Vom Menschen

Buch Vom Menschen

Dublin, London, 1733/34
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Die Vol­lkom­men­heit des Universums

„Whatever is, is right“ – die berühmte Formel, die im 18. Jahrhundert in ganz Europa populär wurde, entstammt Alexander Popes Lehrgedicht Vom Menschen, einer lei­den­schaftlichen Recht­fer­ti­gung der göttlichen Schöpfung. Die Frage, wie ein guter, allmächtiger Gott das Leiden in der Welt zulassen könne, wurde im beginnenden Zeitalter der Vernunft heiß diskutiert. In dem an antiken Vorbildern geschulten Werk wiederholt der englische Dichter und gläubige Katholik das klassische Theodizee-Ar­gu­ment: Die Man­gel­haftigkeit im Detail werde durch die Großartigkeit und Harmonie des ganzen Systems kompensiert, das der Mensch aufgrund seiner beschränkten Perspektive nicht erkennen könne. Statt sich also zu beklagen, solle er seine Be­gren­ztheit akzeptieren und das Übel als Beitrag zur Vol­lkom­men­heit des Ganzen hinnehmen. Popes poetischer Versuch, angesichts zunehmender Ra­tio­nal­isierung den Glauben an einen gerechten Gott zu verteidigen, stieß auf ein geteiltes Echo. Die einen feierten den lyrischen Essay als lit­er­arisches Meisterwerk, andere warfen Pope blanken Zynismus vor. An ar­gu­men­ta­tiver Stringenz mag es dem Werk mangeln, seine sprachliche Kraft indes ist unbe­strit­ten.

Take-aways

  • Alexander Popes Lehrgedicht Vom Menschen zählt zu den berühmtesten lit­er­arischen Zeugnissen des 18. Jahrhun­derts.
  • Inhalt: Der auf seine Vernunft so stolze Mensch maßt sich an, die göttliche Ordnung zu kritisieren und Un­gerechtigkeiten zu beklagen. Dabei kann er aus seiner beschränkten Perspektive die perfekte Harmonie des Ganzen gar nicht erkennen. Er sollte sich besser mit seiner Be­gren­ztheit abfinden und das Übel als Beitrag zur Vol­lkom­men­heit akzeptieren.
  • Popes an antiken Vorbildern geschultes Lehrgedicht ist vom klas­sizis­tis­chen Har­moniedenken Englands geprägt.
  • Es beschäftigt sich mit der zu Popes Zeit viel disku­tierten Theodizee-Frage: Wie kann ein gerechter Gott das Leiden in der Welt zulassen?
  • Das po­et­isch-es­say­is­tis­che Werk verzichtet auf die Entwicklung eines geschlosse­nen philosophis­chen Systems.
  • Statt durch abstrakte Argumente will es die Perfektion der Schöpfung auf sinnlich erfahrbare, poetische Weise vermitteln.
  • Popes Verse sind knapp, pointiert und aufs Äußerste verdichtet.
  • Seine zentrale Aussage, „Was immer ist, ist recht“, wurde schon bald in ganz Europa berühmt.
  • 1755, rund 20 Jahre nach Erscheinen des Textes, erschütterte das Erdbeben von Lissabon den allgemeinen Optimismus und den Glauben an die beste aller Welten.
  • Zitat: „Ist auch Vernunft des stolzen Irrtums Knecht, / die Wahrheit bleibt: Was immer ist, ist recht.“
 

Zusammenfassung

Die Beschränktheit des men­schlichen Verstands

Wir leben nur einmal und wir sollten diese Zeit dazu nutzen, uns die Welt und die Natur, die uns umgibt, genau anzusehen, sie ehrlich zu erforschen. Die Schöpfung erscheint uns als ein Irrgarten, und doch steckt dahinter ein göttlicher Plan, den es vor den Menschen zu recht­fer­ti­gen gilt. Wir können über Gott und die Menschen nur von unserem beschränkten Blickwinkel aus und nach unserem eigenen Wis­sens­stand urteilen. Das Universum setzt sich indes aus ver­schiede­nen Welten und Son­nen­sys­te­men zusammen, die ineinander übergehen und aufs Schönste stufenartig miteinander verbunden sind. Sie bleiben für den men­schlichen Verstand jedoch letztlich un­durch­schaubar.

„Erwach’, St. John! Laß jed’ gemeines Ding / dem Königsstolz oder dem Ehrgeizling! / Da uns im Leben nur steht zu Gebot, / uns einmal umzusehn – dann kommt der Tod –, / sei jetzt dem Men­schen­schau­platz zugetan!“ (S. 19)

Wir sollten nicht über die Un­vol­lkom­men­heit des Menschen jammern. Wer darüber nachdenkt, warum der Mensch so schwach und klein ist, sollte sich erst einmal fragen, wieso er nicht noch schwächer und kleiner ist. In unserer Welt, die nach Maßgabe der Vernunft geplant ist und alle anderen Welten an Weisheit übertrifft, hat der Mensch seinen richtigen, angemesse­nen Platz. Nur scheinbar hat er die Herrschaft inne. Tatsächlich handelt er nach Vorgabe einer unbekannten, fremden Macht. Dabei sieht er immer nur einen Ausschnitt, nicht das Ganze. Das Ziel und den Sinn all seines Handelns und Leidens erkennt er nicht. Doch das ist noch lange kein Grund zur Klage: Der Mensch ist genau so, wie er sein muss, sein beschränktes Wissen passt zu seinem Rang in der gesamten Schöpfung­sor­d­nung. Er ist nur ein kleiner Punkt im Raum, seine Lebenszeit nur ein Augenblick.

„Nicht unsre Un­vol­lkom­men­heit bewein’! / Der Mensch ist grad’ so gut, wie er’s muß sein. / Zu seinem Standort paßt, was er erkennt, / sein Raum ein Punkt, sein Leben ein Moment.“ (S. 23)

Wir können nur das Gegenwärtige erkennen, über die Zukunft wissen wir nichts. Das ist ein Glück, denn wer würde andernfalls die bevorste­hen­den Leiden aushalten? Wüsste das Lamm, dass es bald getötet werden soll, würde es nicht so fröhlich spielen, Gras fressen und noch die Hand seines künftigen Schlächters lecken. Nur Gott sieht mit der gleichen Haltung einen Helden untergehen und einen Spatzen sterben, eine kleine Blase und eine ganze Welt platzen. Nur er weiß, was die Zukunft für den Menschen bereithält – und verrät es nicht. Aber er hat dem Menschen die Gabe der Hoffnung geschenkt, die ihm guttut.

Alles hat seinen Platz und Sinn

Der Fehler liegt im Stolz unseres Denkens. Wer über die angebliche Un­vol­lkom­men­heit des Menschen klagt oder Gott ungerecht nennt, wer als Mensch vollkommen und darüber hinaus auch noch unsterblich sein will, der setzt sich selbst an die Stelle Gottes. Als eine Art Übergott beurteilt er Gottes Werk. Wer sich aber gegen die göttliche Ordnung der Dinge auflehnt und eine andere Welt will, begeht schon eine Sünde. Dem Stolzen, Hochmütigen erscheint es, als sei die Erde mit ihren Pflanzen, Bodenschätzen und Meeren nur für seine eigenen Zwecke und seine eigene Be­quem­lichkeit geschaffen. Und was ist mit Erdbeben und schweren Stürmen, die Städte und ganze Länder vernichten? Weicht die Natur da nicht von ihrem großen Ziel ab? Nein, denn sie wirkt im Hinblick auf das Allgemeine, nicht auf das Besondere. Wenn nun aber die Natur nicht vollkommen ist, so kann man es vom Menschen und seiner moralischen Beschaf­fen­heit erst recht nicht erwarten. Ebenso wie die Schöpfung einen Wechsel von Regen und Sonne erfordert, so braucht sie Menschen mit starken Begierden und solche, die eher weise, maßvoll und ruhig sind. Wir glauben, alles wäre besser, wenn es nur tugendhaft und harmonisch in der Welt zuginge. Doch in Gottes Ordnung haben Naturkatas­tro­phen ebenso ihren Platz wie Schurken vom Schlage eines Cesare Borgia oder eines Catilina.

„Was Vorsehung verweigert und beschert, / ist völlig weise, gut und lobenswert.“ (S. 31)

Einerseits will der Mensch die geistige Vol­lkom­men­heit von Engeln, an­der­er­seits die körperliche Leis­tungskraft von Tieren besitzen. Dabei besteht sein Glück eigentlich darin, seine Grenzen anzuerken­nen und nicht körperliche oder seelische Kräfte anzustreben, die er gar nicht verkraften könnte. So wie alles ist, ist es richtig und gut. Alles in der Welt ist genau abgestuft, jedes Wesen hat die sinnlichen und geistigen Fähigkeiten, die seinem Rang entsprechen. Der Mensch, der in der Schöpfung­sor­d­nung eine mittlere Position einnimmt, sollte nicht Anspruch auf alle Kräfte erheben. Immerhin besitzt er die Gabe der Vernunft, die alle anderen Fähigkeiten einschließt.

„Laß ab! Nicht Ordnung ‚un­vol­lkom­men‘ schmäh’, / denn am Gescholte­nen hängt Wohl und Weh’. / Kenn Deinen Platz, vom Himmel Dir beschert, / den Grad an Schwäche, Blindheit, Deiner wert.“ (S. 36 f.)

Was maßt sich der hochmütige Mensch überhaupt an, die göttliche Ordnung infrage zu stellen? Bildet er sich ein, er sei etwas Besonderes? Jedes Wesen – von den Engeln über die Menschen und Tiere bis hin zum kleinsten Insekt – ist Teil einer Kette. Entfernt man auch nur ein Glied, ist das Ganze zerstört. Alles, was ist – Mühe und Leiden eingeschlossen –, ist Teil eines perfekt ausgeklügelten Systems. Wir sollten also aufhören, über die Un­vol­lkom­men­heit der Welt zu schimpfen, vielmehr sollten wir unseren Platz in der göttlichen Ordnung, mit allen Beschränkungen, die das mit sich bringt, annehmen. Was uns als Zufall erscheint, ist tatsächlich kunstvoll geplant, wo wir Missklang hören, herrscht Harmonie, und was wir als privates Übel ansehen, befördert in Wirk­lichkeit das allgemeine Gut.

Balance zwischen Vernunft und Lei­den­schaft

Statt Gott zu erforschen, sollte der Mensch – dieses merkwürdige Mittelding zwischen Göttlichem und Tierischem, Geistigem und Körperlichem – lieber den Blick auf sich selbst, auf seine Fähigkeiten und Grenzen richten. Er sollte sich selbst, die Welt um ihn herum, das Universum und die Naturge­setze wis­senschaftlich erforschen – jedoch mit der nötigen Demut und Beschei­den­heit. Denn selbst wenn er die Laufbahn der Planeten bestimmen könnte, der eigene Ursprung und die eigene Bestimmung blieben ihm unerklärlich. Bei seiner wis­senschaftlichen Forschung sollte er auf jede Eitelkeit und auf hohles Gelehrsamkeits­geschwätz verzichten und sich darauf konzen­tri­eren, was in der Zukunft nützlich sein wird. Dabei gilt es, das Gle­ichgewicht zwischen Eigenliebe, die ihn antreibt, und Vernunft, die ihn zügelt und in Distanz zu sich selbst treten lässt, zu bewahren. Die Vernunft schützt uns vor zu viel Lei­den­schaft, ohne sie freilich zu unterdrücken, denn in der richtigen Mischung verleihen beide dem Leben Farbe und Kraft.

„Ist auch Vernunft des stolzen Irrtums Knecht, / die Wahrheit bleibt: Was immer ist, ist recht.“ (S. 37)

Unter dem heilsamen Einfluss der Vernunft verwandeln sich Schwächen oftmals in Stärken. Aus Lei­den­schaften wie Angst oder Hass können Tugenden wie Geist oder Ehrlichkeit erwachsen, Zorn kann mutig machen und Geiz klug. Lust, sofern sie verfeinert wird, gerät zu zarter Liebe, Neid stachelt zu Wettbewerb an. Aus diesem Grund hat uns die Natur sowohl mit Tugenden als auch mit Lastern aus­ges­tat­tet, und dafür sollten wir dankbar sein. In jedem von uns herrscht ein Chaos aus Licht und Dunkel, das eine uns in­newohnende göttliche Kraft trennt. Dass Tugenden und Laster sich oftmals nicht deutlich au­seinan­der­hal­ten lassen und vermischen, bedeutet noch lange nicht, dass sie nicht in Reinform existieren. Jeder Mensch hat Charak­ter­schwächen, der eine mehr, der andere weniger. Von einem höheren Standpunkt aus betrachtet aber sind sie für die All­ge­mein­heit von Nutzen: Aus der Schwachheit des Einzelnen erwächst das Gemein­in­ter­esse. Jeder, ganz gleich, welchem Stand er angehört, möchte eigentlich mit keinem anderen tauschen. Der Reiche genießt den Überfluss, der Arme vertraut freudig auf Gott – und jeder findet seine Art von Trost und Hoffnung.

Die Natur als Lehrmeis­terin

Die Liebe ist das Band, das alle Gegensätze, die in der Welt bestehen, zusammenhält. Jedes Teil, noch das kleinste Atom, bezieht sich auf ein anderes und hat seine Funktion im großen Ganzen. Alle Materie dient dem Gemeingut: Selbst die tote Pflanze trägt zur Entstehung des Lebens bei, und durch Zerfall entsteht Neues. Wer glaubt, Gott wirke nur für das menschliche Wohl und sorge für Kleidung, Nahrung und Vergnügen, der irrt. Nicht für den Menschen singt die Lerche, sondern aus eigener Freude, und das Pferd, das seinen Herrn trägt, teilt dessen Lust am Galopp. Die Natur gehört nicht nur dem Menschen, sondern allen Geschöpfen. Nicht nur die Menschen, sondern alle Lebewesen lieben sich selbst – doch eben nicht nur sich selbst. Indem sie Paare bilden, sorgen sie für den Fortbestand ihrer Art, von einer Generation zur nächsten. Gott hat eine perfekte Welt geschaffen, in der jedes Teil zum Wohl des Ganzen beiträgt.

„Erkenn Dich selbst, erforsch nicht Gottes Kraft! / Der Mensch ist erstes Ziel der Wis­senschaft.“ (S. 39)

Ob es nun nach Vernunft oder Instinkt handelt – jedes Lebewesen besitzt genau die Fähigkeiten, die zu ihm passen und die dem All­ge­mein­wohl förderlich sind. In vielen Situationen ist der Instinkt der bessere Ratgeber als die Vernunft, da er zu spontanem, ziel­sicherem, richtigem Handeln befähigt. Die Vernunft dagegen wägt lange ab, vergleicht, zögert und ist darum anfällig für Irrtum. Der Instinkt hat den Menschen lange vor der Herrschaft der Vernunft gelehrt, Nahrungsmit­tel von Gift zu un­ter­schei­den, Gefahren zu erkennen und sich zu schützen. Die Spinne, die ihr perfektes Netz ohne jedes Hilfsmittel konstruiert, die Störche, die in die Ferne aufbrechen, ohne sich vorher über die Richtung zu beraten, sie alle werden vom Instinkt gesteuert.

„Gott hat in jedem Wesen angelegt / sein rechtes Wohl, und Grenzen ihm gesteckt. / Er schuf ein Ganzes zu des Ganzen Heil, / gemeinsam nur wird Not und Glück zuteil.“ (S. 63)

Der Naturzu­s­tand war für den Menschen kein dumpfes Dasein, vielmehr setzten hier Selbstliebe und Sozialtrieb ein. Damals gab es noch keinen Hochmut und keine Zwietracht, die Menschen teilten friedlich ihren Besitz, sie kannten weder Luxus noch Gier. Im Unterschied zu heute lebten sie im Einklang mit sich selbst und der Natur, und sie kannten nur einen einzigen Gott. All die Fer­tigkeiten, die der Mensch mittels der Vernunft im Lauf der Zeit erwarb, kopierte er von der Natur. Von den Tieren schaute er sich ab, wo Nahrung zu finden ist, von den Bienen lernte er die Bau- und die Staatskunst.

„So ist die große Harmonie der Welt / auf Ordnung, Eintracht, Zustimmung gestellt, / wo Schwach und Mächtig, Groß und Klein nur nützt, / nicht leidet; statt zu schaden unterstützt.“ (S. 75)

Erst die Vorstellung, alles sei nur für den Menschen gemacht, führte zu Tyrannei und Sklaverei, Aberglaube und Vielgötterei. Aus seiner Furcht vor Naturkatas­tro­phen schuf der Mensch Dämonen, aus seinen Hoffnungen Götter, die menschliche Eigen­schaften wie Rache, Zorn oder Begierde besaßen. Die Aufgabe des Dichters, des Patrioten und überhaupt jedes Men­schen­fre­unds ist es nun, Herrscher und Volk den maßvollen Macht­ge­brauch zu lehren und so die Harmonie im Staat, die auf dem gegen­seit­i­gen Nutzen von Starken und Schwachen beruht, zu bewahren – gleich unter welcher Regierungs­form.

Glück ist demokratisch

Das Glück, wonach alles strebt, ist nicht an Macht, Reichtümer, Ehre oder andere weltliche Dinge gebunden. Es kostet nichts, man findet es nirgends und überall. Für den einen ist es Ruhe, für den anderen Aktivität, der eine nennt es Genuss, der andere Zufrieden­heit. Wie auch immer man Glück definiert, es ist kein extremer, sondern ein natürlicher Zustand, und es ist jedem Menschen, ganz gleich welchen Standes und Berufs, zugänglich, sofern er über Gemeinsinn verfügt. Glück bedeutet nämlich nicht persönliches, sondern allgemeines Wohl. Gewiss existieren Ran­gun­ter­schiede in Gottes Ordnung: Manche stehen höher als andere, weil sie mehr Weisheit oder Reichtum besitzen. Doch daraus zu schließen, sie seien auch glücklicher, wäre ein Fehler. Glück ist für Arme und Reiche, für Herrscher und Untertanen, für Starke und Schwache gleichermaßen zu erreichen.

„Der Mensch lebt, wie die Rebe, nur gestützt: / gewinnt nur Kraft, wenn er auch andern nützt.“ (S. 75)

Tu­gend­haftes Verhalten bringt nicht unbedingt Glück. Krankheiten und Unfälle können jeden treffen, den Guten wie den Bösen. Doch das ist keine Un­gerechtigkeit, die Gott anzulasten wäre. Was wir als Übel ansehen, ist für das Ganze gut. Alles ist richtig, wie es ist. Sicher gefällt es uns nicht, wenn Schurken gut davonkommen. Wir fordern, die Guten müssten belohnt werden – doch wer oder was gut ist, weiß Gott allein. Wer über Un­gerechtigkeit klagt, schwingt sich selbst zum Gott auf und begreift nicht, dass Gottes Lohn niemals irdischer Natur ist. Wahre Tugend ist nicht an Titel oder Prestige gebunden. Sie lässt sich auch nicht mit äußeren Dingen wie Ruhm, Reichtum oder Freude belohnen. Unzählige Beispiele aus der Geschichte lehren uns, dass der Besitz von Adelstiteln, Ruhm und überragenden Fähigkeiten längst nicht unbedingt glücklich macht, ja dass die Reichen und Großen oft einer falschen Vorstellung von Glück hin­ter­her­ja­gen.

Die Ver­schmelzung von Selbst und Welt

Liebe zu den Menschen und zu Gott, Hil­fs­bere­itschaft, Mitgefühl und Nächstenliebe, ja sogar Fein­desliebe, das sind die Quellen wahren Glücks. Ohne soziale Kontakte wird kein Mensch je glücklich werden. Wie die Kreise, die sich auf der Wasser­oberfläche ausbreiten, wenn man ein Steinchen in einen stillen See wirft, so breitet sich die Liebe des Menschen immer weiter aus. Am Anfang steht die Liebe zu sich selbst, sie weitet sich aus auf die Eltern, die Nachbarn und Freunde, auf das Vaterland und schließlich auf die ganze Menschheit. Der Geist der Liebe erfasst jedes Wesen, ob groß oder klein. Dabei werden alle Un­ter­schiede, die auf den ersten Blick zwischen Vernunft und Gefühl bestehen, zu­nichtegemacht. Lei­den­schaft und Vernunft verfolgen das gleiche Ziel, Eigenliebe und Sozialtrieb gehen ineinander auf und all unsere Erkenntnis über die Welt ist letztlich nichts anderes als Selb­sterken­nt­nis.

Zum Text

Aufbau und Stil

Alexander Popes Vom Menschen war als Teil eines größeren Werks geplant, das der Dichter allerdings nie vollendete. Das Lehrgedicht setzt sich aus vier in Versform verfassten Briefen zusammen, die an Popes Freund Henry St. John Lord Bolingbroke gerichtet sind. Darin entwickelt Pope seine Idee von der Perfektion der göttlichen Schöpfung eher un­sys­tem­a­tisch. Oft greift er einen Gedanken an anderer Stelle wieder auf, variiert und spinnt ihn weiter. Als eine Mischung aus belehrender Un­ter­weisung und Gedicht überschre­itet Vom Menschen die klassischen Gat­tungs­gren­zen. Als Vorbilder gelten Lukrez’ großes Lehrgedicht De rerum natura und Horaz’ Ars poetica. Der Autor bedient sich einer eleganten, geschlif­f­e­nen Sprache, die sich nicht leicht übersetzen lässt. Die fünfhebigen gereimten Verspaare sind knapp, pointiert und aufs Äußerste verdichtet, mitunter bis hin zur Unverständlichkeit. Viele Verse sind später als Aphorismen und prägnante Sentenzen aus dem Ganzen herausgelöst worden und zählen zum Zi­taten­schatz gebildeter Engländer.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • In Vom Menschen übernimmt Pope viele Gedanken aus den Schriften seines Freundes Lord Bolingbroke und des Philosophen Anthony Ash­ley-Cooper, 3. Earl of Shaftesbury. Das Gedicht ist von deren klas­sizis­tis­chem Har­moniedenken geprägt. Die Ideen einer Ordnung in der Man­nig­faltigkeit und eines zweckmäßig geordneten Universums, in dem Gott und Natur eine Einheit bilden, sind für Pope zentral.
  • Ebenso wie John Milton, auf dessen berühmtes Epos Paradise Lost Pope gleich zu Beginn seines Lehrgedichts anspielt, möchte er die Wege Gottes recht­fer­ti­gen. Im Mittelpunkt seines Werks steht allerdings – wie der Titel schon sagt – nicht Gott, sondern der Mensch und seine Welt.
  • Popes zentrale Aussage, wonach alles, was ist, gut ist, stimmt nur auf den ersten Blick mit der berühmten Theodizee von Leibniz überein. Während Leibniz aus der Güte und Allmacht Gottes schließt, dieser müsse die beste aller möglichen Welten geschaffen haben, geht der an John Locke geschulte Pope von dem aus, was der Mensch mit seinen Sinnen erkennen kann. Von abstrakten, der empirischen Erfahrung unzugänglichen Systemen grenzt er sich dagegen deutlich ab. Statt mit Argumenten will er dem Leser mit an­schaulichen Schilderun­gen die Perfektion der Schöpfung aufzeigen.
  • Trotz seiner empirischen Grund­ten­denz bleibt Popes oft wiederholte Formel, alles sei gut, ein Glaubenssatz, da der Mensch aus seiner beschränkten Perspektive die harmonische Ordnung des Ganzen nicht überblicken und letztlich nur daran glauben kann.
  • Pope weist immer wieder auf die Fragilität der göttlichen Schöpfung­sor­d­nung hin. Wenn der Mensch in seiner stolzen Überhe­blichkeit einen noch so kleinen Teil des Ganzen zerstöre, gefährde er das gesamte System.
  • Zeitgenossen und spätere Kritiker warfen dem Werk einen Mangel an be­grif­flicher Kohärenz und philosophis­cher Stringenz vor und übersahen dabei dessen bewusst es­say­is­tis­cher Charakter. Pope, der sich wohl Michel de Montaignes Essais zum Vorbild nahm, bedient sich absichtlich einer po­et­isch-es­say­is­tis­chen Schreib­weise und verzichtet auf ein geschlossenes meta­ph­ysis­ches System.

His­torischer Hintergrund

Das Theodizee-Prob­lem im 18. Jahrhundert

Die Frage, wie ein gerechter, guter Gott Leiden und Übel in der Welt zulassen kann, zählt zu den ältesten der Menschheit und beschäftigte schon antike Philosophen wie Epikur oder den christlichen Kirchen­vater Augustinus. Allerdings bekam das Theodizee-Prob­lem erst im 18. Jahrhundert diesen Namen, der so viel wie „Recht­fer­ti­gung Gottes“ bedeutet, abgeleitet aus dem griechis­chen „theos“ (Gott) und „dike“ (Gerechtigkeit). Die Aufgabe bestand darin, das mit dem Fortschritt der neuzeitlichen Natur­wis­senschaften entstandene moderne Weltbild mit tra­di­tionellen Glaubensvorstel­lun­gen in Übere­in­stim­mung zu bringen. Die dank neuer natur­wis­senschaftlicher Methoden gewonnenen Erken­nt­nisse führten zu einem wachsenden Vertrauen des Menschen in die eigenen in­tellek­tuellen Fähigkeiten. Herrschte im 17. Jahrhundert noch die Auffassung vor, dass die göttliche Schöpfung dem Menschen immer ein Rätsel bleiben werde, setzte sich mit dem Beginn der Aufklärung allmählich eine op­ti­mistis­chere und selb­st­be­wusstere Haltung durch. Da Gott die Welt nach Prinzipien der Vernunft erschaffen habe, müsse sie auch vom men­schlichen Verstand rational ergründet werden können.

Es war Gottfried Wilhelm Leibniz, der den Begriff 1710 mit seinen Essais de Théodicée prägte. Anlass dieser Abhandlung war die von Pierre Bayle in seinem Dic­tio­n­naire historique et critique vertretene These, dass es einen Widerspruch zwischen den Wahrheiten der Offenbarung und den Wahrheiten der Vernunft gebe, die in der Forderung nach einer strikten Trennung von Glaube und Vernunft mündete. Leibniz dagegen behauptete, beides stimme überein, und unternahm mit geradezu scholastis­cher Präzision und Ausführlichkeit den Versuch, die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott zu beweisen. Mit unserer Welt, so sein Haup­tar­gu­ment, habe Gott in seiner Allmacht und Güte die beste aller möglichen Welten geschaffen. Er habe das Übel nicht gewollt, sondern lasse es nur zu, um die beste, also an Er­schei­n­un­gen reichste und zugleich wohlge­ord­net­ste aller möglichen Welten zu erschaffen. Einzelne Übel seien lediglich Teile eines insgesamt betrachtet vol­lkomme­nen Ganzen.

Leibniz’ Recht­fer­ti­gung Gottes sorgte auf dem europäischen Kontinent für lebhafte Diskus­sio­nen, wurde aber in England kaum wahrgenom­men. Von größerer Bedeutung war dort das 1701 erschienene Buch De origine mali von William King. Der Erzbischof von Dublin unterschied darin drei Arten von Übel: das meta­ph­ysis­che, das physische und das moralische Übel. Ersteres erklärte er als Folge davon, dass ein vol­lkommenes Absolutes wie Gott nicht etwas Vol­lkommenes erschaffen könne. Das sei ein logischer Widerspruch. Das moralische Übel führte King auf die Un­vol­lkom­men­heit des Menschen zurück, der Böses tue, weil es ihm als Gutes erscheine – ein Mangel, für den er letztlich nicht ve­r­ant­wortlich gemacht werden könne.

Entstehung

Ob Pope Kings Schrift im lateinis­chen Original gelesen hat, ist ungewiss, sicher aber kannte er dessen Theorie, der man in in­tellek­tuellen Kreisen große Aufmerk­samkeit schenkte. Leibniz’ Werk, mit dem Popes Vom Menschen später vor allem in Deutschland in engste Verbindung gebracht wurde, kannte der Dichter zumindest nach Aussage seines Freundes Lord Bolingbroke nicht. 1729 begann er mit der Arbeit an dem Gedicht, bis 1731 hatte er die ersten drei Teile beendet. Aufgrund der the­ol­o­gis­chen Brisanz des Themas, aber auch aus Furcht vor polemischen Reaktionen vieler Dichterkol­le­gen, die er in seinem Spottgedicht The Dunciad angegriffen hatte, veröffentlichte Pope die ersten drei Briefe im Jahr 1733 anonym. Der vierte Brief erschien erst im Januar 1734, diesmal unter seinem Namen. Inzwischen hatten bereits einige seiner Gegner das anonym erschienene Werk gelobt und konnten nun, da der Autor bekannt war, nicht mehr zurückrudern.

Wirkungs­geschichte

Vom Menschen, das schon bald nach seinem Erscheinen ins Französische und Deutsche übersetzt und in ganz Europa rezipiert wurde, zählte zu den meist­ge­le­se­nen Lehrgedichten des 18. Jahrhun­derts. Es gehörte zu den Lieblingswerken Immanuel Kants, dessen frühe Schriften unter dem Einfluss Popes entstanden. Andere Zeitgenossen wie Gotthold Ephraim Lessing oder Moses Mendelssohn bescheinigten dem Werk dagegen einen Mangel an präziser Be­grif­flichkeit und sahen darin eher ein poetisches als ein genuin philosophis­ches Werk. Popes Formel „Whatever is, is right“ wurde nicht nur in England, sondern auch in Frankreich („Tout est bien“) und Deutschland („Alles ist gut“) schon bald überaus populär.

Nach dem Erdbeben von Lissabon, das 1755 Zehn­tausende Men­schen­leben forderte und den allgemeinen Optimismus der Aufklärung erschütterte, veränderte sich die Einstellung. Voltaire kritisierte Popes Lehre von den Übeln als Beitrag zur Vol­lkom­men­heit dieser Welt als Zynismus gegenüber den Leidenden.

Über den Autor

Alexander Pope wird am 21. Mai 1688 in London als Sohn eines Wäschehändlers geboren. Da er als Katholik aufgrund geset­zlicher Bes­tim­mungen zum Schutz des an­glikanis­chen Glaubens auf keine reguläre Schule gehen darf, wird er zunächst zu Hause un­ter­richtet und besucht später mehrere geduldete katholische Schulen. Um 1700 zieht seine Familie nach Binfield, wo er intensiv lateinische und griechische Autoren studiert. Pope knüpft erste Kontakte zur Londoner Lit­er­aturszene und veröffentlicht auch erstmals selbst Gedichte. 1711 kehrt Pope, der infolge einer Tu­berku­lo­se­in­fek­tion an einer Verkrümmung des Rückgrats leidet und kaum eine Körpergröße von 1,40 Meter erreicht, nach London zurück. Mit seinem Essay on Criticism (1711) und dem satirischen Gedicht The Rape of the Lock (Der Lockenraub, 1712) gelingt ihm der lit­er­arische Durchbruch. Pope tritt der Partei der Tories bei und wird Mitglied im „Scriblerus Club“, einem Au­toren­zirkel, dem auch Jonathan Swift angehört. Trotz eigener Erfahrungen der Ausgrenzung nimmt Pope stets eine tolerante Haltung ein und pflegt Fre­und­schaften mit op­po­si­tionellen Whigs und protes­tantis­chen Geistlichen. Ab 1715 übersetzt er auf Anregung des be­fre­un­de­ten Schrift­stellers Joseph Addison Homers Ilias ins Englische, was ihm neben viel Anerkennung und Ruhm auch finanzielle Sor­glosigkeit beschert. Nach dem Tod des Vaters zieht er mit der Mutter nach Twickenham, wo er als Land­schaft­sar­chitekt einen künstlichen Garten samt ro­man­tis­cher Grotte gestaltet. Hier pflegt er auch eine intensive Fre­und­schaft zu Martha Blount, der er nach seinem Tod seinen gesamten Besitz hin­ter­lassen wird. 1728 veröffentlicht er anonym das Spottgedicht The Dunciad, das voller scharfer Angriffe auf seine Au­torenkol­le­gen ist und mit dem er sich in der Kulturszene viele Feinde macht. Zusammen mit seinem Freund Swift tritt er Ende der 1720er-Jahre einer Freimau­r­erloge bei. Nach 1738 schreibt Pope, der zunehmend mit gesund­heitlichen Problemen zu kämpfen hat, kaum noch. Er stirbt am 30. Mai 1744 in Twickenham.