Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie

Buch Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie

Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie

Belgrad, 1936
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Gegen die Ent­men­schlichung der Wis­senschaft

Edmund Husserl, der Vater der Phänomenologie, blickt in seinem un­vol­len­de­ten Spätwerk zurück in die Geschichte der Philosophie und der Wis­senschaften. Er beklagt, dass die Philosophie als Uni­ver­sal­wis­senschaft längst von Einzel­wis­senschaften abgelöst worden sei. Deren beispiel­lose Erfolge hätten aber in eine ernste Krise geführt: Dem alltäglichen Leben der Menschen, ihrer Sinnsuche und ihren Hoffnungen auf eine bessere Zukunft könnten sie nicht mehr gerecht werden. Husserl geht der Frage nach, wie es dazu kommen konnte. Seine Antwort: Die Wis­senschaft habe sich schon vor langer Zeit von allem befreit, was sie nicht berechnen oder mit einer Formel ausdrücken könne. Die konkrete Lebenswelt des Menschen sei dabei ins Hin­tertr­e­f­fen geraten. Husserl schrieb das Buch in einer Übergangsphase zwischen zwei Katas­tro­phen: Die Wunden des Ersten Weltkriegs waren noch nicht verheilt und die Schreck­en­sh­errschaft der Na­tion­al­sozial­is­ten stand kurz vor ihrem Höhepunkt. Entsprechend düster fallen seine Geschicht­surteile aus.

Take-aways

  • Husserls Spätwerk Die Krisis der europäischen Wis­senschaften und die tran­szen­den­tale Phänomenologie gehört zu den ein­flussre­ich­sten Schriften des Philosophen.
  • Inhalt: Die Wis­senschaften sind zu Beginn des 20. Jahrhun­derts in eine Krise geraten. Die Ursache dafür liegt vor allem in der Abspaltung der math­e­ma­tisch-natur­wis­senschaftlichen Disziplinen von der Uni­ver­sal­philoso­phie. Die Natur­wis­senschaften haben die Welt in Formeln gepresst, die der Lebenswirk­lichkeit der Menschen nicht entsprechen.
  • Husserl hatte das Ziel, die Philosophie wieder als erste Wis­senschaft einzusetzen.
  • Berühmt wurde der Aufsatz vor allem wegen dem darin verwendeten Begriff der „Lebenswelt“: Husserl meint damit die vor­wis­senschaftliche Alltagswelt der Menschen.
  • Der Text ist über weite Strecken eine kom­plizierte philoso­phiegeschichtliche Abhandlung.
  • Husserl spart nicht mit Kritik an den Vertretern der beiden großen klassischen Philoso­phi­eschulen Ra­tio­nal­is­mus und Empirismus.
  • Seine Phänomenologie betrachtet er als Wendepunkt der Philosophie.
  • Die Krisis-Schrift beruht auf einer Reihe von Vorträgen und blieb wegen Husserls Tod unvollendet.
  • Die Wirkung von Husserls Spätwerk setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein und bee­in­flusste Philosophen, Soziologen und Psychologen gleichermaßen.
  • Zitat: „Wis­senschaften im Plural, alle je zu begründenden und alle schon in Arbeit stehenden, sind nur unselbstständige Zweige der Einen Philosophie.“
 

Zusammenfassung

Die Krise der Wis­senschaften

Die Wis­senschaften stecken in einer Krise. Das klingt zuerst einmal unglaubwürdig, denn eine Krise traut man zwar der Philosophie oder auch der Psychologie durchaus zu – man spricht ihnen ja auch eine strenge Wis­senschaftlichkeit ab –, nicht aber den „reinen“, positiven Wis­senschaften wie der Mathematik oder den Natur­wis­senschaften. Wenn man jedoch den Blickwinkel erweitert und die Krise der Kultur als Aus­gangspunkt für eine Kritik der Wis­senschaften nimmt, ergibt sich die Notwendigkeit, von einer Krise ebendieser Wis­senschaften zu sprechen. Ihren Ursprung hat sie etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts. Zu dieser Zeit nämlich verfiel die Menschheit auf den ausschließlichen Pos­i­tivis­mus der Wis­senschaft. Das Subjekt verschwand und die Objektivität hielt Einzug. Damit veränderte sich auch die Wis­senschaft an sich. Sie kehrte sich den bloßen Tatsachen zu und wendete sich vom Alltag und der Lebenswirk­lichkeit der Menschen ab. Eine Wis­senschaft der Tatsachen macht aus vormals vielfältig in­ter­essierten Menschen Tat­sachen­men­schen.

Wis­senschaft früher und heute

Viele beklagen sich heute darüber, dass uns die Wis­senschaft nicht mehr weiterhelfe. Die großen Fragen nach Sinn oder Unsinn des men­schlichen Lebens kann uns die moderne Tat­sachen­wis­senschaft nicht beantworten. Sogar die Geis­teswis­senschaften, die sich inzwischen auch zum Pos­i­tivis­mus bekehrt haben, versuchen immer wieder, den Menschen „auszuschal­ten“ und sich nur objektiven Wahrheiten zu widmen. Aber wird das dem Menschen, seinem Geist und seiner Geschichtlichkeit gerecht? Was nützt es, zu wissen, dass sich die Geschichte in immer neuen Wellen von Grauen und Hoffnung, Krieg und Frieden, Abschwung und Aufschwung entwickelt? Hilft es uns, in einer solchen Welt zu leben?

„Bloße Tat­sachen­wis­senschaften machen bloße Tat­sachen­men­schen.“ (S. 4)

Nicht immer waren die alltäglichen Fragen des Lebens aus der Wis­senschaft verbannt. Als die Menschen sich in der Renaissance gegen die feudalen, mit­te­lal­ter­lichen Lebens­for­men auflehnten, ori­en­tierten sie sich an der Antike und damit an einer freien, philosophis­chen Lebensweise. Sie befreiten sich vom Mythos und ließen auf die the­o­retis­che Philosophie eine praktische folgen. Die Philosophie vereinte damals alles, was sich heute über die ver­schiede­nen Einzel­wis­senschaften verteilt. Es war eine einzige, umfassende Philosophie, die alle Probleme der Welt lösen wollte, seien es zeitbe­d­ingte oder ewige Probleme. Die Wis­senschaft, wie sie sich heute darstellt, hat alle höchsten und letzten Fragen fallen gelassen oder sie in die Schublade der Metaphysik gesteckt, der Pos­i­tivis­mus hat sie von der Philosophie getrennt. Aber auch diese Fragen sind letztlich Fragen der Vernunft, egal ob es um Erkenntnis, Werte oder Ethik geht.

Die Abspaltung der positiven Wis­senschaften

Die zu Beginn der Neuzeit herrschende Euphorie, eine universelle Philosophie als Quelle aller Wis­senschaften zu gestalten, wich der Ernüchterung. Auf dem Gebiet der positiven Wis­senschaften türmte man Erfolg auf Erfolg, aber auf dem „Restgebiet“ der Metaphysik ver­strick­ten sich die Koryphäen in Widersprüche und stritten sich bloß. Die wenigen verbliebe­nen Uni­ver­sal­philosophen fühlten sich als Versager und versuchten vergeblich, den Grund für ihr Versagen her­auszufinden.

„In unserer Lebensnot – so hören wir – hat diese Wis­senschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schick­salsvoll­sten Umwälzungen preis­gegebe­nen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen men­schlichen Daseins“ (S. 4 f.)

Während also die Philosophie in die Krise geriet, standen die positiven Wis­senschaften glänzend da. Die Trennung wurde un­ver­mei­dlich. Genau diese Trennung bedeutete aber auch einen Verlust für die nun eigenständigen Tat­sachen­wis­senschaften. Ihnen fehlte fortan der Glaube an die Vernunft, an die Wahrheit und an den Sinn des Lebens. Deshalb ist es durchaus richtig, von einer Krise der Wis­senschaften zu sprechen.

Die euklidische Geometrie

Im Griechentum der Antike befand sich das Menschentum in einem idealen Zustand. Diese Kultur besaß eine Entelechie, ein Ziel in sich selbst. Es ist die Aufgabe der Philosophen der Gegenwart, die Philosophie zu dem zurückzuführen, was sie einmal war – damit sie wieder etwas gilt und damit sie den Menschen ihr Telos, ihr Ziel, zurückgeben kann. Um diese schwierige Aufgabe zu erfüllen, müssen wir die Geschichte der Philosophie genauestens studieren.

„Wis­senschaften im Plural, alle je zu begründenden und alle schon in Arbeit stehenden, sind nur unselbstständige Zweige der Einen Philosophie.“ (S. 7)

Blicken wir zurück, erscheint uns die Historie als eine Abfolge von Kämpfen zwischen ver­schiede­nen Philoso­phien. Wann fand die Umgestal­tung der alten Uni­ver­sal­philoso­phie statt? Sie begann schon in der Antike, nämlich mit der Entwicklung der eu­k­lidis­chen Geometrie. Hier hatte man erstmals eine exakte Wis­senschaft mit ihren eigenen Axiomen, empirischen Zahlen, Linien, Flächen und Körpern. In der Neuzeit wurde daraus eine formale Mathematik, eine analytische Geometrie. Mathematik wurde gle­ichbe­deu­tend mit Rationalität. Damit war die Idee geboren, alles Seiende, ja die ganze Welt sei im Grunde genommen etwas Rationales, das durch Rationalität erforscht werden könne. Galileo Galilei wandte die Mathematik auf die Natur an – und gestaltete diese so im Sinne der Mathematik um. Es entstand die math­e­ma­tis­che Natur­wis­senschaft.

Die Math­e­ma­tisierung der Natur

Alle Menschen nehmen ihre Umwelt un­ter­schiedlich wahr. Dennoch gehen wir nicht davon aus, dass es ver­schiedene Welten gibt, sondern dass die Er­schei­n­un­gen, die uns und anderen begegnen, einen realen Kern haben. Auf diesen zielte Galileis Math­e­ma­tisierung der Natur ab. Die reine Geometrie denkt sich den Raum in sauberen, perfekten Linien, Kanten und Kreisen. Sie übersetzt die nicht immer idealen geometrischen Formen der Welt in ihren ide­al­isierten geometrischen Raum. Im Lauf der Geschichte bewegte man sich stetig weiter in Richtung Idealität: Mit dem math­e­ma­tis­chen Fortschritt und den entsprechen­den Werkzeugen konnte man eine immer geradere Linie, einen immer reineren Bogen und einen immer perfekteren Kreis zeichnen. Aus den ide­al­typ­is­chen Formen en­twick­el­ten sich so genannte Limes­gestal­ten, also Möglichkeiten von Gestalten, die am Ende einer langen Reihe der Ver­vol­lkomm­nung stehen.

„Der Pos­i­tivis­mus enthauptet sozusagen die Philosophie.“ (S. 8)

Einmal ide­al­isierte Formen konnten mit anderen Formen zusammengefügt werden, sodass sich Schritt für Schritt auch Formen denken ließen, die es in der Sinneswelt gar nicht gibt. Die Mathematik machte es möglich, Figuren in absoluter Exaktheit zu schaffen, was uns die wirkliche Welt stets versagte. Solche geometrischen Formen sind nicht nur perfekt, sie sind auch in­ter­sub­jek­tiv identisch, d. h. sie stellen sich jedem Betrachter gleich dar. Mit ihnen ließ sich eine ide­al­isierte Welt beschreiben, die alle Menschen gleich wahrnehmen. Dasselbe gilt für die math­e­ma­tis­che Messkunst. Indem wir Längen, Höhen und Aus­dehnun­gen messen, können wir die sinnlich wahrnehm­bare Welt in das Raster der Mathematik zwängen. Berge werden zu Höhen, Ebenen zu Längen, Meere zu Tiefen.

Kausal­beziehun­gen und angewandte Geometrie

In unseren Beobach­tun­gen der Welt stellen wir fest, dass diese bestimmte „Gewohn­heiten“ hat. Es gibt Kausal­beziehun­gen, die eine Voraussage von Ereignissen ermöglichen. Etwas, was immer wieder geschieht, oder ein bestimmter Wirkungsmech­a­nis­mus, der regelmäßig auftritt, lässt sich in Hypothesen und Vo­raus­deu­tun­gen darstellen. Kausalität bedeutet, dass man gewissermaßen die Zukunft voraussagen und natürlich ebenso die Ver­gan­gen­heit rekon­stru­ieren kann. Auch hier springt uns die Mathematik zur Seite und liefert eine Lösung, die Kausal­beziehun­gen der Welt zu ordnen und zu ide­al­isieren. Sie macht aus subjektiv empfundenen Wahrnehmungen objektive Daten.

„Demnach bedeutet die Krisis der Philosophie die Krisis aller neuzeitlichen Wis­senschaften als Glieder der philosophis­chen Universalität (...)“ (S. 12)

In Kombination mit der Messkunst kann die ideale Geometrie sogar den Schritt zur angewandten Geometrie machen: Die gemessenen Werte werden auf die reale Welt rückübertragen, und so lassen sich Dinge berechnen, die in der realen Welt nicht ohne Weiteres messbar wären. Es handelt sich also um einen Dreischritt: Die wirkliche Welt wird vermessen. Dann wird sie in den Raum der ide­al­typ­is­chen Geometrie übertragen. Schließlich können mit den gewonnenen Daten Berech­nun­gen durchgeführt werden, die wiederum auf die Seinswelt übertragen werden.

Die Welt, in Formeln gepresst

Lässt sich diese Ob­jek­tivierung der Formen und Gestalten auf die gesamte Fülle unserer sinnlichen Wahrnehmungen anwenden? Dies erscheint schwierig, weil es zu viele Abstufungen und Grade der Größe, Wärme, Helligkeit, Glätte usw. gibt. Die sinnlichen Eigen­schaften der Körper lassen sich nur ap­prox­imieren, also näherungsweise bestimmen. So etwas schwebte Galilei vor: Klänge wurden zu Schall­wellen und Wärme zu Wärmewellen. Alles ließ sich physikalisch-math­e­ma­tisch erklären, und diese Erklärbarkeit der Welt wurde zur Selbstverständlichkeit. Allerdings muss man beachten, dass sich Galilei bestimmter Hypothesen über die Kausalzusam­menhänge der Welt bediente. Es waren zwar Hypothesen, die auf Regelmäßigkeiten beruhten, aber dennoch waren und bleiben es Hypothesen, die sich bis in alle Ewigkeit immer wieder bewähren müssen. Denn mit der Anwendung natur­wis­senschaftlicher Formeln und Methoden wird zugleich eine Vorbe­din­gung in Kauf genommen: dass die Methoden und Formeln, selbst wenn sie immer weiter verfeinert werden, die Wirk­lichkeit nur annähernd abbilden können. Die Natur­wis­senschaftler nach Galilei wandelten die Modelle, die sie erfanden, in Formeln um. Je mehr Formeln sie ansammelten, desto mehr Uner­forschtes konnten sie berechnen.

„Die eigentlichen Geisteskämpfe des europäischen Men­schen­tums als solchem spielen sich als Kämpfe der Philoso­phien ab (...)“ (S. 15)

Mit dieser Math­e­ma­tisierung ging die Tech­nisierung der Natur­wis­senschaft einher. Die Natur­wis­senschaften hatten sozusagen ein Kleid aus Formeln und Methoden gewoben, das der Lebenswelt der Menschen recht gut zu passen schien. Dann – und das ist die fatale Entwicklung – wurde dieses Kleid der Lebenswelt übergestülpt und fortan als wahrer Kern derselben angesehen. Dies, obwohl es sich ja nur um ein Kleid aus ide­al­isierten und angenäherten Erken­nt­nis­sen handelt.

Ob­jek­tivis­mus und Sub­jek­tivis­mus

In der Philoso­phiegeschichte kam es zur Spaltung zwischen dem natur­wis­senschaftlichen Ob­jek­tivis­mus, der sich mit der math­e­ma­tisch erklärbaren Welt beschäftigte, und dem tran­szen­den­talen Sub­jek­tivis­mus, der alles Subjektive, Psychische in sich vereinte. Es war der ra­tio­nal­is­tis­che Denker René Descartes, der diese Spaltung mit zwei Formeln zementierte: Er unterschied zwischen den „res extensa“, also den körperlichen und damit objektiven Dingen, und den „res cogitans“, also den geistigen Dingen, die sich dem objektiven Zugriff verschließen. Descartes gelang mit seinem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“ eine neue Stärkung des Sub­jek­tivis­mus, aber dennoch liegt der Verdacht nahe, dass er sich letztlich mehr für den Ob­jek­tivis­mus in­ter­essierte. Denn Descartes und seine ra­tio­nal­is­tis­chen Nachfolger Nicolas Malebranche, Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz gründeten ihre Philosophie zwar auf dem denkenden Subjekt, setzten es aber in eine ob­jek­tivierte Umwelt.

Ra­tio­nal­is­ten und Empiristen

Gegner und Kritiker des Ra­tio­nal­is­mus waren die englischen Empiristen. Vor allem John Locke kam eine entschei­dende Rolle zu. Nicht durch Vernunft, so Locke, sondern nur durch sinnliche Erfahrung könne der Mensch Aussagen über die äußere Umwelt machen. Locke und die Empiristen, unter ihnen George Berkeley und David Hume, räumten der men­schlichen Seele einen Platz im Körper ein; sie machten aus ihr ein geschlossenes, reales System. Berühmt wurde die Vorstellung der Seele als Tafel, auf der die „seelischen Daten“ aufgeschrieben und gelöscht werden. Der Effekt: Die Empiristen bescherten uns eine neue Psychologie und verbannten alle Begriffe der ver­meintlich objektiven, außerseel­is­chen Welt und mit ihr die math­e­ma­tis­chen Begriffe ins Reich der Fiktion.

„Die Messkunst wird also zur Weg­bere­i­t­erin der schließlich uni­versellen Geometrie und ihrer ‚Welt‘ reiner Limes­gestal­ten.“ (S. 27)

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant versuchte, einen neuen Sub­jek­tivis­mus mithilfe seiner Tran­szen­den­tal­philoso­phie zu begründen und den Konflikt zwischen Ob­jek­tivis­mus und Sub­jek­tivis­mus zu schlichten. Dabei spaltete er die menschliche Vernunft in zwei Teile: Der eine Teil, die Sphäre der reinen Vernunft, verarbeitet die ob­jek­tiv-sinnlichen Realitäten, beispiel­sweise unter Anwendung der Mathematik. Dem anderen Teil strömen jedoch nach Kant immer neue sinnliche Daten zu, die nicht rational erklärt werden können. Die „Dinge an sich“, die rational nicht erklärbaren Ursprünge dieser Sinnesreize, seien der objektiven Wis­senschaft nicht zugänglich.

Zum Text

Aufbau und Stil

Husserl erklärt im ersten Teil seiner Krisis-Schrift zunächst, worin die Krise der Wis­senschaften überhaupt besteht. Dieser Teil ist noch relativ leicht lesbar und stellt kaum An­forderun­gen an die philosophis­che Vorbildung des Lesers. Dann jedoch geht es ans Eingemachte: Der Phänomenologe entwickelt ein sich immer feiner verästelndes Netz von his­torischen Bezügen, die von Galilei bis Kant reichen, und rekon­stru­iert die Geschichte der Aufspaltung der Philosophie in un­ter­schiedliche Wis­senschafts­ge­bi­ete. Die Schrift wandelt sich zu einer kritischen Au­seinan­der­set­zung mit zwei wichtigen Schulen der neuzeitlichen Philosophie, dem Ra­tio­nal­is­mus und dem Empirismus. Husserl untersucht ausführlich, wie sich die Philosophie unter dem Einfluss von Descartes verändert hat und wie die Empiristen darauf reagierten. Im Lauf der Abhandlung werden Husserls Überlegungen rasch kom­plizierter, und der Autor unternimmt wenig, um das auf sprach­licher Ebene abzumildern.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Husserl wirft den rationalen Wis­senschaften der Neuzeit vor, sie hätten bei allen ihren Erken­nt­n­is­fortschrit­ten die Welt sys­tem­a­tisch vereinfacht. Fragen der Existenz, des Lebens und des Sinns hätten sie aus­ge­blendet und die Menschheit mit der Mär von der Kalkulier­barkeit des Universums irregeführt.
  • Husserl vertritt das Ideal einer Uni­ver­sal­philoso­phie, das er den zer­split­terten Wis­senschaften entgegenhält. In ihr sieht er die Quelle aller Wis­senschaften wie auch der Philosophie der Neuzeit. Die Phänomenologie soll das Erbe dieser einstigen Uni­ver­sal­philoso­phie antreten und als „erste Wis­senschaft“ re­ha­bil­i­tiert werden.
  • Die Phänomenologie gründet auf der Behauptung, dass man Erken­nt­nisse nur dadurch gewinnen kann, dass man sich den Dingen selbst, also den Er­schei­n­un­gen der Welt, widmet und diese ohne In­ter­pre­ta­tio­nen oder Ab­strak­tio­nen betrachtet und erforscht. Solche Er­schei­n­un­gen oder menschliche Wahrnehmungen werden wie Gegenstände behandelt: Es gibt sie, also sind sie relevant – egal ob sie sich empirisch belegen lassen oder nicht.
  • Ein zentrales Konzept der Phänomenologie ist das der In­ten­tion­alität. Es besagt, dass Subjekt und Objekt nicht getrennt voneinander existieren, sondern immer aufeinander bezogen sind – Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas.
  • Husserl entwickelt in der Krisis-Schrift den bekannten Begriff der Lebenswelt. Er meint damit die konkrete Alltagswelt, in der die Menschen leben und die nicht durch wis­senschaftliche Beschrei­bun­gen verfremdet wurde. Die Wis­senschaften haben laut Husserl den Bezug zur Lebenswelt verloren und sich dadurch selbst in die Krise hinein­gerit­ten.
  • Husserls Kritik am Empirismus ist barsch: Locke ist in seinen Augen naiv und inkon­se­quent – Logik lasse sich nicht auf sinnliche Wahrnehmungen zurückführen – und Hume zwar ein kluger Kopf, der aber den „philosophis­chen Abgründen“ bewusst ausweiche, weil er wisse, dass sie sich mit seiner Methode nicht ergründen ließen.
  • Husserl reiht sich in eine große westliche, von Rousseau begründete Tradition der Zivil­i­sa­tions-, Wis­senschafts- und Tech­nikkri­tik. Diese Strömung hat mit ihrem Wunsch nach Sinnhaftigkeit, Subjektivität und Spiritualität mit­tler­weile sämtliche Lebens­bere­iche beeinflusst und sie (je nach Standpunkt) verdorben oder bereichert.

His­torischer Hintergrund

Kultur- und Hochschulpoli­tik im Dritten Reich

Die Machtübernahme der Na­tion­al­sozial­is­ten in Deutschland war kein kurzfristiger Akt, der mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Re­ich­skan­zler am 30. Januar 1933 beendet war: Die Umgestal­tung des Reiches nach den Vorstel­lun­gen der Nazis begann damit erst. Der Reihe nach wurden die ver­schiede­nen Bereiche des öffentlichen Lebens gle­ichgeschal­tet. Das Gesetz zur Wieder­her­stel­lung des Berufs­beam­ten­tums vom 7. April 1933 schrieb vor, dass alle Beamten, die „nicht arischer Herkunft“ waren, in den Ruhestand versetzt werden mussten. Aber nicht nur jüdische, sondern auch liberale und demokratisch gesinnte Beamte wurden aus den Amtsstuben der öffentlichen Verwaltung sowie aus den Schulen und Universitäten verdrängt. Diverse Or­gan­i­sa­tio­nen wurden zu Verbänden umgewandelt, die man der NSDAP anschloss. Dazu gehörten beispiel­sweise die Berufsverbände der Ärzte, Juristen und Lehrer.

Kultur und Bildung unterlagen ab sofort einer scharfen Zensur. Joseph Goebbels wachte mit seinem Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda darüber, welche Bücher, Drehbücher, Theaterstücke und Filme dem Volk zugänglich waren. Bei der öffentlichen Bücherver­bren­nung am 10. Mai 1933 zeigte das Regime deutlich, welche Autoren fortan nicht mehr erwünscht waren: Arnold Zweig, Sigmund Freud, Erich Kästner und Kurt Tucholsky gehörten dazu. Die Bücherver­bren­nung war eine Aktion des Na­tion­al­sozial­is­tis­chen Deutschen Stu­den­ten­bun­des, der von Professoren unterstützt wurde. Aus den Hochschulen wurden nichtarische Professoren sowie erklärte Gegner der Partei entlassen – unter ihnen Edmund Husserl. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Hälfte aller Stellen in deutschen Universitäten neu besetzt. Martin Heidegger, der ein Schüler Husserls war, trat – was für Professoren keinesfalls Pflicht war – in die NSDAP ein und versuchte das na­tion­al­sozial­is­tis­che Hochschul­pro­gramm an der Freiburger Universität umzusetzen.

Entstehung

Die Krisis-Schrift war Husserls letztes größeres Werk; wegen dem Tod des Autors 1938 blieb sie unvollendet. Der Anlass für die Entstehung war ein Aufruf des Präsidenten des In­ter­na­tionalen Kongresses für Philosophie in Prag vom September 1934. Er bat ausgewählte Philosophen, die am Kongress nicht teilnehmen konnten, um eine Stel­lung­nahme zur gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie. Husserl entwickelte seine Gedanken zu diesem Thema in einem Vortrag weiter, den er im Mai 1935 in Wien auf Einladung des Wiener Kul­tur­bun­des hielt. Er trug den Titel Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit. Diesen Vortrag wiederum erweiterte er zu zwei Einzelvorträgen, die er an der Universität von Prag hielt. Für die Publikation wurden die Referate erneut ergänzt und umgear­beitet.

Husserls Absicht war es ursprünglich, nicht nur eine Be­stand­sauf­nahme und Beurteilung der Krise der neuzeitlichen Wis­senschaft, sondern darüber hinaus eine Kritik an der Psychologie und eine allgemeine Einführung in die Phänomenologie und das Konzept der Lebenswelt zu schreiben. Er schloss diese Arbeit allerdings nicht ab, da er erkrankte und vor der Vollendung des Werks starb. Teile daraus konnten aber schon zu Lebzeiten veröffentlicht werden. Weil ihn die Na­tion­al­sozial­is­ten mit einem Pub­lika­tionsver­bot belegt hatten, erschienen diese Ausschnitte 1936 in der Zeitschrift Philosophia in Belgrad. Weitere Teile lagen nach Husserls Tod lediglich in Manuskript­form vor. Sie wurden erstmals 1954 in den Husserliana publiziert, der kritischen Gesam­taus­gabe seines Werks.

Wirkungs­geschichte

Wegen Husserls Pub­lika­tionsver­bot blieb die Wirkung des in Belgrad erschienen ersten Teils der Krisis-Schrift zunächst auf das Ausland beschränkt. Der tschechis­che Philosoph Jan Patocka veröffentlichte 1936 ein Buch (Die natürliche Welt als philosophis­ches Problem), das sich mit der Lebenswelt au­seinan­der­set­zte und dem Gespräche mit Husserl vo­raus­ge­gan­gen waren. Der französische Phänomenologe Maurice Mer­leau-Ponty war einer der ersten Philosophen, die das 1939 gegründete Husserl-Archiv im belgischen Löwen besuchten und sich ein Bild von den noch nicht veröffentlichten Teilen der Krisis-Schrift machen konnten. Mer­leau-Ponty wandelte Husserls Gedanken ab und ließ sich davon zu seinem Werk Phänomenologie der Wahrnehmung inspirieren, das 1945 erschien und in Frankreich auf großes Interesse stieß. Mit der Veröffentlichung aller verfügbaren Teile der Krisis-Schrift in den Husserliana im Jahr 1954 setzte eine breite Wirkung – nicht nur auf die phänom­e­nol­o­gis­che Schule – ein. So bee­in­flusste Husserl beispiel­sweise den Dekon­struk­tivis­mus und ihren Begründer Jaques Derrida sowie Herbert Marcuses Geschichtsverständnis. Husserls Lebensweltkonzept prägte u. a. die amerikanis­chen Philosophen Aron Gurwitsch und Alfred Schütz. Letzterer verquickte die Phänomenologie Husserls und die Soziologie Max Webers zu einer phänom­e­nol­o­gis­chen Soziologie.

Über den Autor

Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, wird am 8. April 1859 in Proßnitz (Mähren, heute Tschechis­che Republik) in eine jüdische Familie geboren. Er studiert in Leipzig, Berlin und Wien Astronomie, Mathematik, Physik und Philosophie. 1886 geht Husserl nach Halle, wo er an der Universität als Pri­vat­dozent lehrt und mit der Arbeit Über den Begriff der Zahl (1887) habilitiert. Kurz vor der Hochzeit mit seiner Verlobten Malvine Stein­schnei­der lässt er sich evangelisch taufen. 1891 erscheint die Philosophie der Arithmetik, in der er die Gültigkeit math­e­ma­tis­cher Wahrheiten unabhängig von der men­schlichen Erkenntnis behauptet. Zehn Jahre später revidiert er seine Meinung in seinem ersten Hauptwerk, den Logischen Un­ter­suchun­gen (1901). Das Buch bringt ihm den Ruf an die Universität Göttingen ein, wo er ab 1901 als außeror­dentlicher und ab 1906 als or­dentlicher Professor lehrt. Dort entsteht Husserls eigene phänom­e­nol­o­gis­che Schule, die zahlreiche Studenten anzieht. In seinem ein­flussre­ich­sten Werk, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänom­e­nol­o­gis­chen Philosophie (1913), formuliert er die Aufgabe der Phänomenologie, die Sachen so zu beschreiben, wie sie sich dem men­schlichen Geist darstellten – unabhängig davon, ob die Sachen selbst überhaupt existierten. „Zu den Sachen selbst“ ist ein berühmt gewordener Ausspruch Husserls. Seine Ideen fallen auf fruchtbaren Boden, sodass er 1916 einen Ruf an die Universität von Freiburg erhält. Seine erste Assistentin ist Edith Stein, ihr Nachfolger Martin Heidegger, der seine eigenen Forschungen auf Husserls Erken­nt­nis­sen aufbauen wird. Nach der Machtübernahme der Na­tion­al­sozial­is­ten wird Husserl zunächst beurlaubt. 1936 entzieht man ihm die Lehrerlaub­nis und vertreibt ihn aus seinem Haus. Ein Angebot der University of Southern California lehnt er ab. Edmund Husserl stirbt am 27. April 1938 in Freiburg.