Phädon

Buch Phädon

oder über die Unsterblichkeit der Seele

Berlin, Stettin, 1767
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Antike Philosophie im aufklärerischen Gewand

Der Mensch strebt nach Vol­lkom­men­heit und verlässt die Welt immer besser, als er sie betreten hat – ein aus­ge­sprochen positives Men­schen­bild, das den antiken Denker Sokrates und den jüdischen Aufklärer Mendelssohn über die Jahrhun­derte hinweg verband. Mendelssohn stützt sich auf Platons Phaidon, um das Thema Un­sterblichkeit der Seele vor dem Hintergrund neuerer philosophis­cher Ansätze zu diskutieren. Dazu wählt er zwei ar­gu­men­ta­tive Linien: Während der meta­ph­ysis­che Weg einige Schwächen aufweist, die schon sein Zeitgenosse Kant aufdeckte, hat das moral­philosophis­che Argument, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod das Zusam­men­leben der Menschen vereinfacht, bis heute seinen Reiz. Mendelssohn erweist sich als genauer Beobachter der men­schlichen Psyche, wobei er Schwächen wohlwollend ausdeutet und seinen Sokrates mit einer solchen Begeis­terung von der Ver­vol­lkomm­nung des Menschen erzählen lässt, dass er den Leser mitreißt – ob der nun an die Un­sterblichkeit der Seele glaubt oder nicht. Daraus erklärt sich der Erfolg des Werks unter Zeitgenossen, und dieser En­thu­si­as­mus ist es auch, der Mendelssohns Phädon noch immer lesenswert macht.

Take-aways

  • Mendelssohns Phädon gehört zu den meist­ge­le­se­nen philosophis­chen Werken der Aufklärung.
  • Inhalt: Sokrates diskutiert am Tag vor seiner Hinrichtung mit seinen Freunden über die Frage nach der Un­sterblichkeit der Seele. Man bittet ihn, Beweise für ein Weiterleben der Seele anzuführen und zu erklären, wie dieses aussieht. Dies tut Sokrates. Dann trinkt er, in der Überzeugung seiner Un­sterblichkeit, den Giftbecher leer und stirbt.
  • Mendelssohns Aus­gangspunkt ist die Frage: Wenn Sokrates heute leben würde, was würde er zum Thema Un­sterblichkeit der Seele sagen?
  • Anlass zum Verfassen des Werks war eine Diskussion Mendelssohns mit dem Math­e­matiker Thomas Abbt über die Bestimmung des Menschen.
  • Mendelssohn übernahm für sein Werk Teile aus Platons Dialog Phaidon, ersetzte aber auch ganze Abschnitte durch seine eigenen Ausführungen.
  • Zudem griff er auf Vordenker wie Wolff, Descartes und Leibniz zurück.
  • Der Phädon brachte Mendelssohn den Beinamen „deutscher Sokrates“ ein.
  • Mendelssohns Kollegen Kant und Herder kri­tisierten ver­schiedene Punkte des Werks.
  • Mendelssohn diente Lessing als Vorbild für die Figur des Nathan in Nathan der Weise.
  • Zitat: „Oh nein, meine Freunde! Nicht umsonst hat uns die Vorsehung ein Verlangen nach ewiger Glückseligkeit eingegeben: Es kann und wird befriedigt werden.“
 

Zusammenfassung

Einleitung

Nach Sokrates’ Tod will Echekrates von Phädon, der in den letzten Tagen beim Philosophen war, wissen, wie der Tag vor der Hinrichtung verlaufen ist und worüber sich Sokrates zuletzt mit seinen Freunden unterhalten hat. Wie Phädon berichtet, wurde Sokrates nicht sofort nach dem Todesurteil hin­gerichtet. Denn zu dieser Zeit fanden Feier­lichkeiten statt und in der Stadt sollte kein Blut vergossen werden. Sokrates’ Freunde waren traurig, ihn bald verlieren zu müssen, aber auch froh, noch etwas Zeit mit ihm verbringen zu können.

Sich auf den Tod freuen

Das Gespräch zwischen Sokrates und seinen Freunden kam auf das Thema Selbstmord. Sokrates zufolge ist dieser von den religiösen Gesetzen zu Recht verboten. Der Mensch sei Gottes Eigentum, das dieser mit besten Absichten geschaffen und mit Vernunft und anderen Gaben aus­ges­tat­tet habe. Der Mensch habe die Pflicht, sein Leben nach Kräften zu erhalten. Dennoch müsse jeder Weise einem Sterbenden gern folgen wollen. Cebes wollte wissen, wie Sokrates zu dieser Überzeugung kam. Sokrates erläuterte: Im Tod wird die Seele vom Leib getrennt. Der Weisheit­sliebende gibt allerdings sein ganzes Leben lang nicht viel auf das Körperliche. Wollust, üppige Speisen, prächtige Kleider und Überfluss in­ter­essieren ihn nicht. Die Sinne helfen nur selten bei der Suche nach Wissen und Wahrheit, sondern trügen uns oft. Konzepte wie das der Vol­lkom­men­heit erkennen wir nicht durch äußere Anschauung, sondern indem wir sie aus uns selbst ableiten. Solange die Seele an den Körper gebunden ist, kann sie nie ganz zur Wahrheit vordringen. Krankheit, Sorge um den Unterhalt, Liebe oder Wünsche halten sie immer wieder auf. Erst der Tod befreit uns davon und die Seele kann endlich frei zur Weisheit streben. Im Leben bereitet sich der Weise darauf vor und freut sich auf diese Freiheit. Da der Weise also sein ganzes Leben gewissermaßen sterben lernt, wäre es lächerlich, wenn er dem Tod dann voller Furcht begegnen würde. Wer Angst vor dem Tod hat, ist kein Weisheit­slieben­der, sondern hängt am Körper und an Äußer­lichkeiten.

Der Begriff der Veränderung

Cebes gefielen die von Sokrates präsentierten Vorstel­lun­gen, doch fehlte ihm der Beweis, dass nach dem Tod tatsächlich noch etwas kommt, dass die Seele ohne den Körper fortbeste­hen kann. Diesen Beweis wollte Sokrates erbringen. Der Tod sei eine natürliche Veränderung, sagte er. Eine Veränderung bedeutet, dass eine Eigenschaft eines Gegenstands durch eine andere, ent­ge­genge­set­zte abgelöst wird. Eine verwelkte Rosenblüte ist nicht mehr schön, sondern hässlich; aus Tag wird Nacht. Cebes warf ein, dass dieser Wechsel nicht plötzlich geschieht, sondern nach und nach. Tatsächlich, erklärte Sokrates, muss es immer einen Übergang, ein Mittelmaß zwischen den ent­ge­genge­set­zten Zuständen geben. Die Kräfte der Natur sind un­un­ter­brochen am Werk und bringen unaufhörlich, wenn auch manchmal unbemerkt, Veränderungen hervor. Die Zeit läuft in einem fort, und zwischen jeden zwei Au­gen­blicken gibt es einen weiteren, der den Übergang bildet.

Langsames Vergehen statt plötzlicher Vernichtung

Im Körper, fuhr Sokrates fort, gehen ständig Veränderungen vor, die entweder in Richtung seiner Gesundheit oder aber seiner Krankheit und seines Vergehens wirken. Da es, wie gezeigt, nie eine klare Trennung zwischen Sein und Nichtsein geben kann, sondern immer ein Übergang bestehen muss, kann die Natur nicht wirklich vernichten. Die Teile des Körpers vergehen nach und nach, zerfallen und werden etwas anderes: Staub oder Nahrung für Pflanzen. Man kann daher keinen Zeitpunkt festlegen, an dem Leben zu Tod wird, genauso wenig wie man eindeutig den Morgen oder den Abend festlegen kann. Der Körper vergeht vom Tag seiner Geburt an und ist nie vollständig fort.

Das Vergehen der Seele

Wenn die Seele stirbt, kann dies theoretisch entweder plötzlich oder allmählich geschehen. Plötzliches Vergehen ist praktisch aber unmöglich, denn in der Natur wird nie etwas vernichtet. Gott könnte zwar plötzlich etwas vernichten, kann es aber aufgrund seiner Güte nicht wollen. Genauso wie man unmöglich einen Zeitpunkt des Todes festlegen kann, kann man nie eindeutig sagen, wann sich die Seele vom Körper trennt. Sie muss sich also allmählich von ihm trennen. Sie wird gemeinsam mit dem Körper schwächer, und wenn er fort ist, hat sie keine Maschine mehr zu beseelen. Dennoch besitzt die Seele weiterhin ihre Gedanken und Gefühle, denn wie gezeigt, kann sie nicht plötzlich vernichtet werden. Sie hat auch weiter Begriffe, obwohl das für uns unmöglich scheint, da Begriffe nach unserer Erfahrung nur von sinnlichen Eindrücken stammen können. Allerdings können wir über das Leben nach dem Tod nichts wissen: Wie ein Kind im Mutterleib können wir uns einfach nicht vorstellen, dass es ein Jenseits gibt. Auch nach dem Tod des Körpers strebt die Seele nach Glückseligkeit, denn was einen Willen hat, muss un­weiger­lich dieses Ziel verfolgen. Doch was führt dorthin? Liebe, Essen, Wollust gibt es für die Seele nicht, daher bleiben nur Weisheit und Tugend und die Freude an Schönheit und Vol­lkom­men­heit als Wege zu Glückseligkeit. Darauf arbeitet der Weise schon im Leben hin, denn das erlaubt ihm einen kleinen Blick auf Gott, den Inbegriff von Schönheit und Vol­lkom­men­heit. Wer all das erkennt, schloss Sokrates, kann dem Tod nur freudig ent­ge­gense­hen, und wer tugendhaft gelebt hat, hat nichts zu befürchten.

Zwei Einwände

Cebes und Simmias hatten Fragen und Einwände zu Sokrates’ Argumenten. Simmias glaubt fest an die Un­sterblichkeit der Seele. Dennoch wollte er überzeugende Vernunftgründe hören, die auch den letzten Zweifel beseitigen sollten. Sokrates’ Argument, dass die Seele, wenn sich der Körper auflöst, nicht vernichtet werden kann, weil die Natur nie etwas vollständig vernichtet, scheint nicht zwingend. Schließlich müsste man dann auch sagen, dass die Symmetrie eines Hauses, als ähnliche Eigenschaft wie das Denken des Körpers, nach dessen Zerstörung fortbesteht, was aber offenbar nicht der Fall ist. Dasselbe gilt für die Harmonie oder die Gesundheit: Sie kommen zusam­menge­set­zten Dingen zu – fallen diese auseinander, hören auch die Eigen­schaften auf zu existieren. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Gott die Seele einzeln erschaffen und locker mit dem Körper verbunden hat, doch darüber haben wir keine Gewissheit. Vielmehr scheint die Seele ex­is­ten­ziell mit dem Körper verbunden zu sein; ihre Gesundheit steht in direktem Zusam­men­hang zu der des Körpers, sodass es scheint, dass beide dasselbe sind. Auch Cebes hatte einen Einwand: Er wollte wissen, auf welche Weise genau die Seele weiterlebt. Wenn etwa das Leben nach dem Tod wie ein Dämmerschlaf wäre, ohne neue Eindrücke und Ideen, ohne Erinnerung, dann wäre dieser Zustand doch nicht er­strebenswert und nichts, worauf man sich freuen sollte. Sokrates musste nun erklären, warum man darauf hoffen sollte, dass nach dem Tod auch ohne Bewusstsein ein besseres oder auch nur er­strebenswertes Leben wartet.

Die Seele als einfache Substanz

Sokrates antwortete: Vielleicht ist die Seele kein einzelnes, geschaf­fenes Wesen, sondern nur ein Vermögen des zusam­menge­set­zten Körpers, das mit dessen Demontage aufhört zu existieren. Zusam­menge­set­ztes kann nur Wirkungen haben, die in den Wirkungen seiner Teile begründet sind, zum Beispiel in Form von Bewegung. Allerdings kann ein Ganzes Eigen­schaften haben, die die Teile nicht besitzen, weil diese Eigen­schaften nur im Zusam­men­schluss mehrerer Teile entstehen, zum Beispiel die Symmetrie. Das Vermögen, zu empfinden und zu denken, muss eines von beiden sein: Entweder beruht es auf den Wirkungen der Teile oder es ergibt sich aus deren Anordnung. Harmonie und Symmetrie sind Eigen­schaften, die nur in der Betrachtung eines denkenden, ordnenden Wesens zustande kommen. Diese Art von Eigenschaft setzt also ein solches verbinden­des Wesen voraus. Da eine Sache nie aus ihren eigenen Wirkungen entstehen kann, ist es unmöglich, dass die Seele eine Eigenschaft im obigen Sinn ist.

„Mich dünkt, wer reisen will, habe Ursach, sich nach der Beschaf­fen­heit des Landes, dahin er zu kommen gedenkt, wohl zu erkundigen, um sich einen richtigen Begriff davon zu machen.“ (Sokrates, S. 98)

Bleibt die Möglichkeit, dass die Seele, wie Bewegung oder Ausdehnung, eine Tätigkeit des Körpers ist. Diese Tätigkeiten ergeben sich aus den Wirkungen der Be­standteile des Körpers und können der Wirkung des Ganzen, Zusam­menge­set­zten entweder unähnlich oder ähnlich sein. Im ersten Fall ist wieder ein verbinden­des Wesen nötig, das die unähnlichen Tätigkeiten zusammenführt – diese Lösung muss aufgrund des eben ausgeführten Arguments aber verworfen werden. Als zweite Option könnte es ver­schiedene Teile geben, die Vorstel­lungskraft besitzen und die zusammen die Seele ergeben. Kann man sich aber vorstellen, dass alle Begriffe und Ideen, die wir haben, in unserem Körper verteilt sind? Nein, denn sie sind alle miteinander verbunden. Deshalb müssen wir eine einfache, unaus­gedehnte (denn das Ausgedehnte ist teilbar und nicht einfach) Substanz annehmen – die Seele. Dass die Seele keine Eigenschaft des Körpers sein kann, zeigt sich auch auf andere Weise: Unsere Gefühle und Gedanken sind mehr als körperliche Äußerungen: Fre­und­schaft oder Gottes­furcht können nicht rein körperliche Vorgänge sein.

Der Endzweck der Schöpfung

Alle Dinge erhalten ihre Schönheit, Ordnung und Harmonie erst durch das Eingreifen denkender Wesen. Alles Leblose, alle Dinge sind Werkzeuge für das Lebendige. Das Leblose befindet sich in ständigem Fluss und verändert sich unablässig, es dauert nur in Beziehung zum Lebendigen fort. Es gibt zwei Klassen von Lebendigem: die sinnlich empfind­en­den Tiere und die denkenden Menschen. Die Tiere haben Gefühle und Triebe, die sie zu ihrer Erhaltung, Be­quem­lichkeit und Fortpflanzung motivieren. Sie haben eine Seele, und das Leblose dient ihnen. Allerdings streben sie nicht nach Vol­lkom­men­heit oder danach, über sich hin­auszuwach­sen. Sie lernen nicht aus eigenem Antrieb. Deswegen sind sie nicht der Endzweck von Gottes Schöpfung und dienen anderen, die eine höhere Bestimmung haben: den ver­nun­ft­be­gabten Wesen, die von sich aus nach Vol­lkom­men­heit streben und in der Gemein­schaft mit anderen das Ziel der Glückseligkeit verfolgen. Der Mensch kommt der Vol­lkom­men­heit am nächsten, wenn er sich einen Begriff von Gott macht, ihn als Urheber aller Dinge erkennt und versteht, dass es Gott gefällt, wenn er tugendhaft lebt. Nur so erreicht der Mensch Glückseligkeit. Das Streben nach Vol­lkom­men­heit, das die denkenden Wesen ausmacht, ist der Endzweck der Schöpfung. Die Welt ist nur geschaffen worden, um diesem Zweck zu dienen. Wie, fragte Sokrates, soll da der Tod das Ende dieses Strebens sein?

Folgen des fehlenden Glaubens

Ein Mensch, der denkt, der Tod sei das Ende, ist be­mitlei­denswert. Jeder Moment seines Lebens wird von der Furcht vor dem Tod überschattet und er hat im Elend keinen Trost, keine Hoffnung auf spätere Glückseligkeit. Sein eigenes Leben ist sein höchstes Gut, das er um keinen Preis in Gefahr bringen will – verständlicher­weise. Natürlich kann es auch Helden geben, die ohne den Glauben an ein ewiges Leben ihr eigenes opfern. Doch sie tun es aufgrund von Gefühlen und nicht, weil der Verstand es ihnen rät. Nur wer an die Un­sterblichkeit der Seele glaubt, gibt sein Leben gern für einen höheren Zweck. Gibt es diesen Glauben nicht, kommt es zu einem Konflikt: Das Vaterland hat das Recht, von seinen Bürgern zu verlangen, dass sie zu seinem Schutz ihr Leben gefährden. Doch demjenigen, für den sein Leben das höchste Gut ist, müssen wir auch zugestehen, dass er es um jeden Preis schützt, sogar um den Preis der Vernichtung des Vaterlands. Nur der Glaube an die Un­sterblichkeit der Seele kann diesen moralischen Konflikt lösen.

„Das wissen vielleicht die wenigsten, meine Freunde! dass, wer sich der Liebe zur Weisheit wahrhaftig ergeben, seine ganze Lebenszeit dazu anwendet, mit dem Tode vertrauter zu werden, sterben zu lernen.“ (Sokrates, S. 102)

Wenn es die Un­sterblichkeit nicht gäbe, könnte auch Gottes Vorsehung geleugnet werden. Denn wenn dieses eine Leben alles ist, werden die Widersprüche zwischen Gottes Güte und dem Leid und der Un­gerechtigkeit unüberbrückbar. Nur mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod wird das diesseitige Leid erträglich. Wenn man das ewige Leben der Seele ganz überblicken könnte, wären die Leiden nur kurzzeitige Episoden, die im Gesamtbild zu vernachlässigen sind. Das ganze System der Moral, der Rechte und Pflichten wäre hinfällig ohne die Un­sterblichkeit der Seele. Zudem widerspräche es allen Eigen­schaften Gottes, wenn der Tod das Ende wäre. Wie das Leben nach dem Tod aussieht, können sich die Poeten ausmalen, sagte Sokrates. Für ihn stand jedoch fest, dass ihn Glückseligkeit erwartet und dass dazu Mäßigung, Liebe und die Erkenntnis Gottes gehören.

Abschied von Sokrates

Sokrates ve­r­ab­schiedete sich von seinen Freunden und wies sie an, den Gifttrank bringen zu lassen. Die Freunde waren untröstlich, weil Sokrates für sie wie ein Vater war. Er erklärte gelassen, dass er nicht länger warten wolle. Nachdem er den Becher aus­getrunken hatte, legte er sich hin, um auf die tödliche Wirkung zu warten. Seine Freunde weinten offen, doch er bat sie, das zu unterlassen. Kurz darauf starb er.

Zum Text

Aufbau und Stil

Mendelssohns Phädon besteht, wie das antike Vorbild, Platons Phaidon, aus drei Gesprächen zwischen Sokrates und seinen Anhängern, denen der Autor eine Vorrede und eine kurze Abhandlung zu Sokrates’ Leben und Charakter vo­rauss­chickt. In Anlehnung an das antike Original baut Mendelssohn seine Ar­gu­men­ta­tion im ersten Gespräch schrit­tweise auf und lässt Cebes und Simmias Einwände vorbringen, die im zweiten und dritten Gespräch entkräftet werden. Das Ganze ist in eine Rah­men­hand­lung eingebunden: Phädon erzählt Echekrates von Sokrates’ letztem Tag. Zwis­chen­durch kom­men­tieren die beiden das Dargestellte. Der Stil ist gut lesbar, die Argumente nachvol­lziehbar. Das Verhältnis zum Original beschrieb Mendelssohn in seiner Vorrede wie folgt: „Meine Absicht war nicht, die Gründe anzuzeigen, die der griechische Weltweise zu seiner Zeit gehabt, die Un­sterblichkeit der Seele zu glauben; sondern was ein Mann, wie Sokrates, der seinen Glauben gern auf Vernunft gründet, in unsern Tagen, nach den Bemühungen so vieler großer Köpfe, für Gründe finden würde, seine Seele für unsterblich zu halten. Auf solche Weise ist folgendes Mittelding zwischen einer Übersetzung und eigenen Ausar­beitung entstanden.“

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Mendelssohns Phädon enthält zwei Be­weis­lin­ien für die Un­sterblichkeit der Seele: Der meta­ph­ysis­che Beweis beruht auf der Un­ter­suchung der Seele als einfacher, unteilbarer Substanz in Gegenüberstellung zu körperlichen, zusam­menge­set­zten Gegenständen. Der moral­philosophis­che Ansatz soll die Un­sterblichkeit der Seele beweisen, indem gezeigt wird, dass dies eine un­verzicht­bare Grun­dan­nahme für das Gelingen des men­schlichen Zusam­men­lebens ist. Dass das Thema Un­sterblichkeit der Seele dennoch nie rein nüchtern betrachtet werden kann, zeigt das Ende des dritten Gesprächs: Sokrates’ Zuhörer sind von seinen Argumenten überzeugt, dennoch betrauern sie offen seinen Tod.
  • Sokrates scheint oft un­entschlossen, ob er einen Sub­stanz­d­u­al­is­mus oder -monismus vertritt, das heißt, ob Körper und Seele zwei vollkommen unabhängig ex­istierende Wesenheiten sind oder ob das eine nicht doch Teil des anderen ist.
  • Beinahe beiläufig greift Mendelssohn zeitgenössische Debatten auf, so etwa die um den Gesellschaftsver­trag oder das Theodizeep­rob­lem.
  • Viele der Annahmen, auf die Mendelssohns Sokrates seine Argumente gründet, stehen auf tönernen Füßen: etwa die, dass der Mensch der Endzweck der Schöpfung ist, oder die Ansicht, dass Gott um das Wohl des Menschen besorgt ist – hier räumt er selbst ein, dass diese These von manchen, er meint wohl Spinoza, geleugnet wird.
  • Mendelssohn war Rationalist: Er war überzeugt, der Verstand allein führe zur Wahrheit. Alles körperlich Wahrnehm­bare führe dagegen nicht zu sicheren Erken­nt­nis­sen.
  • Das Werk und die vo­r­ange­hende Au­seinan­der­set­zung mit Thomas Abbt war ein erster Schritt auf dem Weg zur Spin­ozis­mus-De­batte, in die mehrere Philosophen der Aufklärung, darunter Lessing und Jacobi, direkt oder indirekt verwickelt waren und in der es, vereinfacht gesagt, um die Frage ging, ob die Lehre Spinozas atheistisch sei.
  • Zwischen dem Aufklärer Mendelssohn und Sokrates finden sich zahlreiche Parallelen: Sie beide sahen die Aufgabe der Philosophie in einer tatsächlichen Verbesserung des Lebens und forderten die Menschen zum selbstständigen Denken auf.

His­torischer Hintergrund

Die deutsche Aufklärung

Die Bestimmung des Menschen im Verhältnis zu Religion, Politik und Umwelt war ein Haup­tan­liegen der Philosophie des 18. Jahrhun­derts. Zahlreiche Umbrüche, gesellschaftliche wie wis­senschaftliche, führten dazu, dass tra­di­tionelle Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Daseins zunehmend skeptisch betrachtet wurden. Aus Frankreich und England strömten die Ideen der Aufklärung nach Deutschland, wo sie von Denkern wie Immanuel Kant, Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn aufge­grif­fen und weit­er­en­twick­elt wurden. Nach dem Ende der Scholastik begannen sich die Philosophen wieder auf die alltäglichen Probleme der Menschen und damit auch auf ihre Sprache zu besinnen. Statt nur tra­di­tionelles Wissen und geistige Autoritäten zu befragen und ihre Erken­nt­nisse zu wiederholen, forderten die Aufklärer dazu auf, selbst zu denken.

Kant formulierte vier Fragen, die das The­men­spek­trum der Aufklärer umrissen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ Wichtige Anliegen der Bewegung waren der Kampf gegen Vorurteile, eine tolerante Haltung in Re­li­gions­fra­gen, eine Ori­en­tierung am Naturrecht und die Krönung der Vernunft als uni­verseller Urteilsin­stanz. Daraus re­sul­tierten Forderungen nach Mei­n­ungs­frei­heit, Men­schen­rechten, Hand­lungs­frei­heit und ein op­ti­mistis­ches Menschen- und Zukun­fts­bild.

Entstehung

Mendelssohn entwickelte den Plan zu einer Übertragung von Platons Phaidon schon rund 15 Jahre vor der Veröffentlichung, erhielt aber erst durch die Ko­r­re­spon­denz mit dem Math­e­matiker Thomas Abbt den letzten Anstoß zur Umsetzung. Mit Bezugnahme auf Johann Joachim Spaldings Werk Betrachtung über die Bestimmung des Menschen warf Abbt Mendelssohn gegenüber die Frage auf, wie der Mensch erkennen könne, was seine Bestimmung sei. Mendelssohn antwortete, der Mensch verbessere sich von allein immer weiter, er könne gar nicht anders und folge damit schon seiner Bestimmung. Der Phädon sollte der weiteren Diskussion mit Abbt als Grundlage dienen, doch der Freund starb noch vor der Fer­tig­stel­lung.

Das Werk ist eine Neufassung von Platons Dialog Phaidon. Vom ersten Gespräch des antiken Originals hat Mendelssohn viel übernommen, im zweiten hat er aktuellere Erken­nt­nisse berücksichtig, im dritten die Diskussion vollends an den zeitgenössischen Forschungs­stand angepasst. Das Ergebnis ist eine Mischung aus einer Übersetzung und einer eigenständigen Schrift. Neben Platon ve­r­ar­beit­ete Mendelssohn die Gedanken einer Vielzahl weiterer Vordenker – er selbst nennt Plotin, René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff, Alexander Gottlieb Baumgarten und Hermann Samuel Reimarus als wichtige Einflüsse.

Wirkungs­geschichte

Mendelssohns Werk wurde von ver­schiede­nen Seiten kritisiert. Berühmt wurden die Einwände seiner Zeitgenossen Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder. Kants Kritik setzte an einer Schlussfol­gerung Mendelssohns an, die die Un­sterblichkeit der Seele belegen sollte: Von „In der Natur gibt es keine plötzliche Vernichtung“ gelangte Mendelssohn zu „In der Natur gibt es gar keine Vernichtung“. Kant sagte, man könne durchaus ein langsames Abbauen des Be­wusst­seins annehmen, bis dieses so nahe bei null sei, dass man es mit dem Tod gle­ich­set­zen könne. Obwohl er das meta­ph­ysis­che Argument angriff, erkannte Kant den Wert der Annahme einer un­sterblichen Seele in moralischen Fragen an. Herders Kritik setzte dagegen bei Mendelssohns These von der Ver­vol­lkomm­nung der Seele als Zweck des men­schlichen Daseins an. Statt einer stufen­weisen, stetigen Verbesserung nahm er eine zirkuläre, kontextabhängige und damit relative Ver­vol­lkomm­nung an. Er ging davon aus, dass sich die Seele nach dem Tod des Körpers einen neuen Körper schaffe, da sie zum Zweck der Selb­stver­vol­lkomm­nung sinnliche Eindrücke brauche.

Dieser Kritik ungeachtet war der Phädon ein beachtlicher Pub­likum­ser­folg: Das Buch wurde wegen der großen Nachfrage mehrfach neu aufgelegt und in zehn Sprachen übersetzt. Als eine der meist­ge­le­se­nen philosophis­chen Schriften der Aufklärung brachte es Mendelssohn den Beinamen „deutscher Sokrates“ ein.

Mendelssohns Phädon ist darüber hinaus Teil einer Debatte, die keineswegs so abgeschlossen ist, wie es auf den ersten Blick scheint: Der Zusam­men­hang zwischen Leib und Seele, oder heute besser Körper und Geist, wird etwa beim Thema Wil­lens­frei­heit oder in der Diskussion um das phänomenale Bewusstsein noch immer diskutiert, und einige von Mendelssohns Argumenten verursachen Philosophen bis heute Kopfzer­brechen.

Über den Autor

Moses Mendelssohn wird am 6. September 1729 in Dessau in beschei­de­nen Verhältnissen geboren. Seine jüdischen Eltern ermöglichen ihm eine gute Ausbildung. 1743 folgt er seinem Mentor Rabbi Fränkel nach Berlin, wo er die neu gegründete Tal­mud­schule besucht. Mendelssohn, dessen Mut­ter­sprache Jiddisch ist, lernt Deutsch, Latein, Französisch und Englisch, liest Wolff, Locke und Leibniz und wird ein Anhänger der Aufklärung. Ab 1750 arbeitet er als Hauslehrer und Buchhalter für einen Seidenhändler. Mendelssohn steigt zum Geschäftsführer und Be­trieb­sleiter auf. Sein Bekannter Gotthold Ephraim Lessing ermöglicht ihm die anonyme Publikation erster Schriften und macht ihn mit Friedrich Nicolai bekannt. Gemeinsam geben die drei die Briefe, die neueste Literatur betreffend heraus. 1763 kann er sich bei einem Wettbewerb der Königlichen Akademie mit einem philosophis­chen Aufsatz gegen Immanuel Kant behaupten. Wegen seines Phädon (1767), einer Neufassung eines pla­tonis­chen Dialogs, wird er von Zeitgenossen „deutscher Sokrates“ genannt. Der Schweizer Pfarrer Johann Caspar Lavater bricht 1770 einen Streit vom Zaun, indem er Mendelssohn auffordert, entweder Beweise gegen das Christentum anzuführen oder selbst Christ zu werden. Die folgende öffentliche Debatte verlangt Mendelssohn viel ab: Er erleidet infolge des Drucks einen Zusam­men­bruch. In den folgenden Jahren beschäftigt er sich unter anderem mit religiösen Überset­zun­gen, wobei er sich für Toleranz starkmacht und seinem Bekannten Lessing sogar zum Vorbild für die Figur des Nathan in Nathan der Weise dient. Als Lessing nach seinem Tod von Friedrich Heinrich Jacobi als Spinozist verunglimpft wird, ergreift Mendelssohn lei­den­schaftlich Partei für seinen Freund. Die Debatte geht als Pan­the­is­musstreit in die Philoso­phiegeschichte ein. Mendelssohn engagiert sich in der Gesellschaft der Freunde der Aufklärung und verfasst Schriften zu zentralen aufklärerischen Themen. Er stirbt am 4. Januar 1786 in Berlin.