, wenn sie romanische Ausdrücke, Moden und Sitten einfach übernehmen, weil sie diese für vornehmer halten. Deutsches Denken ist mühevoll, ernst und tief, es erfordert Fleiß und feste Regeln. Das Romanische dagegen erscheint gefälliger und leichter, geradezu genialisch, doch es ist oberflächlich und übt zu Unrecht eine solch große Anziehungskraft aus.

Die Rolle der Deutschen in der Welt­geschichte

Das deutsche Volk ist das Urvolk der Neuzeit, von dem die anderen Nationen ger­man­is­cher Abstammung sich schon früh abgespalten haben. Von ihm geht eine besondere schöpferische Kraft aus. Die Reformation ist ein Beweis für die Beson­der­heit der Deutschen, für ihre Begeis­terungsfähigkeit und ihre Kraft, Neues zu schaffen. Viele Ausländer haben vor Martin Luther über die Verkom­men­heit der römischen Kirche geklagt, doch nur er schaffte es, aus Sorge um das eigene Seelenheil mit deutschem Ernst und deutscher Gründlichkeit die Kirche von Grund auf zu erneuern. Auch in der Philosophie, der Staats- und Erziehungskunst hat das Ausland immer bloß Anregungen geliefert, die von Deutschen in die Tat umgesetzt wurden.

„Gebe nur das Zeitalter sich ruhig hin der Einimpfung einer neuen edlern und kräftigern Wurzel, so wird die alte ersticken, und die Blüten und Früchte derselben, denen aus jener keine weitere Nahrung zugeführt wird, werden von selbst verwelken und abfallen.“ (S. 56 f.)

Im Mittelalter hatte Deutschland in Europa eine Vor­re­it­er­rolle. In den Reichsstädten gab es erste bürgerliche Ver­fas­sun­gen. Hier herrschten Gemeinsinn und ein Geist der Frömmigkeit und Ehrlichkeit. Handel und Baukunst, Erfindungen und Wis­senschaft blühten auf und wurden erst von der Habgier und Herrschsucht der Fürsten zerstört. Durch Eitelkeit und Nachahmung des Fremden hat sich die deutsche Nation im Lauf der Zeit von ihren Ursprüngen entfernt, ist geschwächt und gealtert. Doch wenn sie sich auf ihre Anfänge besinnt und – unter Führung eines großen Mannes – ihrer wahren Bestimmung folgt, kann das deutsche Volk wieder zur alten Größe zurückfinden.

„Nur diejenige Nation, welche zuvörderst die Aufgabe der Erziehung zum vol­lkomme­nen Menschen, durch die wirkliche Ausübung, gelöst haben wird, wird sodann auch jene des vollkommnen Staats lösen.“ (S. 102)

In den Augen ausländischer Staats­denker ist der Staat eine Art perfekte Maschine, an deren Spitze der Monarch steht. Alles steht und fällt mit der Figur des Fürsten. Doch jede noch so kluge Erziehung kann aus ihm keinen fähigen Menschen machen, wenn er es von Natur aus nicht ist. Dagegen setzt die deutsche Staatskunst auf die Erziehung der ganzen Nation. Alle Angehörigen des Volks müssen von klein auf zu Bürgern erzogen werden. Die deutsche Philosophie glaubt an das Leben, an die Freiheit, an die Verbesserungsfähigkeit und an die schöpferische Kraft des Menschen. Das inzwischen leider auch in Deutschland verbreitete ausländische Denken, das auf einer toten Sprache aufbaut, steht dagegen für Stillstand, Rückgang und letztlich für den Tod.

Vater­land­sliebe und Opfer­bere­itschaft

Viele Christen kümmern sich nicht um Staat­san­gele­gen­heiten, mit der Begründung, das irdische Leben sei ohnehin ein Jammertal und bloß ein Vorspiel zum wahren Leben nach dem Tod. Diese Auslegung der Religiosität ist falsch und wider­spricht dem natürlichen Trieb des Menschen, das jetzige Leben zu verschönern und seinen Nachfahren, in denen er fortlebt, eine bessere Welt zu hin­ter­lassen. Es ist der Glaube an die ewige Fortdauer der Nation, der den Einzelnen dazu bringt, an der Gestaltung dieser Welt tätig mitzuwirken und sich für das Vaterland aufzuopfern. Wer dagegen von der Vergänglichkeit des irdischen Lebens überzeugt ist, kann sich selbst und sein Vaterland nicht lieben, ja er hat gar kein Vaterland. Die Vater­land­sliebe muss der höchste Zweck des Staates sein – höher noch als die Erhaltung der Verfassung, des inneren Friedens, des Eigentums, der persönlichen Freiheit und des allgemeinen Wohlstands. Denn nicht die abstrakte Liebe zur Verfassung, sondern nur die glühende Vater­land­sliebe weckt in den Bürgern die Bere­itschaft, für die Freiheit und Selbstständigkeit ihres Volkes notfalls auch ihr Leben zu opfern.

„Möchte diese Auf­forderung etwas dazu beitragen, dass recht bald ein dazu ausgerüsteter deutscher Mann diese vorläufige Aufgabe löse!“ (S. 107)

Die re­pub­likanis­che Verfassung des Deutschen Reichs, d. h. seine Aufteilung in viele kleine, voneinander unabhängige Staaten, ist der Garant für die Fortdauer der Nation. Die Bürger besitzen eine doppelte Loyalität, einerseits zu ihrem Geburtsland, an­der­er­seits zum ganzen gemeinsamen Vaterland, der deutschen Nation. Durch die hohe Zahl der Staaten, aus denen sich Deutschland zusam­mensetzt, herrscht hierzulande eine größere Mei­n­ungsvielfalt als in zen­tral­is­tisch regierten, monar­chis­chen Ländern. Der rege Austausch unter den Bürgern aller deutschen Staaten führt zu einer besseren Bildung – nicht nur der höheren Stände, sondern des gesamten Volkes. Um die Eigentümlichkeit und Selbstständigkeit Deutsch­lands vor dem Einfluss ausländischer Mächte zu bewahren, müssen seine Bürger von Kindes­beinen an zur Vater­land­sliebe erzogen werden.

Die Na­tionalerziehung zum mündigen Menschen

Die neue Erziehung vermittelt den Schülern nicht in erster Linie Sinnes- und Na­tur­erfahrun­gen, sondern führt sie gleich in die Welt des Geistes. Sie zeigt ihnen, dass mit dem Fortbestand des Vaterlands auch das Fortdauern ihres eigenen Lebens gesichert ist, und weckt damit die Vater­land­sliebe, die Grundlage jedes guten Staates. Die Erziehungskunst folgt dabei dem Vorbild Johann Heinrich Pestalozzis, der aus Liebe zum Volk handelte. Allerdings hat der Pädagoge die Bedeutung des Lesens und Schreibens überbewertet. Wichtiger als das Erlernen abstrakter Wortzeichen ist die Schulung des Empfind­ungsvermögens, wodurch ein Kind ein Bewusstsein von seinem Ich erhält. Durch dieses Bewusstsein wird es die Welt wahrnehmen, seine wahren Gefühle kennen lernen und sich zu einem freien Menschen entwickeln.

„Die Liebe, die wahrhaftig Liebe sei, und nicht bloß eine vorübergehende Begehrlichkeit, haftet nie auf Vergänglichem, sondern sie erwacht und entzündet sich und ruht allein in dem Ewigen.“ (S. 133)

Die Na­tionalerziehung soll nicht in erster Linie Gelehrte heranbilden, sondern mündige Menschen, die zur Liebe fähig sind. Die allgemeine Auffassung, dass der Mensch von Geburt an selbstsüchtig sei, ist völlig falsch. Der Mensch wird nicht als Sünder geboren, sondern durch den Einfluss und das schlechte Vorbild seiner Umgebung dazu gemacht. Das kleine Kind strebt von Natur aus nach Achtung, die ihm erst Selb­stach­tung ermöglicht. Die Grundlage jeder sittlichen Erziehung muss darin bestehen, diesen angeborenen Trieb zu festigen und zu stärken. Freiwillige Selbstüberwindung und Selb­st­be­herrschung müssen gefördert werden, bis das Kind aus eigenem Antrieb das Richtige und Gute anstrebt, weil es daran Gefallen findet. Solange der junge Mensch noch kein eigenes inneres Gewissen entwickelt hat, kommt dem Urteil der Erwachsenen die Rolle eines äußeren Gewissens zu. Der mündige Mensch dagegen ist nicht mehr auf den Beifall anderer angewiesen und erhebt sich über fremdes Urteil, denn er findet Bestätigung in sich selbst.

„Das Kind ohne alle Ausnahme will recht und gut sein, keinesweges will es, so wie ein junges Tier, bloß wohl sein.“ (S. 170)

Um Kinder nicht mit schlechten Gewohn­heiten anzustecken, müssen sie schon früh aus der Erwach­se­nen­welt entfernt und von besonders befähigten Lehrern erzogen werden. Mädchen und Jungen aller gesellschaftlichen Stände sollten gemeinsam in Erziehungsanstal­ten un­ter­richtet werden, die gewissermaßen kleine Staaten mit eigenen Gesetzen wären. Dort lernen die Schüler Acker- und Gartenbau, Viehzucht und Handwerk und sorgen schon früh für ihren eigenen Leben­sun­ter­halt. Die Ve­r­ant­wor­tung für die Schulen sollte der Staat haben, nicht die Kirche, der mehr am Jenseits als am wirklichen Leben gelegen ist. Der Staat würde Kosten für das Heer sparen, denn er hätte in den Schülern gut aus­ge­bildete, au­fopfer­ungs­bere­ite Soldaten; auch Gefängnisse, Ar­me­nanstal­ten und Gerichte würden bald überflüssig. Die wichtigste Aufgabe des Staates ist die Erziehung, denn damit rettet er die Menschheit vor dem drohenden Untergang. Notfalls muss er seinen Plan mit Zwang und gegen den Willen der Eltern durchsetzen.

Die Rettung der deutschen Nation – und der Welt

Die Mehrheit der Menschen ist inzwischen an das Schlechte gewöhnt und abgestumpft. Bis ein neues Men­schengeschlecht heran­gereift ist, hilft es nur, weiter an die Freiheit zu glauben und gegen alle ausländischen Einflüsse den eigenen Charakter zu verteidigen. Ohne die politische Selbstständigkeit Deutsch­lands wird die deutsche Sprache, die ja die Nation zusammenhält und deren Grenzen bestimmt, wie auch die Literatur untergehen. Nicht ein künstliches europäisches Gle­ichgewicht, sondern die Einigkeit der Deutschen entscheidet über den Fortbestand der Nation. Ex­pan­sion­is­mus und Kolo­nial­is­mus sollten Deutschland fremd sein, es muss sich selbst genügen und vom Welthandel unabhängig bleiben. Alle Pläne einer Uni­ver­salmonar­chie, die derzeit den Frieden Europas bedrohen, zielen nicht auf eine Befreiung der Menschen, sondern auf ihre Ausbeutung und Unterdrückung. Jeder Deutsche muss sofort bei sich selbst anfangen, muss seine Dumpfheit, seine Schwächen und Irrtümer überwinden, um den drohenden Untergang der Nation abzuwenden. Von einer wiederge­bore­nen deutschen Nation wird die Erneuerung der ganzen Welt ausgehen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Fichtes Reden an die deutsche Nation umfassen 14 etwa gleich lange Vorträge. Die Reden folgen keiner bestimmten Systematik, im Mittelpunkt stehen abwechselnd Fichtes Be­tra­ch­tun­gen zur deutschen Geschichte und seine Vorstel­lun­gen einer Na­tionalerziehung, die nach und nach präzisiert werden. Der Vor­lesungscharak­ter ist in dem Werk noch deutlich erkennbar. Trotz der langen, gewundenen Satzkon­struk­tio­nen zeigt es ausgeprägt rhetorische Züge, die mitunter fast demagogisch anmuten. Immer wieder unterbricht Fichte seine nüchternen philosophis­chen und his­torischen Be­tra­ch­tun­gen, um sich in lei­den­schaftlichen Appellen und einer nahezu lyrischen Sprache direkt an seine Zuhörer zu wenden. Die letzte Rede gerät zu einem politischen Manifest, in dem der Autor alle Deutschen, Junge und Alte, Geschäftsleute und Gelehrte, Fürsten und Untertanen, beschwört, sofort zu handeln und sich persönlich zu engagieren.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Reden an die deutsche Nation sind ein Aufruf zum Widerstand gegen Napoleon. Fichte, der wie sein Lehrer Immanuel Kant die Französische Revolution anfangs begrüßte, greift die Franzosen unmissverständlich an, obwohl er meist nur vage von „Ausländern“ spricht. Er wirft ihnen vor, sie hätten sich von den Prinzipien der Aufklärung abgewandt und sich einem Despoten unterworfen.
  • Fichtes ide­al­is­tis­che Geschicht­sphiloso­phie ist von der Idee des kulturellen Fortschritts geprägt. Der Verlauf der Geschichte folgt demnach einem vorherbes­timmten Weltplan und lässt sich in fünf ver­schiedene En­twick­lungsphasen gliedern. Seine eigene Epoche rechnete Fichte der dritten Phase zu, die von Egoismus, Selb­ster­hal­tung und Sünd­haftigkeit geprägt sei.
  • Die Gle­ich­set­zung von Vernunft und Deutschtum, das nicht mit Waf­fenge­walt, sondern mit den Mitteln der Erziehung über die ganze Menschheit verbreitet werden soll, trug Fichte den Vorwurf des Chau­vin­is­mus ein. Zwar werden andere Nationen von Fichte durchaus eingeladen, dem deutschen Vorbild zu folgen. Aber seine Überhöhung des deutschen Na­tion­al­be­wusst­seins bietet sich geradezu an, missbraucht zu werden – wie es in der Zeit des Na­tion­al­sozial­is­mus auch tatsächlich geschah.
  • Laut Fichte stiftet die Sprache die nationale und kulturelle Identität eines Volkes. Hinter dieser Haltung steht ein philosophis­cher Es­sen­zial­is­mus: Fichte glaubt an ein deutsches Wesen, das unabhängig von der zeit­geschichtlichen Ausprägung der Nation existiert. So sieht er die Deutschen vor allen anderen Völkern zur Philosophie befähigt und attestiert ihnen aufgrund ihrer „ursprünglichen“ Sprache eine besonders tiefe Beziehung zum Übersinnlichen.
  • Philosophie, Wis­senschaft und die schönen Künste sind für Fichte keinesfalls Selbstzweck, sondern sie sind stets eng mit dem Leben verbunden. Er vertritt eine ganzheitliche Auffassung von Philosophie, die Denken und Tun, Wissen und Handeln als untrennbare Be­standteile des Lebens begreift. Wie schon bei Platon kommt dem Philosophen im Staat eine besondere poli­tisch-erzieherische Aufgabe zu.

His­torischer Hintergrund

Napoleon und das Ende der preußischen Großmacht

Nach der Regierungsübernahme im Jahr 1799 und dem Ausbau seiner Macht­po­si­tion im Innern Frankreichs schickte sich General Napoleon Bonaparte an, das übrige Europa zu erobern. Das Ziel der Kriege, mit denen er während seiner 15-jährigen Herrschaft den ganzen Kontinent überzog, war es, das stark zen­tral­is­tis­che französische Staatsmod­ell und die im Code civil niedergelegten Recht­sauf­fas­sun­gen in die Nach­barstaaten zu exportieren. Der Ex­pan­sions­drang und Machtwille Napoleons, der sich 1804 zum Kaiser der Franzosen ernannte, führte zu einer politischen Neuordnung Europas: Aus den eroberten Gebieten, darunter Italien, das deutsche Rheinland, Preußen und Österreich, entstanden neue, von Frankreich abhängige Satel­liten­staaten. 1806 wurden 16 süd- und west­deutsche Fürstentümer, die aus dem Deutschen Reich austraten, im so genannten Rheinbund zusam­mengeschlossen, der eng an Frankreich gebunden war. Daraufhin legte Kaiser Franz II. am 6. August 1806 die Reichskrone nieder und besiegelte damit das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

Preußen wurde von Napoleons Er­oberungspoli­tik besonders hart getroffen. Nach der Schlacht von Jena und Auerstedt 1806 verlor es mehr als die Hälfte seines Ter­ri­to­ri­ums, darunter die gesamten west­el­bis­chen Gebiete. Auf den fast vollständigen Zusam­men­bruch des Königreichs folgte eine umfassende Neugestal­tung des Staatswe­sens unter König Friedrich Wilhelm III. In einer Art „Revolution von oben“ setzten die Minister Karl Freiherr vom Stein und Karl August Fürst von Hardenberg ab 1807 um­fan­gre­iche Reformen des Ver­wal­tungs- und Bil­dungswe­sens, des Militärs und der Land­wirtschaft in Gang, um Preußen zu mod­ernisieren und es den Er­fordernissen der Zeit anzupassen. In Anlehnung an die ursprünglichen Ideen der Französischen Revolution sollten die Bürger aus ihren tra­di­tionellen ständischen und wirtschaftlichen Bindungen befreit und stärker in die Gestaltung des Gemein­we­sens eingebunden werden. Es sollte eine Nation von gle­ich­berechtigten Staatsbürgern entstehen.

Entstehung

Gleich zu Beginn des Krieges empfahl sich Fichte dem preußischen König als Feld­predi­ger zur moralischen Stärkung der Soldaten – ein Angebot, das dieser jedoch ablehnte. Als am 27. Oktober 1806 die siegreichen französischen Truppen in Berlin einzogen und die Stadt besetzten, fühlte sich Fichte erneut zum Handeln aufgerufen. Die notorische Führungsschwäche Friedrich Wilhelms III. und die Demütigung der einstigen europäischen Großmacht Preußen durch Napoleon ve­r­an­lassten ihn, seine philosophis­chen Arbeiten zu un­ter­brechen, um sich der Tage­spoli­tik zuzuwenden. Einerseits sah er in der Nieder­w­er­fung Preußens durch die Franzosen eine Bestätigung für die Sünd­haftigkeit seiner Epoche. An­der­er­seits erkannte er darin aber auch die Chance für einen Neubeginn. Um zum Widerstand gegen Napoleon aufzurufen, kehrte er im Herbst 1807 von Königsberg, wohin er der dem König und der Regierung nach der Niederlage gegen die Franzosen gefolgt war, ins wirtschaftlich und sozial danieder­liegende Berlin zurück.

Fichte kündigte seine Reden an die deutsche Nation als Fortsetzung seiner drei Jahre zuvor gehaltenen Vorlesungen über Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters an, in denen er seine Geschicht­sphiloso­phie ausführlich dargelegt hatte. Die 14 Reden hielt er vom 13. Dezember 1807 bis zum 20. März 1808 jeden Sonntag zur Mittagszeit im runden Saal der Preußischen Akademie der Wis­senschaften zu Berlin. Der Termin – unmittelbar nach dem Kirchgang – sollte es nicht nur Studenten und Gelehrten, sondern auch dem einfachen Volk ermöglichen, die Vorlesungen zu hören.

Wirkungs­geschichte

Fichtes Reden an die deutsche Nation, die bereits 1808 publiziert wurden, übten vermutlich Einfluss auf die Staat­sre­for­men des Freiherrn vom Stein aus, auch wenn dieser sich nicht ausdrücklich auf das Werk bezog. Überhaupt fielen die Reaktionen der Zeitgenossen eher verhalten aus; die zweite Auflage ließ bis 1816 auf sich warten. Erst um die Mitte des Jahrhun­derts gewannen die Reden wieder an Aufmerk­samkeit. So un­ter­schiedliche Denker wie Heinrich von Treitschke, Ferdinand Lassalle und Karl Marx beriefen sich auf Fichte. Auch auf Rudolf Steiner und das an­thro­posophis­che Menschen- und Erziehungs­bild übte Fichte großen Einfluss aus. Die Na­tion­al­sozial­is­ten beriefen sich ausdrücklich auf die Reden an die deutsche Nation und schlachteten sie für ihre Zwecke aus. Während der Nachkriegszeit, etwa in der In­ter­pre­ta­tion des französischen Philosophen André Glucksmann, galt Fichte deshalb als Wegbereiter des Na­tion­al­sozial­is­mus und To­tal­i­taris­mus. Die jüngere Forschung rückt dagegen wieder die aufklärerischen, kos­mopoli­tis­chen Auf­fas­sun­gen Fichtes stärker ins Blickfeld.

Über den Autor

Johann Gottlieb Fichte wird am 19. Mai 1762 im sächsischen Rammenau als Sohn eines Bandwebers geboren. Das Stipendium eines Adligen erlaubt ihm den Besuch der Latein­schule und anschließend der Fürstenschule in Pforta. Nach dem Abitur nimmt er in Jena das Studium der Theologie auf. Als sein adliger Gönner 1784 stirbt, bricht er es ohne Abschluss ab. In der folgenden Zeit schlägt sich Fichte als Hauslehrer durch, u. a. in Zürich, wo er den Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi sowie seine künftige Frau Johanna Rahn kennen lernt. Die Begegnung mit den Schriften Immanuel Kants, den er 1791 in Königsberg besucht, wird für Fichte zu einem philosophis­chen Er­weck­ungser­leb­nis. Mit seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) landet er einen Überraschungser­folg. Das Werk wird zunächst anonym publiziert und von der Öffentlichkeit für einen Text Kants gehalten. Als dieser den Irrtum aufklärt, wird Fichte mit einem Schlag berühmt. Seine an­ti­semi­tis­chen Äußerungen und sein harscher Umgang mit Studenten, Freunden und selbst seinem Lehrer Kant tragen ihm schon früh den Ruf eines streitbaren Kopfes ein. 1793 veröffentlicht er die beiden Rev­o­lu­tion­ss­chriften Zurückforderung der Denk­frei­heit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten und Beiträge zur Berich­ti­gung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution. 1794 erhält er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Philosophie in Jena und veröffentlicht seine Grundlage der gesamten Wis­senschaft­slehre. Das Werk, das großen Einfluss auf die Romantiker ausübt, stößt in Fachkreisen auf Widerspruch. Im so genannten Athe­is­musstreit von 1799, in dem sich Fichte mit dem Vorwurf der Got­t­losigkeit au­seinan­der­set­zen muss, gewinnen seine Gegner die Oberhand. Fichte gibt seine Professur auf und geht nach Berlin. Als Pri­vat­dozent hält er Vorträge, u. a. die berühmten Reden an die deutsche Nation (1808), in denen er sich als Gegner Napoleons zu erkennen gibt, bis er 1810 an die neu gegründete Berliner Universität berufen wird. 1813 steckt er sich bei seiner Frau, die im Lazarett Kriegsver­let­zte pflegt, mit Typhus an. Während sie sich bald wieder erholt, stirbt Fichte am 29. Januar 1814 in Berlin an den Folgen der Krankheit.