Über die Grundlage der Moral

Buch Über die Grundlage der Moral

Frankfurt am Main, 1841
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Die Ethik des Mitleids

Arthur Schopen­hauer ist bekannt für seinen nicht gerade zim­per­lichen Umgang mit seinen Philosophenkol­le­gen. Immanuel Kant bildete eine Ausnahme: Dessen Werk schätzte Schopen­hauer sehr. Das hielt ihn aber nicht davon ab, Kants Moral­philoso­phie Stück für Stück au­seinan­derzunehmen. Über die Grundlage der Moral beinhaltet ebendiese Au­seinan­der­set­zung mit Kants Ethik und dessen berühmter Formel des kat­e­gorischen Imperativs. Moral­philoso­phie, so Schopen­hauer, soll dem Menschen nicht vorschreiben, was er zu tun hat. Es hat keinen Sinn, den Menschen belehren zu wollen, denn dieser wird vor allem vom Egoismus gelenkt und ist damit immun gegen philosophis­che oder the­ol­o­gis­che Belehrungen. Statt mit erhobenem Zeigefinger den Morala­pos­tel zu spielen, setzt Schopen­hauer auf die Beobachtung und Beschrei­bung des men­schlichen Verhaltens. Dabei findet er etwas in der men­schlichen Natur, was einen kleinen Trostschim­mer in sein pes­simistis­ches Weltbild wirft: das Mitleid. Die Fähigkeit, das Leid anderer Menschen (oder auch Tiere) zu teilen, macht für Schopen­hauer die wahre Grundlage der Moral aus.

Take-aways

  • In Über die Grundlage der Moral entwickelt Arthur Schopen­hauer den Kern seiner Mitlei­d­sethik und die Prinzipien seiner Tugendlehre.
  • Inhalt: Die Grundlagen der Moral lassen sich nicht in abstrakten und weltfremden Formeln, wie Kants kat­e­gorischem Imperativ, finden, sondern nur im Menschen selbst. Das Mitleid ist diejenige Triebfeder des men­schlichen Verhaltens, die Handlungen von moralischem Wert und Tugenden wie Men­schen­liebe und Gerechtigkeit überhaupt erst möglich macht.
  • Schopen­hauer plädiert für eine beschreibende Moral­philoso­phie, keine vorschreibende, die dem Menschen sagt, wie er zu handeln hat.
  • Das Werk war die Beant­wor­tung einer Preisfrage der Königlich Dänischen Societät der Wis­senschaften.
  • Obwohl Schopen­hauer als Einziger eine Antwort einreichte, wurde ihm der Preis verweigert.
  • Schopen­hauer schreibt elegant, lebendig und teilweise humorvoll.
  • Seine philosophis­chen Gegner deckt er mit etlichen spitzen Bemerkungen ein.
  • Schopen­hauers Werk blieb lange unbeachtet, seine akademische Karriere scheiterte. Erst gegen Ende seines Lebens stellte sich der Ruhm ein.
  • Seine Philosophie bee­in­flusste zahlreiche In­tellek­tuelle, darunter Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Thomas Mann und Samuel Beckett.
  • Zitat: „Soll eine Handlung moralischen Werth haben; so darf kein ego­is­tis­cher Zweck, unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv seyn.“
 

Zusammenfassung

Die Moral auf dem Ruhebett

Es ist eine schwierige Aufgabe, die sich die Königlich Dänische Societät der Wis­senschaften als Preisfrage ausgedacht hat. Im Wortlaut besagt sie:

„Ist die Quelle und Grundlage der Moral zu suchen in einer unmittelbar im Bewusstsein (oder Gewissen) liegenden Idee der Moralität und in der Analyse der übrigen, aus dieser entsprin­gen­den, moralischen Grund­be­griffe, oder aber in einem andern Erken­nt­nis­grunde?“

„Daher bekenne ich das besondere Vergnügen, mit dem ich jetzt daran gehe, der Moral das breite Ruhepolster wegzuziehen, und spreche unverhohlen mein Vorhaben aus, die praktische Vernunft und den kat­e­gorischen Imperativ KANTS als völlig un­berechtigte, grundlose und erdichtete Annahmen nachzuweisen (...)“ (S. 14)

Hinter dieser For­mulierung steckt nicht weniger als die Frage, ob es für die Moralität im Menschen eine objektive Grundlage gibt. Die Moral ist Teil einer umfassenden Metaphysik nicht nur der Sitten, sondern auch der Natur und der Ästhetik, sie ist Teil einer umfassenden Philosophie. Will man die Frage dennoch in aller Kürze beantworten, muss man sich von allen praktischen Erwägungen frei machen. Schließlich stellt hier eine Akademie eine wis­senschaftliche Frage. Man sollte sich also darauf beschränken, her­auszufinden, was ist – und nicht, was sein sollte.

„Jedes Sollen ist also nothwendig durch Strafe, oder Belohnung bedingt, mithin, in Kants Sprache zu reden, wesentlich und unauswe­ich­bar HY­PO­THETISCH und niemals, wie er behauptet, KATEGORISCH.“ (S. 21)

Für die Theologen ist es einfach, Moralge­setze aufzustellen: Sie definieren diese als Ein­rich­tun­gen Gottes, die bei Einhaltung mit Wohlwollen belohnt und bei Nichtein­hal­tung mit Strafe sank­tion­iert werden. Die Philosophen, die die Existenz eines geset­zgeben­den Gottes bezweifeln und dennoch ein Moralgesetz entwerfen wollen, tun sich da schon schwerer. Es war Immanuel Kant, der die Frage scheinbar ein für alle Mal beantwortet hat, indem er sein Sit­tenge­setz, den kat­e­gorischen Imperativ, aufstellte. Damit wurde die Moral sozusagen aufs Ruhebett gelegt, ihr Fundament im Sit­tenge­setz galt als bewiesen. Doch dieses Ruhebett muss der Moral wieder weggenommen werden, denn auch die Kant’sche Lösung ist nichts weiter als eine Behauptung ohne festen Grund und Boden.

Das Imperative am kat­e­gorischen Imperativ

Kant sind bei der Aufstellung seines Moralge­set­zes mehrere Fehler unterlaufen. Der erste ist vielleicht der schw­er­wiegend­ste: Kant stellt die These auf, dass seine praktische Philosophie nicht beschreibt, was ist, sondern zeigt, was sein soll. Eine grotesk Vorstellung: Warum sollte eine Sittenlehre etwas als Gesetz aufstellen, was niemals geschieht, da es überhaupt nicht in der men­schlichen Natur verankert ist? Vermutlich rührt diese Vorschriftsmoral noch von den Gesetzen des Moses her, die er auf zwei Steintafeln empfing. Es sind Gebote, und so klingen sie auch, weil sie stets die Soll-Formel beinhalten, z. B.: „Du sollst nicht lügen.“ Moralge­setze, die aus der mosaischen Ecke kommen, haben aber in der Philosophie nichts zu suchen. Neben dem Sollen gibt es bei Kant noch einen anderen wichtigen Begriff, nämlich den der Pflicht. Auch er stammt aus der Theologie, denn er ist nicht in der men­schlichen Natur begründet, sondern in der göttlichen Anweisung.

„Denn die Moral hat es mit dem WIRKLICHEN Handeln des Menschen und nicht mit apri­or­ischem Kartenhäuserbau zu thun, an dessen Ergebnisse sich im Ernste und Drange des Lebens kein Mensch kehren würde, deren Wirkung daher, dem Sturm der Lei­den­schaften gegenüber, so viel seyn würde, wie die einer Klystier­spritze bei einer Feuers­brunst.“ (S. 41)

Die Philosophie entlehnt ihre Pflicht­en­lehre fast immer von der Theologie. Gesetze und Gebote basieren stets auf der Androhung von Strafe und dem Versprechen von Belohnung. Sie sind also immer hy­po­thetisch, weil man sich so oder anders verhalten kann. Kant jedoch bezeichnete seinen Imperativ als kategorisch, also als stets gültig – was er aber niemals sein kann, wenn er auf einem Gebot basiert. Fazit: Der kat­e­gorische Imperativ beruht auf dem Fundament der Theologie und ist streng genommen gar kein philosophis­ches Moralgesetz, weil er eine geset­zgebende Gewalt voraussetzt. Zudem beruht das Handeln nach dem Gesetz letztlich auf Egoismus und Eigennutz, denn man richtet sich nur danach, um der Strafe zu entgehen oder um Belohnung zu empfangen.

Mangel an realem Gehalt

Kant unterteilt die menschliche Erkenntnis in die Bereiche „a priori“ und „a posteriori“: eine Erkenntnis, die ohne Erfahrung, und eine, die unter Zuhil­fe­nahme der Erfahrung zustande kommt. Die Ethik soll sich gemäß Kant nur auf eine Erkenntnis a priori stützen, namentlich auf die menschliche Vernunft. Das bedeutet, dass alle Bereiche der men­schlichen Erfahrung für die Moral null und nichtig sein sollen. Das Kant’sche Moral­prinzip beruht also nicht auf Empirie, auf nach­weis­baren Tatsachen des Be­wusst­seins, der Gedanken oder der Außenwelt des Menschen, sondern auf Begriffshülsen ohne echten Kern, die Kant „Begriffe a priori“ genannt hat. Mit anderen Worten: Das Moralgesetz soll mit absoluter Notwendigkeit gelten und gründet sich dabei lediglich auf abstrakte Begriffe fern jeder Erfahrung. Das erscheint absurd. Noch dazu soll es nicht nur für Menschen, sondern „für alle vernünftigen Wesen“ gelten. Woher nimmt Kant bloß die Selb­st­sicher­heit, Begriffe aufzustellen, die er nur durch die Beobachtung der Menschen gewonnen haben kann, und gle­ichzeitig zu behaupten, sie würden auch für alle anderen Spezies gelten?

„Also auch KANTS Begründung der Ethik (...) versinkt vor unsern Augen in den tiefen, vielleicht unausfüllbaren Abgrund der philosophis­chen Irrthümer, indem sie sich als eine un­statthafte Annahme und als eine bloße Verkleidung der the­ol­o­gis­chen Moral erweist.“ (S. 83)

Das Moralgesetz nach Kant steht also auf einer sehr wackeligen Grundlage. Kant begründet es nicht wirklich, er stützt es lediglich auf die Erken­nt­nisse a priori der Vernunft. Da es keine empirische Grundlage hat, besteht es im Prinzip nur aus seiner Form: Es ist Gesetz, nur weil es Allgemeingültigkeit beansprucht. Purer Formalismus. Kant macht sich überdies der „Petitio Principii“ schuldig: Als Belege für seine Be­haup­tun­gen verwendet er fortwährend Aussagen, die ihrerseits selbst eines Beweises bedürften.

„Die Haupt- und Grundtriebfeder im Menschen, wie im Thiere, ist der EGOISMUS, d. h. der Drang zum Daseyn und Wohlseyn.“ (S. 94)

Entgegen Kants Lehre muss die Triebfeder für moralisches Handeln real sein und der men­schlichen Erfahrung entspringen. Sie kann kein apri­or­isches Konstrukt sein, denn dann würde sie im Menschen nichts bewirken.

Warum der kat­e­gorische Imperativ nicht funk­tion­ieren kann

Der kat­e­gorische Imperativ lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Das Seltsame an dieser Regel ist, dass sie im Grunde genommen noch gar keine Moral enthält, sondern eher eine Art Wegweiser ist, um die Moral zu finden. Sie verlangt die Suche nach einer Maxime, die das Individuum wollen soll. Aber was will denn der Einzelne? Immer das, was ihm selbst angenehm ist. So ist es also letztlich der Egoismus, der über die Moral des Einzelnen entscheidet.

„Der Egoismus ist kolossal: er überragt die Welt.“ (S. 95)

Der kat­e­gorische Imperativ geht von zwei Per­spek­tiven aus: der des aktiv Handelnden und der des passiv Erduldenden. Der aktiv Handelnde wird sich dem Moralgesetz beugen, weil er die Möglichkeit erkennt, auch einmal der passiv Erduldende zu sein. Moralische Tugenden wie Gerechtigkeit und Men­schen­liebe werden also nicht deshalb an den Tag gelegt, weil man sie ausüben will – sondern weil man sie selbst erfahren möchte. Das zeigt erneut, dass es in der Befolgung solcher Moralge­setze um Eigennutz geht. Ein Mensch, der sich aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung oder körperlichen Kraft immer als der aktiv Handelnde sieht, kann durchaus etwas Un­moralis­ches wollen, weil er sich nicht darum schert, ob dieses Un­moralis­che auch ihm einmal zustoßen könnte. Allein weil diese Möglichkeit denkbar ist, kann der kat­e­gorische Imperativ als Moralgesetz nicht taugen. Immerhin hat Kant sein Moralgesetz noch erweitert, indem er fordert, dass jeder Mensch den anderen nicht bloß als Mittel, sondern auch als Zweck betrachten solle. Mit anderen Worten: Es soll uns wirklich um das Wohl unserer Mitmenschen gehen und nicht darum, Gleiches mit Gleichem vergolten zu bekommen.

Der Egoismus als Triebfeder men­schlichen Handelns

Wie mit Kant verhält es sich auch mit den anderen Philosophen, die die Grundlagen der Moral finden wollten: Entweder irrten sie vollständig, oder ihre Forschungen dienten als bloße Verklei­dun­gen einer eigentlich the­ol­o­gis­chen Moral. Die wirkliche Begründung der Moral kann nicht so kompliziert sein, wie sie sich die Philosophen ausmalen. Wie könnte sie sonst im Alltag überhaupt funk­tion­ieren? Der Mensch hat eine Haupt­triebfeder: den Egoismus. Damit sind das planvolle Vermeiden von Schmerz und die Herbeiführung von Wohlergehen und Vergnügen gemeint. Für den Menschen erscheinen alle anderen Menschen, ja die ganze Welt, als bloße Objekte seiner Vorstellung. Im Gegensatz dazu ist er sich seiner unmittelbar bewusst. Darum macht er sich selbst zu seinem Nächsten. Die Welt ist ihm nichts, er ist sich alles. So ist verständlich, dass der Egoismus sein bester Ratgeber ist. Dieser Ratgeber erweist sich aber als großes Hindernis im Umgang mit anderen Menschen. Er kann sogar in regel­rechtes Übelwollen den anderen gegenüber umschlagen, weil Neid, Missgunst und Eifersucht den Menschen beständig heimsuchen und ihn dazu veranlassen, anderen nicht nur nicht zu helfen, sondern ihnen auch zu schaden.

Das Mitleid als Kern der Ethik

Wie lassen sich nun moralische Taten überhaupt denken? Hierzu lässt sich folgende Ar­gu­men­ta­tion aufbauen:

  • Jede Handlung folgt bestimmten Motiven und bezieht sich entweder auf den Handelnden selbst oder auf einen anderen (passiven) Teil.
  • Egoismus und moralischer Wert schließen sich gegenseitig aus.
  • Alle Handlungen, die sich auf einen selbst beziehen, sind ego­is­tis­cher Natur.
  • Daraus folgt: Moralischen Wert haben nur diejenigen Handlungen, die sich auf einen anderen Menschen beziehen.
„Soll eine Handlung moralischen Werth haben; so darf kein ego­is­tis­cher Zweck, unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv seyn.“ (S. 104)

Wenn jemand ein Gesetz befolgt und anderen keinen Schaden zufügt, obwohl er es könnte und wollte, dies aber nur aus Angst vor Bestrafung unterlässt, dann ist diese Handlung nicht moralisch. Sie ist sogar egoistisch, genauso wie eine Hil­feleis­tung, die nur aufgrund einer Belohnung erfolgt. Es ist gar nicht so einfach, eine Tat von moralischem Wert ausfindig zu machen. Denn hierfür muss ein sehr seltsamer und ungewöhnlicher Umstand eintreten: Der Handelnde will statt des eigenen Wohls das Wohl eines anderen – und zwar so sehr, dass er sein eigenes Wohl hin­tanstellt. Dies ist nur möglich, wenn er sich mit dem anderen iden­ti­fiziert. Er muss mit ihm mitleiden. Insofern ist das Mitleid die einzige Basis der Moral. Wie dieses entsteht, ist allerdings ein Mysterium und damit ein Phänomen der Metaphysik. Denn es ist eigentlich nicht einzusehen, wie sich ein Mensch mit einem anderen so weit iden­ti­fizieren kann, dass die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich aufgehoben wird.

Die Kar­dinal­tugen­den

Es gibt insgesamt drei Triebfedern men­schlicher Handlungen:

  1. Der Egoismus will das eigene Wohl.
  2. Die Bosheit will das fremde Leid.
  3. Das Mitleid will das fremde Wohl.
„Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller FREIEN Gerechtigkeit und aller ÄCHTEN Men­schen­liebe.“ (S. 107)

Letzteres stellt die einzige Grundlage für moralische Handlungen dar. Genaugenom­men bezieht sich Mitleid immer auf den Schmerz und das Leiden anderer, nicht auf deren Wohlergehen. Das liegt daran, dass das Wohlergehen immer die Negation des Leids ist. Das Leiden ist vorherrschend im Leben, das Wohlergehen ist dagegen nur die Abhilfe, mit der das Leid abgemildert wird. Wir können uns zwar auch am Wohl der anderen erfreuen, aber nur, wenn uns zuvor ihr Leid Tränen in die Augen getrieben hat. Andernfalls lässt es uns kalt oder erregt womöglich sogar unseren Neid. Zwei Tugenden lassen sich direkt aus dem Mitleid ableiten: Gerechtigkeit und Men­schen­liebe. Sie sind die Kar­dinal­tugen­den, weil sich aus ihnen alle anderen Tugenden ergeben.

„Der erste Grad der Wirkung des Mitleids ist also, dass es den von mir selbst, in Folge der mir ein­wohnen­den an­ti­moralis­chen Potenzen, Andern zu verur­sachen­den Leiden hemmend ent­ge­gen­tritt (...)“ (S. 112)

Das Mitleid nimmt andere Menschen gegen unsere Triebe der Bosheit und des Egoismus in Schutz, indem es uns davon abhält, anderen gegenüber ungerecht zu sein und ihnen Leid zuzufügen. Die Un­gerechtigkeit liegt in unserem Wesen. Das Motto der Gerechtigkeit ist dagegen: Verletze niemanden! Die Men­schen­liebe besteht nicht nur darin, dem anderen Leid zu ersparen, sondern ihm sogar aktiv etwas Gutes zu tun. Sie wird vor allem vom Christentum verbreitet, findet sich aber auch schon seit Jahrhun­derten in den Lehren der östlichen Religionen. Die Men­schen­liebe hat das Motto: Hilf allen, soviel es dir möglich ist!

„Die drei ethischen Grundtriebfed­ern des Menschen, Egoismus, Bosheit, Mitleid, sind in Jedem in einem andern und unglaublich ver­schiede­nen Verhältnisse vorhanden.“ (S. 151)

Wie kommt es, dass die Triebfedern men­schlichen Handelns so un­ter­schiedlich verteilt sind? Darüber lässt sich nur eines sagen: Bosheit, Egoismus und Mitleid sind uns in die Wiege gelegt worden und sind bei jedem Menschen in einem anderen Mis­chungsverhältnis vorhanden.

Zum Text

Aufbau und Stil

Schopen­hauers Abhandlung Über die Grundlage der Moral ist in vier Teile gegliedert, die insgesamt aus 22 Paragrafen oder Kapiteln bestehen. Der erste Teil ist eine Einleitung, in der der Autor darlegt, wie es zur Ver­fer­ti­gung der Schrift kam. Der zweite Teil macht rund die Hälfte des Buches aus und beinhaltet eine umfassende Kritik an der Moral­philoso­phie Immanuel Kants. Schopen­hauer analysiert Kants Herleitung des kat­e­gorischen Imperativs Stück für Stück und lässt kein gutes Haar daran. Das ist streck­en­weise etwas ermüdend, da er sich lange an Kleinigkeiten aufhält und jeden Satz auf die Goldwaage legt. Gute Kenntnis der Kant’schen Philosophie ist unerlässlich, um diesen Abschnitt zu verstehen. Im dritten Teil legt Schopen­hauer seine eigene Theorie des moralischen Handelns dar, bevor er in einem kurzen vierten Teil schließlich auf die meta­ph­ysis­che Basis des Mitleids eingeht. Schopen­hauers Stil ist für einen Philosophen ungewöhnlich lebendig und teilweise regelrecht humorvoll. Oft schießt er scharf und sarkastisch gegen seine philosophis­chen Gegner. Orig­i­nal­sprachige Zitate aus der Philoso­phie- und Re­li­gion­s­geschichte runden das insgesamt sehr gut lesbare Werk ab.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Schopen­hauers Mitlei­d­sethik ist bestechend einfach: Im Mitleid sieht er einen Grundtrieb des Menschen, der dafür sorgt, dass andere vor Schaden bewahrt werden oder ihnen sogar geholfen wird. Heute wissen wir, dass Mitleid u. a. materiell bedingt ist. So genannte Spiegel­neu­ro­nen (mirror neurons) reagieren, wenn wir andere Menschen leiden sehen, und lösen bei uns ein Mitleiden aus. Menschen, bei denen diese Hirnzellen defekt sind, empfinden kein Mitleid und agieren oft psy­chopathisch.
  • Schopen­hauers Kritik an Kant könnte den Eindruck erwecken, dass er den Philosophen aus Königsberg vollkommen verachtete. Das Gegenteil ist der Fall: Schopen­hauer schätzte Kant sehr. Mit der Begründung von dessen Ethik war er jedoch nicht ein­ver­standen.
  • Was Schopen­hauer von Kant trennt, ist vor allem sein deskrip­tiver Ansatz, im Unterschied zum präskriptiven Ansatz Kants: Die Aufgabe der Moral­philoso­phie ist laut Schopen­hauer nicht, den Menschen zu sagen, wie sie sich verhalten sollen, sondern zu beschreiben, wie sie sich tatsächlich verhalten.
  • Für Schopen­hauer ist Kant beim Versuch, die Theologie aus der Moral zu entfernen, gescheitert: Kant habe nur scheinbar ein von Gott unabhängiges Moralgesetz aufgestellt und stütze sich in Wahrheit immer noch auf eine the­ol­o­gis­che Begründung, ohne dies offen zuzugeben. Schopen­hauer legt seinerseits großen Wert darauf, dass seine Grundlagen der Moral vollständig aus der men­schlichen Natur heraus zu erklären seien.
  • Bei der Kritik an anderen Philosophenkol­le­gen geht Schopen­hauer noch weniger zimperlich vor: So sieht er beispiel­sweise in Johann Gottlieb Fichte eine Art „Hanswurst“ oder einen „lebendigen Superlativ“, der Kant kopiert habe, die Kant’schen Fehler in seinem eigenen philosophis­chen System ins Maximum vergrößert und sie damit noch au­gen­schein­licher gemacht habe.

His­torischer Hintergrund

Restau­ra­tionszeit in Deutschland

Während der Restau­ra­tionszeit wurden die alten Machtverhältnisse, die durch die Kriege Napoleons gründlich durcheinan­derg­er­aten waren, wieder­hergestellt. Unter dem Vorsitz des öster­re­ichis­chen Staatskan­zlers Klemens Wenzel Lothar von Metternich entschied der Deutsche Bundestag in Frankfurt am Main nicht nur über die gemeinsame Außenpolitik der Mit­glied­staaten des aus 39 Einzel­staaten bestehenden Deutschen Bundes, sondern be­ratschlagte auch darüber, wie die bürg­er­lich-lib­eralen Strömungen in den Einzel­staaten möglichst effektiv unterdrückt werden konnten. Metternich setzte schon 1819 die Karlsbader Beschlüsse durch, mit deren Hilfe er die so genannte Dem­a­gogen­ver­fol­gung im Deutschen Bund etablierte: Pressezen­sur, das Verbot der Burschen­schaften, die Entlassung revolutionär gesinnter Lehrkräfte und die staatliche Überwachung der Universitäten gehörten zu den Eckpfeilern dieses Re­pres­salienkat­a­logs. Eine zentrale Kommission in Mainz untersuchte revolutionäre Umtriebe. Die französische Julirev­o­lu­tion von 1830 führte auch zu entsprechen­den revolutionären Aktivitäten im Deutschen Bund, die jedoch brutal unterdrückt wurden. Nach einer Zeit der Resignation regten sich die bürgerlichen Kräfte erst wieder in der Märzrev­o­lu­tion von 1848.

Entstehung

Das Jahr 1833 markierte in Schopen­hauers Leben eine Zäsur. Er kehrte dem von der Cholera heimge­suchten Berlin den Rücken und ließ sich in Frankfurt am Main nieder. Seine Gründe notierte er damals stich­wor­tar­tig: „Gesundes Klima. Schöne Gegend. An­nehm­lichkeiten großer Städte. Besseres Lesezimmer. Das Naturhis­torische Museum. Besseres Schauspiel, Oper und Concerte. Mehr Engländer. Bessere Kaffeehäuser. Kein schlechtes Wasser (...) Keine Überschwem­mungen. Weniger beobachtet. Die Fre­undlichkeit des Platzes und seiner ganzen Umgebung (...) Ein geschickter Zahnarzt und weniger schlechte Ärzte. Keine so unerträgliche Hitze im Sommer.“ Die Hoffnung, eine Professur in der Hauptstadt zu erhalten, hatte er bereits aufgegeben. Schopen­hauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung lag wie Blei in den Regalen, und seine kleineren philosophis­chen Schriften ereilte das gleiche Schicksal. Auch in Frankfurt galt Schopen­hauer bald als Einzelgänger und Sonderling, der zuweilen heftig gestikulierend im Zwiegespräch mit seinem Pudel beobachtet wurde.

1838 und 1839 beant­wortete er zwei Preisfragen, die von der Königlich Nor­wegis­chen Gesellschaft der Wis­senschaften und der Königlich Dänischen Societät der Wis­senschaften gestellt worden waren. Die Norweger fragten, ob sich die Freiheit des Willens aus dem Selb­st­be­wusst­sein beweisen lasse. Die Dänen stellten die Aufgabe, darzulegen, wo die Grundlage für die menschliche Moral liegt. Schopen­hauer schickte seine Preiss­chrift über die Freiheit des Willens nach Norwegen und die Preiss­chrift über die Grundlage der Moral nach Dänemark. Beide zusammen veröffentlichte er 1841 unter dem Titel Die beiden Grund­prob­leme der Ethik, behandelt in zwei akademis­chen Preiss­chriften.

Wirkungs­geschichte

Die Antworten der beiden Wis­senschafts­ge­sellschaften auf Schopen­hauers Preiss­chriften hätten nicht un­ter­schiedlicher ausfallen können. Die Norweger verliehen dem Philosophen 1839 den ersten Preis und sprachen ihm damit endlich die ersehnte Anerkennung für seine philosophis­chen Gedanken aus. Bei den Dänen ging Schopen­hauers Beitrag als einziger ein – dennoch wurde ihm kein Preis verliehen. Das Urteil lautete: „Thema verfehlt!“ Überdies mokierte man sich darüber, dass Schopen­hauer einige der be­deu­tend­sten Philosophen – vor allem Immanuel Kant – verunglimpft und beleidigt habe. Schopen­hauers Moral­philoso­phie ereilte dasselbe Schicksal wie alle seiner früheren Werke: Jahrelang wurde sie kaum zur Kenntnis genommen.

Das Blatt wendete sich erst 1851, als der Philosoph seine Parerga und Par­alipom­ena veröffentlichte und dafür plötzlich viel Zuspruch erntete. Einmal auf ihn aufmerksam geworden, widmete sich das in­tellek­tuelle Publikum nun auch seinen früheren Werken, sodass mehrere davon in seinem Todesjahr 1860 neu aufgelegt werden mussten, darunter auch die beiden Preiss­chriften. Schopen­hauers Mitlei­d­sethik inspirierte u. a. Denker wie Albert Schweitzer und Max Horkheimer. Schopen­hauers be­deu­tend­ster Verehrer hingegen, Friedrich Nietzsche, der noch sehr mit der Idee des sinnlos waltenden Willens sym­pa­thisierte, konnte mit der Mitlei­d­sethik wenig anfangen. Schopen­hauers Wirkung in­ten­sivierte sich nach seinem Tod. Künstler und In­tellek­tuelle wie Richard Wagner, Samuel Beckett, Albert Einstein und Thomas Mann zeigten sich von seiner Philosophie fasziniert. Leo Tolstoi sagte über Schopen­hauer: „Wenn ich ihn lese, ist mir un­be­grei­flich, weshalb sein Name unbekannt bleiben konnte. Es gibt höchstens eine Erklärung, ebenjene, die er selber so oft wiederholt, nämlich dass es auf dieser Welt fast nur Idioten gibt.“

Über den Autor

Arthur Schopen­hauer wird am 22. Februar 1788 in Danzig geboren. Als er fünf Jahre alt ist, zieht die Familie nach Hamburg um. Sein Vater gehört zu den königlichen Kaufleuten der Han­delsstadt Danzig. Wie er soll auch der Sohn Kaufmann werden. Nach dem Unfalltod des Vaters 1805 wird das Fam­i­liengeschäft aufgelöst. Schopen­hauer macht zu dieser Zeit noch eine Kauf­mannslehre, geht aber dann seinen geistigen Interessen nach und studiert ab 1809 Philosophie in Göttingen, wo er sich u. a. mit antiken Denkern und mit Kant beschäftigt. 1811 geht er nach Berlin und wird Schüler von Friedrich Schleier­ma­cher und Johann Gottlieb Fichte, von denen er sich jedoch bald abwendet. Zwei Jahre später stellt Schopen­hauer seine Dis­ser­ta­tion Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zure­ichen­den Grunde fertig. Er zieht nach Weimar und schließlich nach Dresden und beschäftigt sich mit Goethes Farbenlehre, die er in einem Essay würdigt (Über das Sehen und die Farben, 1816). Neben dem Studium Kants und Platons setzt sich Schopen­hauer auch mit indischer Philosophie auseinander. In Dresden erscheint 1819 der erste Teil seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung. Nach einer Ital­ien­reise beginnt er an der Berliner Universität zu lehren. Seine Feindschaft mit Hegel verleitet ihn dazu, jede seiner Vorlesungen zeitgleich mit denen seines Rivalen abzuhalten – was dazu führt, dass Hegels Vorlesungen voll, Schopen­hauers jedoch weitgehend leer sind. Hegel fällt in Berlin einer Choler­aepi­demie zum Opfer, der Schopen­hauer knapp entkommt, indem er nach Frankfurt am Main reist. Er widmet sich der Verfassung weiterer Schriften und dem tieferen Studium der bud­dhis­tis­chen und hin­duis­tis­chen Philosophie sowie der Mystik. 1844 erscheint der zweite Teil von Die Welt als Wille und Vorstellung. Arthur Schopen­hauer stirbt am 21. September 1860 in Frankfurt am Main.