Die Grundlagen der Arithmetik

Buch Die Grundlagen der Arithmetik

Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl

Breslau, 1884
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Was ist eine Zahl?

Gottlob Freges Fragestel­lung in den Grundlagen der Arithmetik erscheint auf den ersten Blick trivial: Es soll definiert werden, was eine Zahl ist, was sie ausmacht und wie sie beschrieben werden kann. Nor­mal­sterbliche werden sich solche Fragen wohl niemals stellen, denn gewöhnlich sind Zahlen einfach da, ohne dass wir uns ernsthaft fragen, woher sie kommen. Für den Logiker, der gern alles hübsch ordentlich definiert hat, stellt sich die Frage aber schon. Also: Ist die Zahl ein Objekt unserer Fantasie oder etwas Reales? Kann man sie als Eigenschaft von Gegenständen bezeichnen, oder hat sie eine ganz andere Qualität? Frege unternimmt den Versuch, sich der Zahl so zu nähern, wie man sie üblicher­weise gebraucht: als Element der Sprache und als Attribut von Aussagen. Die Methode wurde berühmt – auch wenn die Mühe letztlich vergebens war. Denn Jahre nach der Veröffentlichung des Buches wurde Frege von Bertrand Russell auf Widersprüche in seiner Ar­gu­men­ta­tion hingewiesen. Frege teilte das Schicksal vieler bedeutender Wis­senschaftler: Obwohl er heute als Begründer einer Lehre – der modernen Logik – gilt, führte er doch zu Lebzeiten ein Schat­ten­da­sein.

Take-aways

  • Freges Grundlagen der Arithmetik gehört zu den wichtigsten Texten der modernen Logik, Sprach­philoso­phie und Mathematik.
  • Inhalt: Die Abhandlung unternimmt den Versuch, zu definieren, was eine Zahl genau ist. Nachdem Frege die in seinen Augen gescheit­erten De­f­i­n­i­tionsver­suche bekannter Math­e­matiker und Philosophen aufgeführt hat, findet er eine be­friedi­gende Lösung, indem er Zahlen als bestimmte Begriffsumfänge definiert.
  • Frege ist der Begründer des Logizismus, eines philosophis­chen Ansatzes, der die Mathematik auf die Logik zurückführen will.
  • Zahlen sind für Frege objektiv. Bei ihrer Analyse kann auf jede Form von Psychologie verzichtet werden.
  • Die Abhandlung rev­o­lu­tion­ierte mit ihrem streng logischen Ansatz die Art, wie arith­metis­che Gesetze hergeleitet und bewiesen werden.
  • Das Buch erschien 1884 und wurde sogleich von einigen bedeutenden Math­e­matik­ern scharf kritisiert.
  • Rund 20 Jahre nach der Veröffentlichung der Grundlagen entdeckte der Math­e­matiker und Philosoph Bertrand Russell einen Widerspruch in Freges Ar­gu­men­ta­tion.
  • Freges Ruhm als Math­e­matiker und Sprach­philosoph setzte erst nach seinem Tod mit der Entdeckung seiner nachge­lasse­nen Schriften ein.
  • Heute gilt er als einer der Wegbereiter der an­a­lytis­chen Philosophie und des „Linguistic Turn“ in den Geis­teswis­senschaften.
  • Zitat: „Ich hoffe in dieser Schrift wahrschein­lich gemacht zu haben, dass die arith­metis­chen Gesetze analytische Urtheile und folglich a priori sind. Demnach würde die Arithmetik nur eine weiter aus­ge­bildete Logik, jeder arith­metis­che Satz ein logisches Gesetz, jedoch ein abgeleit­etes sein.“
 

Zusammenfassung

Das Wesen der Zahlen

Was genau ist eine Zahl? Er­staunlicher­weise kann die Mathematik auf diese Frage keine vernünftige Antwort geben, obwohl sie inzwischen viele Methoden entwickelt hat, mit Zahlen zu rechnen. Es ist beschämend für eine Wis­senschaft, wenn sie nicht wirklich erklären kann, womit sie sich beschäftigt. Und wenn dies schon bei den einfachen, natürlichen Zahlen nicht gelingt, wie soll es dann erst bei den komplexen, negativen oder gebrochenen Zahlen funk­tion­ieren? Es ist notwendig, das Wesen der Zahl rein durch logische Ableitungen und Schlussfol­gerun­gen zu definieren. Neben der Mathematik spielt auch die Philosophie eine wichtige Rolle bei diesen De­f­i­n­i­tionsver­suchen.

Ex­perten­mei­n­un­gen über die Arithmetik

Viele Math­e­matiker und Philosophen haben sich über die Natur der arith­metis­chen Sätze Gedanken gemacht. Ihre Ergebnisse könnten un­ter­schiedlicher nicht sein. Auf die Frage, ob Zahlformeln wie etwa 5 + 2 = 7 beweisbar sind, haben ver­schiedene Denker eine Reihe von Antworten gefunden: Immanuel Kant bestritt es, Hermann Hankel kritisierte ihn dafür, Gottfried Wilhelm Leibniz hielt an der Be­weis­barkeit fest, machte jedoch Fehler bei seiner eigenen Herleitung.

„Nachdem die Mathematik sich eine Zeit lang von der eu­k­lidis­chen Strenge entfernt hatte, kehrt sie jetzt zu ihr zurück und strebt gar über sie hinaus.“ (S. 13)

Der englische Utilitarist John Stuart Mill behauptete, Zahlformeln seien empirisch. Er ging davon aus, dass die Zahlen selbst eine Entsprechung in der physischen Welt hätten, so z. B., wenn fünf Raumteile Wasser zu zwei Raumteilen Wasser hinzugegossen würden. Dieser Beweis ist jedoch nicht stichhaltig, zumal man die physische Welt für die Beschrei­bung und den Beweis arith­metis­cher Zahlformeln ab­strahieren muss. Die Formel 5 + 2 = 7 hat innerhalb der Arithmetik eine eigene Bedeutung, die nicht von der physischen Welt abhängt. Wenn man bei jeder Rechnung erst an entsprechende empirische Gegeben­heiten denken müsste, wie Mill es vorschlägt, wäre es schließlich nie möglich, mit Zahlen wie 999 999 zu rechnen. Denn wer kann sich schon so viele Teile von irgendeiner Sache vorstellen? Zahlgesetze können auch nicht induktiv aus der Wirk­lichkeit abgeleitet werden, wie es von einigen Math­e­matik­ern immer wieder behauptet wurde. Für Mill ist die Zahl etwas physisch Wahrnehm­bares, so wie zwei Pferde anders aussehen als drei Pferde. Trotzdem hat die Zahl der Zweiheit oder Dreiheit nichts mit der physikalis­chen Wirk­lichkeit zu tun: Ein Paar Stiefel ist physikalisch dasselbe wie zwei Stiefel; math­e­ma­tisch liegt aber ein Unterschied vor: eins ist nicht gleich zwei.

„Man muss die Zahlformeln, die wie 2 + 3 = 5 von bestimmten Zahlen handeln, von den allgemeinen Gesetzen un­ter­schei­den, die von allen ganzen Zahlen gelten.“ (S. 16)

Der irische Philosoph George Berkeley bemerkte, dass die Zahl keinesfalls fix sei, denn sie sei nur ein Hilfsmittel des Geistes: Ein Fenster könne durch die Zahl 1 repräsentiert werden, ein Haus mit vielen Fenstern ebenfalls durch die Zahl 1. Berkeley folgert daraus, dass die Definition von Zahlen eine rein geistige Leistung sei.

Sind Zahlen Eigen­schaften von Dingen?

Kann man sagen, dass das Zahlwort „ein“ die Eigenschaft eines Gegen­standes ausdrückt? Wäre dem so, könnte man „ein“ wie ein Prädikat oder Attribut verwenden. Man könnte also statt „Solon war weise“ auch sagen „Solon war einer“. Doch das funk­tion­iert nicht. Einem Gegenstand können Größe, Gewicht oder Farbe, aber keine eindeutige Zahl zugewiesen werden. Und selbst wenn es möglich wäre, Gegenständen eine Zahl eindeutig zuzuordnen, bliebe doch die Frage, welcher Gegenstand die unrühmliche Ehre hätte, mit der Eigenschaft „null“ beschrieben zu werden. Ein solcher Gegenstand wäre ebenso wenig denkbar wie einer, der sich treffend mit der Potenz 10001000 bestimmen ließe.

Gleichheit und Ver­schieden­heit

Auch die Beschrei­bung der Gleichheit und Ver­schieden­heit von Gegenständen ist ein Problem. Wenn man fünf Objekte mit einer Zahl versieht und sie „5“ nennt, so meint man in Wirk­lichkeit 1 + 1 + 1 + 1 + 1. Da diese fünf Objekte bei aller num­merischen Gleichheit aber auch verschieden sind, müsste man eigentlich 1’ + 1’’ + 1’’’ + 1’’’’ + 1’’’’’ oder gar a + b + c + d + e schreiben. Auf diese Weise könnte ausgedrückt werden, dass man allein durch die Reihenfolge des Zählens eine eindeutige Markierung vornimmt. Wenn wir die 1 fünfmal verwenden, liegt es nahe, dass wir die fünf Objekte als ähnlich bezeichnen wollen. Die Verwendung des Hochkommas deutet jedoch an, dass wir eine Un­ter­schei­dung zwischen den Objekten vornehmen: Wir haben die Gleichheit der Objekte nötig und gle­ichzeitig müssen wir ihre Ver­schieden­heit darstellen. Im Buch­staben­beispiel ist die Gleichheit allerdings schon in der Wahl der Variablen verloren gegangen.

Begriffe als Träger der Zahlen

Wenn Zahlen keine Eigen­schaften von Gegenständen sind, wie lassen sie sich dann definieren? Ein Versuch besteht darin, Sätze zu untersuchen, in denen Zahlen typ­is­cher­weise vorkommen. Dabei stellt sich heraus, dass Zahlangaben Aussagen über Begriffe sind. Begriffe entsprechen nicht den Gegenständen. Sie sind vielmehr Ab­strak­tio­nen derselben, die mit Zahlen versehen werden können. Daher sind die Begriffe die wahren Träger von Zahlen. Beispiel­sweise besitzt die Venus keine Monde. Gleichwohl kann man den Begriff „Venusmond“ bilden. Mit der Aussage „Die Venus hat keine Monde“ wird dem Begriff „Venusmond“ die Eigenschaft „null“ zuerkannt. Ein Begriff kann also, anders als die Gegenstände, durchaus den Wert 0 annehmen, da ja den Begriffen Zahlen zugeordnet werden können. Dem Begriff „Erdmond“ ließe sich die Zahl 1 zuordnen. Mit der Aussage „Der Wagen des Kaisers wird von vier Pferden gezogen“ wird dem Begriff „Pferd, das den Wagen des Kaisers zieht“ die Zahl 4 beigelegt usw.

„Und wir kommen zu dem Schlusse, dass die Zahl weder räumlich und physikalisch ist (...) noch auch subjectiv wie die Vorstel­lun­gen, sondern unsinnlich und objectiv.“ (S. 42)

Man könnte behaupten, Aussagen über Begriffe seien immer subjektiv. Das stimmt aber nicht, im Gegenteil: Eine Aussage über Begriffe ist notwendi­ger­weise objektiv. Ordnet man bestimmte Begriffe anderen Begriffen unter, macht man immer eine Aussage über etwas objektiv und real Bestehendes. Beispiele sind Aussagen wie „Alle Walfische sind Säugetiere“ (die Un­terord­nung der Walfische unter die Säugetiere ist objektiv) oder „Alle Körper sind schwer“ (die Schwere von Körpern ist ebenfalls eine objektive Wahrheit). Begriffe sind von den Gegenständen verschieden, sie können also auch abstrakte und nich­tex­is­tente Dinge beschreiben, denen dennoch eindeutig eine Zahl zugeordnet werden kann. Das ist ein klarer Vorteil der Begriffe im Vergleich zu den Gegenständen. Der Sprachge­brauch unterstützt übrigens die These, dass Zahlen den Begriffen beigestellt werden. Wenn wir etwa von „zehn Mann“ oder „drei Fass Wein“ sprechen, so verwenden wir nicht den Plural, der eigentlich korrekt wäre. Der Grund: Wir meinen nicht die Männer oder Fässer, sondern nur die jeweiligen Begriffe.

Zahlen sind Gegenstände

Zahlen werden nicht nur als Attribute verwendet („Jupiter hat vier Monde“) sondern auch als Eigennamen in einer Gleichung („Die Zahl der Monde des Jupiters ist gleich vier“). Daraus lässt sich schließen, dass Zahlen Gegenstände sind, denn nur diese haben Eigennamen. Man kann einwenden, dass sich niemand eine Vorstellung von dem Gegenstand „Vier“ machen kann. Das ist aber irrelevant. Auch unsere Vorstel­lun­gen von den Gegenständen „Erde“ oder „Gold“ sind sehr un­ter­schiedlich und müssen nicht der Bedeutung des Wortes entsprechen.

De­f­i­n­i­tionsver­suche der Zahl

Um dem Begriff der Zahl auf die Spur zu kommen, muss man zunächst klären, wie die Gleichheit von Zahlen definiert werden kann. Hierzu müssen wir Aussagen finden, die der Form „die Zahl, die dem Begriff F zukommt, ist dieselbe, die dem Begriff G zukommt“ entsprechen. Bereits David Hume hat den Vorschlag gemacht, dass zwei Zahlen als gleich angesehen werden können, wenn die eine immer eine Einheit hat, die jeder Einheit der anderen entspricht. Dieses Vorgehen führt jedoch nicht in jedem Fall zu korrekten Ergebnissen. Man könnte nun versuchen, die Zahl über einen Zwis­chen­schritt zu definieren, und zwar, indem man ein Identitätskriterium findet, das dafür sorgt, dass sich zwei Ausdrücke auf die gleiche Zahl beziehen.

„Die Zahl ist nicht in der Weise wie Farbe, Gewicht, Härte von den Dingen abstrahirt, ist nicht in dem Sinne wie diese Eigenschaft der Dinge.“ (S. 59)

So lässt sich beispiel­sweise der Satz „Die Gerade a verläuft parallel zu der Geraden b“ auch als Gleichung auffassen: „Die Richtung der Geraden a ist gleich der Richtung der Geraden b.“ Parallelität wird somit durch Gleichheit ersetzt. Mit dieser Gle­ich­set­zung geht jedoch eine Reihe von logischen Problemen einher. Eines davon ist, dass „die Richtung von a“ als ein Gegenstand erscheint, weil der Ausdruck ein Subjekt mit einem bestimmten Artikel ist. Als solches müsste er auch auf jede andere beliebige Gleichung anwendbar sein, also z. B. auf den Satz „Die Richtung von a ist gleich q“, aber auch auf so absurd klingende Fälle wie „England ist gleich der Richtung der Erdachse“. Eine solche Behauptung würde zwar niemand aufstellen oder glauben, aber das ist eben aus der Gleichung an sich nicht erkennbar. Der Versuch, den Begriff der Richtung zu definieren, erweist sich also als Sackgasse; und mit dem Begriff der Zahl verhält es sich genauso.

Be­griff­sum­fang und Gle­ichzahligkeit

Besser gelingt eine Definition, wenn wir auf die Begriffe „Be­griff­sum­fang“ und „Gle­ichzahligkeit“ zurückgreifen. Der Be­griff­sum­fang von F ist, einfach ausgedrückt, die Menge aller Gegenstände, die unter den Begriff fallen. Gle­ichzahligkeit bedeutet, dass es eine eindeutige Zuordnung zwischen zwei Begriffen gibt. Das kann man sich bildlich etwa so vorstellen: Wenn ein Kellner genauso viele Messer wie Teller auf den Tisch legen will, braucht er nicht beide abzuzählen. Er muss sie nur in eine eindeutige Beziehung setzen. Wenn er die Messer immer rechts neben die Teller legt, sind Teller und Messer durch ihre Lage einander genau zugeordnet. Wenn jeder Teller sein Messer bekommt, sind beide Elemente gle­ichzahlig. Die Aussage „Das Messer liegt rechts neben dem Teller“ enthält zwei Gegenstände und einen Beziehungs­be­griff. Entfernt man z. B. den Teller aus der Aussage, so erhält man den Beziehungs­be­griff „links neben dem Messer liegend“. Wir können nun eine Definition der Zahl in Form einer Äquiv­alenzbeziehung geben:

„Die Zahl ist nichts Physikalis­ches, aber auch nichts Subjectives, keine Vorstellung.“ (S. 59)

Die Zahl, die dem Begriff F zukommt, ist der Umfang des Begriffes „gle­ichzahlig dem Begriff F“.

Analog hierzu lassen sich die Eigen­schaften bestimmter Zahlen ableiten bzw. definieren. Für die Zahl 0 lässt sich Folgendes festlegen:

0 ist die Zahl, die dem Begriff „sich selbst ungleich“ zukommt. 1 ist die Zahl, die dem Begriff „gleich 0“ zukommt. __ __Der erste Satz mag auf den ersten Blick etwas verstörend wirken, erfüllt aber seinen Zweck. Null ist nichts und deshalb wurde ein Begriff gewählt, unter den nichts fällt. Wenn also „a ist nicht gleich a“ gelten soll, so wird man kein a finden, das diese Bedingung erfüllt. Hiermit wäre „0“ definiert. Der zweite Satz beweist die Existenz der direkt auf die Null folgenden Zahl 1: Da es nur eine Zahl 0 gibt, entspricht der Begriff „gleich 0“ der Zahl 1. Auf ähnliche Weise lässt sich auch ableiten, was es heißt, dass Zahlen aufeinan­der­fol­gen und dass es unendlich viele Zahlen in dieser Reihe geben kann.

Die Natur der Arithmetik

Arith­metis­che Gesetze sind analytische Urteile a priori, d. h. sie basieren nicht auf der realen Welt der Empirie, sondern auf einer rein logischen Grundlage. Die Gegenstände der Arithmetik kommen nicht von außen in unsere Sinne und unseren Verstand, sondern sie sind uns natürlicher­weise gegeben. Gle­ichzeitig sind die Gesetze der Arithmetik aber keine Hirnge­spin­ste oder Kopfge­burten: Sie gehören zu den ob­jek­tivsten Tatsachen, die man sich nur denken kann. Was das bedeutet, wird sehr schnell klar, wenn man andere Arten von Zahlen als die bisher behandelten untersucht: Brüche, irrationale Zahlen und komplexe Zahlen. Letztere hantieren mit der imaginären Einheit i, um auch die Wurzeln negativer Zahlen berechnen zu können. Aber was i bedeutet, lässt sich durch nichts An­schauliches – weder Äpfel noch Birnen oder gar Zahn­schmerzen – beschreiben. Würde man etwas An­schauliches verwenden, hieße das, etwas Frem­dar­tiges in die Arithmetik einzuführen. Haben wir von der Zahl 10001000 eine Vorstellung? Nein, wir können uns davon auch keine Vorstellung machen. Dennoch ist die Zahl ein Gegenstand, dessen Eigen­schaften uns einsichtig sind – rein durch unsere Vernunft.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Abhandlung ist in sechs Teile mit insgesamt 109 Paragrafen gegliedert. Die ersten Teile beinhalten vor allem eine kritische Au­seinan­der­set­zung mit den zu Freges Zeit vorherrschen­den Ansätzen, die Arithmetik zu begründen. Hierbei widmet der Autor sich nicht nur Klassikern wie Kant und Leibniz, sondern auch Zeitgenossen wie Ernst Schröder, Hermann Hankel und Georg Cantor. Diese Au­seinan­der­set­zung führt er z. T. in sehr scharfem Ton, sodass sich einige der kri­tisierten Math­e­matiker beleidigt fühlten und es Frege mit entsprechen­den Rezensionen seines Textes dankten. In den letzten drei Teilen geht Frege daran, seine eigene Definition der natürlichen Zahlen zu begründen, wobei er seine Be­haup­tun­gen nur ansatzweise beweist. Diese Unzulänglichkeit erkannte Frege selbst und erweiterte die in den Grundlagen gemachten Aussagen in seinen Grundge­set­zen der Arithmetik. Ins­beson­dere die zweite Hälfte des Buches wirkt darum sehr sperrig und lässt durch ihre De­f­i­n­i­tionsver­suche mitunter mehr Verwirrung als Klarheit aufkommen. Manchmal beginnt Frege ein Thema, schiebt Beispiele und Umwege ein – und kommt am Ende gar nicht mehr auf das ursprüngliche Problem zurück. Der Text bietet darum selbst für geübte Leser einige Verständnishürden.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Frege ist der Begründer des Logizismus, eines philosophis­chen Ansatzes, der die Mathematik auf die Logik zurückzuführen versucht. Sätze der Arithmetik sind für Frege analytische Urteile – die etwas ausdrücken, was in der Bedeutung des Wortes bereits enthalten ist –, eine Gegen­po­si­tion zu Immanuel Kant, der diese Sätze für syn­thetis­che Urteile a priori hielt – also für Urteile, die unser bestehendes Wissen vermehren.
  • Für das Verständnis der Grundlagen der Arithmetik ist es wichtig zu wissen, dass Frege gleichermaßen in der Mathematik wie in der Sprachlogik zu Hause ist. Nur mithilfe von Begriffen, so Frege, lassen sich Zahlen definieren. Er versteht den Begriff als eine Funktion, die wahre oder unwahre Werte annehmen kann. Die Aussage „X ist ein Buch“ enthält den Begriff „ein Buch sein“. Die Aussage kann also z. B. „Die Bibel ist ein Buch“ (wahr) oder „Der Eiffelturm ist ein Buch“ (unwahr) lauten.
  • Frege ist einer der Wegbereiter der an­a­lytis­chen Philosophie, die sich der Zer­gliederung von Sprache und Sprachbe­standteilen bediente. In den Grundlagen wird immer wieder auf den Sinnzusam­men­hang von Sätzen und Begriffen hingewiesen. Die starke Betonung der Sprache macht Frege auch zu einem frühen Vertreter des so genannten Linguistic Turn in den Geis­teswis­senschaften.
  • In den Grundlagen hält Frege Zahlen für etwas Objektives, also für reale math­e­ma­tis­che Objekte. Sein Credo ist der An­tipsy­chol­o­gis­mus: Zahlen als etwas Subjektives zu sehen, das lediglich im Denken existiert, lehnt er ab. Allerdings schwankte er in dieser In­ter­pre­ta­tion, ins­beson­dere gegen Ende seiner Schaf­fenspe­ri­ode.
  • Die Grundlagen wurden von Bertrand Russell analysiert und in­ter­pretiert. Er kam mit seiner Russell’schen Antinomie zu einer für Freges Werk katas­trophalen Erkenntnis: Die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, enthält sich selbst genau dann, wenn sie sich nicht selbst enthält. Das führt dazu, dass sie gar nicht existieren kann. Aufgrund dieser Entdeckung erwies sich Freges System der Begriffsumfänge als fehlerhaft, was dieser mit großer Bestürzung aufnahm.

His­torischer Hintergrund

Geschichte der Logik von der Antike bis ins 19. Jahrhundert

Der Begriff „Logik“ geht auf das griechische Wort „logos“ zurück, das ursprünglich schlicht „Wort“ bedeutet. Unter Logik versteht man die Lehre des schlüssigen Denkens und der Beweisführung. Als Begründer der klassischen Logik gilt Aristoteles. Er entwickelte das System der Syllogistik, das bis ins 19. Jahrhundert die Methode des logischen Schlussfol­gerns schlechthin war. Ein Syllogismus besteht aus zwei Prämissen (a und b) und einer Konklusion (c), wobei jede Prämisse einen Begriff mit der jeweils anderen Prämisse und einen Begriff mit der Konklusion gemeinsam hat. Wenn also a = b ist und c = a, dann ist auch c = b. Ein Beispiel: „Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.“ Die Texte des Aristoteles wurden besonders im Mittelalter stark rezipiert. Die Logik war damals Teil des so genannten Triviums, d. h. des drei­gliedri­gen Fächerkanons aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik/Logik. Bis in die Neuzeit blieb Aristoteles auf dem Gebiet die maßgebliche Instanz. Immanuel Kant meinte sogar, die Logik habe mit Aristoteles bereits ihren Abschluss erreicht. Dennoch fügten Uni­ver­sal­gelehrte wie Gottfried Wilhelm Leibniz im ausgehenden 17. Jahrhundert wichtige Aspekte hinzu. Leibniz entwickelte beispiel­sweise eine Kun­st­sprache, mit deren Hilfe logische Gleichungen aufgestellt werden konnten. George Boole läutete mit seinem al­ge­brais­chen Logikkalkül die moderne Logik ein. Der Kalkül ist ein System von Bausteinen, mit dem sich ver­schiedene logische Aussagen kon­stru­ieren und mithilfe von festen Regeln ableiten lassen. Mit Frege und seiner Be­griff­ss­chrift von 1879 kam die moderne Logik vollends zum Durchbruch.

Entstehung

In den Grundlagen der Arithmetik führte Frege Fragestel­lun­gen fort, die er mit seiner Be­griff­ss­chrift begonnen hatte. Sein Ziel war es, die Erken­nt­nisse der Logik auf die Mathematik anzuwenden. In einem Rückblick auf sein Lebenswerk schrieb er: „Von der Mathematik ging ich aus. In dieser Wis­senschaft schien mir die dringlich­ste Aufgabe in einer besseren Grundlegung zu bestehen. (...) Bei solchen Un­ter­suchun­gen war die logische Un­vol­lkom­men­heit der Sprache hinderlich. Ich suchte Abhilfe in meiner Be­griff­ss­chrift. So kam ich von der Mathematik zur Logik.“ Frege war nicht der einzige Math­e­matiker, der zu jener Zeit den Versuch unternahm, die Arithmetik logisch zu begründen. Bereits ein paar Jahre zuvor hatte sich Georg Cantor einer rein logischen Erklärung der Kar­di­nalzahlen gewidmet. Cantor, der als „Vater der Mengenlehre“ bekannt wurde, entwickelte De­f­i­n­i­tio­nen, die auch Frege verwendete. Dessen Grundlagen der Arithmetik erschienen 1884 in Breslau. Von der geringen anfänglichen Wirkung des Werkes zeugt die Tatsache, dass es zwar 50 Jahre später nachge­druckt wurde, zu Freges Lebzeiten aber keine weiteren Auflagen oder Veränderungen erlebte.

Wirkungs­geschichte

Unter den wenigen Rezensionen des Buches sticht vor allem die von Georg Cantor hervor, dessen Ideen denjenigen von Frege sehr nahe waren. Was Cantor im Mai 1885 in der Deutschen Lit­er­aturzeitung veröffentlichte, kam jedoch einem Verriss gleich. Die schlechte Aufnahme seines Buchs kränkte Frege. Als er sich nach rund zehn Jahren daran machte, die in den Grundlagen an­geris­se­nen De­f­i­n­i­tio­nen in den Grundge­set­zen der Arithmetik zu for­mal­isieren, nannte er in der Einleitung vor allem einen Grund für die lange Verzögerung: „Die Mut­losigkeit, die mich zeitweilig überkam angesichts der kühlen Aufnahme, oder besser gesagt des Mangels an Aufnahme meiner (...) Schriften bei den Math­e­matik­ern und der Ungunst der wis­senschaftlichen Strömungen, gegen die mein Buch zu kämpfen haben wird.“

Dass von Freges Werk zu Lebzeiten überhaupt Notiz genommen wurde, verdankte er vor allem dem Kontakt zu den britischen Math­e­matik­ern Bertrand Russell und Philip Jourdain. Der spätere No­bel­preisträger Russell fügte seinem Buch The Principles of Mathematics (1903) einen Anhang bei, in dem er auf Freges Leistungen hinwies. Auch Jourdain erwähnte Frege lobend in einer Serie von Artikeln, die sich mit der Entwicklung der math­e­ma­tis­chen Logik beschäftigten. Russell wies Frege 1902 in einem Brief auf einen Widerspruch in dessen System hin. Diese so genannte Russell’sche Antinomie stellte Freges gesamtes Lebenswerk infrage, sodass dieser 1924, ein Jahr vor seinem Tod, in sein Tagebuch schrieb: „Meine Anstren­gun­gen, über das ins Klare zu kommen, was man Zahl nennen will, haben zu einem Misserfolg geführt.“

Die eigentliche Wirkungs­geschichte Freges und damit auch seines lo­gizis­tis­chen Programms, zu dem die Grundlagen gehören, begann erst nach seinem Tod. Hier sind vor allem zwei Personen zu nennen: Freges ehemaliger Schüler Rudolf Carnap, der auf Freges Logik und Sprach­philoso­phie aufbaute, und der Philosoph Heinrich Scholz, der Freges Nachlass entdeckte, das Frege-Archiv in Münster einrichtete und damit der Nachwelt Freges Schriften überhaupt erst zugänglich machte. Heute ist Freges Bedeutung für die moderne Logik und Sprach­philoso­phie auch dank der Arbeit von Scholz unbe­strit­ten.

Über den Autor

Gottlob Frege wird am 8. November 1848 in Wismar geboren, wo er bis zu seinem Abitur bleibt. Danach studiert er Mathematik, Physik und Philosophie in Jena und Göttingen. 1873 schließt er seine Promotion ab. Ein Jahr später habilitiert er, nach Jena zurückgekehrt, für das Fach Mathematik. 1879 wird er außeror­dentlicher Professor an der Universität in Jena. In diesem Jahr veröffentlicht er seine Be­griff­ss­chrift, mit der er die Logik rev­o­lu­tion­iert. 1884 erscheint mit den Grundlagen der Arithmetik der erste Teil von Freges lo­gizis­tis­chem Programm, der Ableitung der Mathematik aus der Logik. 1887 heiratet er. Da die Ehe kinderlos bleibt, adoptieren die Freges einen Jungen. 1893 und 1903 erscheinen die Grundge­setze der Arithmetik in zwei Bänden. 1896 wird Frege in Jena zum or­dentlichen Hon­o­rarpro­fes­sor berufen. In der Universität ist er eher unauffällig und hat mit Ausnahme der Philosophen Rudolf Eucken und Bertrand Russell wenig Kontakt zu seinen Kollegen. Nach dem Tod seiner Frau 1904 verfällt Frege in eine Depression. In den folgenden Jahren publiziert er kaum etwas. Das ändert sich erst nach seiner Emer­i­tierung im Jahr 1917. Ausgehend von seinen Überlegungen zur Logik widmet Frege sich vermehrt sprach­philosophis­chen Fragestel­lun­gen, beispiel­sweise in den Aufsätzen Über Sinn und Bedeutung, Über Begriff und Gegenstand (beide 1892), Der Gedanke (1918) und Die Verneinung (1919). Frege stirbt am 26. Juli 1925 in Bad Kleinen.