„Simplify your life“ war gestern
„Complicate your life“ ist die Devise von heute. Vereinfachungen, feste Regeln und Normen werden unserer sich wandelnden Gesellschaft und Arbeitswelt kaum mehr gerecht, so verlockend sie auch sein mögen. Die Schlüssel zum künftigen Erfolg sind vielmehr unkonventionelles Denken und flexibles Handeln. Simplify-Konzepte wurden schon immer propagiert: in der Antike von Diogenes und im 19. Jahrhundert etwa vom amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau. Immer ging es um den Versuch, Komplexität zu reduzieren und sich einen Weg durch den zunehmend dichter werdenden Dschungel des Lebens zu bahnen. Zwänge und Bedürfnisse sollten vermindert und vereinfachende Verhaltensweisen – Entrümpeln! Organisieren! Planen! Reduzieren! – gefördert werden.
„Kreativität und Erneuerungsfähigkeit resultieren nicht aus Ordnungsliebe, sondern aus tiefer Kenntnis mit einem gewissen Hang zur Unordentlichkeit.“
In diesen strikten Anweisungen liegt der Schwachpunkt der Simplify-Konzepte: Sie lassen kaum Kreativität und Improvisation zu und ignorieren die Energie, die aus Chaos und Zufällen entstehen kann. Wer zu sehr reduziert, kann die Möglichkeiten, die ihm unsere komplexe Welt bietet, nicht mehr voll ausschöpfen. Der Complicate-Ansatz ruft deshalb dazu auf, für Veränderungen und Unvorhergesehenes offen zu sein und so den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. In Zukunft wird es darum gehen, das richtige Verhältnis zwischen Organisation und produktivem Chaos zu finden. Als totaler Chaot werden Sie ebenso wenig Erfolg haben wie als Erbsenzähler.
Eigenverantwortung und Eigeninitiative
Ralph Waldo Emerson forderte Mitte des 19. Jahrhunderts, man müsse zum stetigen Wandel bereit sein, um Neues zu kreieren. Auf Autoritäten wie Staat oder Unternehmen sei dabei kein Verlass, sie brächten einen in der eigenen Entwicklung nicht weiter. Was für Emerson zählte, war der persönliche Wille, der Glaube an die eigenen Fähigkeiten.
„Complicate your life heißt, offen zu werden für unerwartete Entwicklungen.“
Heutige Managementdenker wie Tom Peters setzen diese Denkrichtung fort. Auch Peters propagiert Unternehmergeist, gepaart mit Vertrauen in die eigenen Stärken, ein ständiges Umdenken und Neukreieren. Und er hat Recht, denn die Zeiten, in denen wir ein Leben lang einem einzigen Unternehmen angehörten, sind definitiv vorbei. Die Berufswelt hat sich bereits radikal geändert, auch wenn sich viele standhaft weigern, dies zu akzeptieren. Arbeitnehmer sind heute gezwungen, sich ständig weiterzuentwickeln. Aber nicht nur das, sie müssen auch lernen, mehrgleisig zu fahren. Nur wer versteht, dass er seine Arbeitskraft in Zukunft fragmentiert verkaufen muss, ist gewappnet für das, was kommt.
Portfolio Lives
Der Wirtschaftsphilosoph Charles Handy spricht von der Entwicklung so genannter „Portfolio Lives“. Ein Portfolio-Leben führt, wer auf ein ganzes Bündel von Tätigkeiten und Fähigkeiten zurückgreifen kann, die sich auf dem Arbeitsmarkt verkaufen lassen. Phasen von Angestelltentätigkeit, nebenberuflicher Selbstständigkeit, Vollzeit-Selbstständigkeit und ehrenamtlicher Tätigkeit lösen sich ab. Die berühmte Autorin und Erfinderin von Harry Potter, Joanne K. Rowling, ist ein gutes Beispiel dafür. Sie arbeitete zunächst als Lehrerin, dann als Büroangestellte und Mitarbeiterin bei Amnesty International, zog nach Portugal, wo sie wieder als Lehrerin arbeitete, wurde Mutter, kehrte zurück nach England, lebte von der Sozialhilfe – und schrieb dann ihren ersten Harry-Potter-Roman. „Complicate your life“ bedeutet in diesem Sinne, verschiedene Qualitäten und Fähigkeiten zu entwickeln und diese in einer „virtuellen Künstlermappe“ parat zu haben, um sie potenziellen Interessenten vorzuweisen. Es bedeutet aber auch, dass man auf sich selbst gestellt ist und immer wieder die Initiative ergreifen muss.
„Praktikanten zappeln mit Elan, sind motiviert und lernen, sich wie Chamäleons zu verändern, wenn sie mehrere Praktika durchlaufen.“
Eigeninitiative ist in der „nächsten Gesellschaft“, wie der Managementdenker Peter Drucker sagte, überlebensnotwendig. Wenn sich mehr Menschen auf sich selber verlassen und selbstbestimmt arbeiten – unabhängig davon, ob sie zur Stammbelegschaft eines Unternehmens gehören, Freiberufler sind oder eine eigene Firma gründen –, dann wird diese nächste Gesellschaft leistungsfähiger sein als die heutige. Sie wird allerdings auch instabiler werden. Nur wer sich darauf einlässt und die Idee einer linearen Karriere aufgibt, wird Erfolg haben. Das gilt ganz besonders für die zukunftsträchtigen Bereiche Technologie und Wissensarbeit.
Zappelnde Praktikanten
Die Praktikanten der heutigen Generation haben bereits gelernt, mit der veränderten Situation umzugehen. Sie haben erfahren, dass ein Praktikum keineswegs mehr die Eintrittskarte in das Wunschunternehmen ist: Wer einen Fuß auf die Karriereleiter setzen will, muss eine „floundering period“ durchhalten, eine Zeitspanne, in der man wie eine Flunder zappelt.
„Es wird heute immer wichtiger, den Wert der Arbeit genau zu beobachten und eigene Spielräume zu erweitern.“
Das hat Vor- und Nachteile: Die „Generation Praktikum“ muss sich durch zahlreiche unbezahlte, arbeitsintensive Praktika kämpfen, lernt aber gleichzeitig, Vorteile für das spätere Arbeitsleben daraus zu ziehen. Sie saugt Wissen auf, knüpft wertvolle Netzwerke und lockere Verbindungen, so genannte „weak ties“, die sich später als überaus nützlich erweisen können. Der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft auf der einen Seite steht auf der anderen die frühzeitige Übernahme von Verantwortung gegenüber. Viele Praktikanten haben eine Rolle als Ersatzmitarbeiter, Berater, Motivator, Experte oder Innovator inne und avancieren schnell zu unersetzlichen Arbeitskräften.
„Brand you“ – werden Sie eine Marke
Tom Peters rief bereits vor einem Jahrzehnt dazu auf, „der Boss seiner eigenen Show“ zu sein. Im zukünftigen Arbeitsmarkt wird es noch wichtiger sein, sich von anderen zu unterscheiden und selbst zur Marke zu werden. Es geht dabei nicht darum, um jeden Preis Eindruck zu schinden, sondern die eigenen Stärken zu kennen und systematisch Handlungsoptionen zu erweitern.
„Das obere Management liest in der Tat kaum Managementbücher.“
Konkret kann das heißen, den nächsten Job bereits zu suchen, während man mit dem jetzigen noch ganz zufrieden ist, diesen neuen Job absichtlich in einer anderen Branche als der bisherigen zu wählen und aus freien Stücken mobil zu werden, nicht erst unter Druck. Gegen den Strom zu schwimmen, zahlt sich aus: Statt sich nur bei bekannten Unternehmen zu bewerben – möglicherweise chronisch erfolglos –, lohnt sich ein Blick auf die gewaltigen Möglichkeiten, die der Mittelstand bietet. Schicken Sie 100 oder mehr Blindbewerbungen ab: Wer sich auf wenige Unternehmen beschränkt und dort Absagen erhält, beschädigt nur sein Selbstvertrauen und beschränkt unnötig seinen Aktionsraum.
Managen in der Zukunft
Henry Fayol, Begründer der französischen Managementlehre, definierte die Tätigkeit des Managens als Planen, Organisieren, Koordinieren und Kontrollieren. Viele Manager verhalten sich noch heute so. Das wird den neuen Anforderungen jedoch nicht mehr gerecht.
„Klassische Managementprogramme ziehen die falschen Leute an und legitimieren sie mit unzureichenden Methoden für die Managementherausforderungen des 21. Jahrhunderts.“
Heutige Manager müssen wie Unternehmer denken und handeln und mit der gestiegenen Komplexität klarkommen. Dazu brauchen Sie ein ganzes Bündel an „professional skills“, zu denen vor allem weiche Faktoren wie Intuition, Vertrauen, Entschlusskraft, Mut, Schnelligkeit oder Erfahrung zählen. Es geht weniger darum, auf die Analyse von Ursachen und Wirkungen zu bauen und rationale Entscheidungen zu treffen, als vielmehr um Offenheit im Denken und um das Zulassen von Ungewissheit. Je komplexer das Umfeld, desto schwieriger, ja sinnloser werden langfristige Pläne. Manager dürfen keine Verwalter und Risikoabsicherer sein, sie müssen zu Unternehmern werden, Chancen erkennen, ad hoc entscheiden, Ideen und Menschen zusammenführen. Zum Topmanager kann nur werden, wer flexibel auf neue Entwicklungen reagiert und Spaß daran hat. Mit der steigenden Komplexität von Produkten und Märkten spielerisch umgehen – auch das ist mit „Complicate your life“ gemeint.
Wozu Theorie und Bücher?
Untersuchungen haben ergeben, dass Manager kaum Managementliteratur lesen, sondern sie höchstens im Regal stehen haben. Rund 90 % ihrer Zeit verbringen sie mit kommunizieren, Interessen ausloten, Kontakte knüpfen oder beleben sowie Anweisungen geben. Meist entscheiden sie aus dem Bauch heraus und erklären dies erst später rational. Oder sie treten die vermeintlich nötige Analyse an einen Berater ab, der vorgibt, der Komplexität Herr zu werden.
„Der direkte Kontakt zu bisherigen Nicht-Kunden stellt die effektivste Methode dar, um die Sichtweise von Menschen mit anderem Hintergrund kennen zu lernen.“
Tatsache ist, dass gute Unternehmenslenker wenig lesen, aber viel mit Kollegen, Mitarbeitern, Kunden und Noch-nicht-Kunden reden. Sie können damit leben, dass sie nicht alle Einzelheiten in ihrem Unternehmen kennen oder gar kontrollieren können. Die klassische Managementausbildung an der Uni oder zum MBA wird in Zukunft keinen Erfolg mehr garantieren. Die neue Devise ist „trial and error“. Gelernt wird, indem man frühzeitig Führungsaufgaben übernimmt: in der Schule, während des Studiums, im Praktikum, bei einer soliden Ausbildung im Handwerk oder in einem Ehrenamt.
Komplexe Systeme
Ein belebter Strand ist ein gutes Beispiel für ein komplexes soziales System, das sich selbst steuert. Das Strandleben hat seine eigenen Regeln der Kommunikation und der Distanz. Sie sind nirgends niedergeschrieben, jeder neue Strandbesucher beobachtet und fügt sich ein. Aber das Strandleben entwickelt sich mit dem Verhalten seiner Besucher auch weiter: Neue kommen hinzu, verändern die Regeln von Kommunikation und Distanz, sorgen für eine andere Atmosphäre.
„Wer lernt, mit Feedback-Schleifen zu innovieren, erzielt marktfähige Innovationen.“
Ähnlich funktionieren Konsumprozesse, neue Kommunikationsformen wie Blogging oder selbstorganisiertes Lernen. Auch hier handelt es sich um selbstgesteuerte soziale Systeme mit ungeschriebenen Regeln. Dabei zeigt sich, dass Einzelpersonen nicht intelligenter sind als Gruppen, im Gegenteil. Das Stichwort dazu lautet „Schwarmintelligenz“, und neue Erscheinungen wie Open-Source-Software, Wikipedia oder Musiktauschbörsen belegen, wie sie funktioniert. Das komplexe System Internet macht möglich, dass heute nahezu jedes Produkt – auch ein sonst schwer verkäufliches – seine Abnehmer findet. Das bedeutet eine schier unendliche Anzahl an Nischenmärkten und denkbaren Nischenprodukten – ein offenes Feld für Unternehmer und Selbstständige.
Von Beginn an global
Wer sich in einer Nische selbstständig macht, sollte von Beginn an auf eine globale Marke abzielen. Beschränken Sie sich nicht auf Ihre Heimatregion, sondern schauen Sie bewusst auf andere Länder und entdecken Sie dort mögliche Produktvorteile im Hinblick auf Preis, Qualität oder Service. Diese Erkenntnisse lassen sich nutzen, um über den Heimmarkt hinaus zu agieren, sei es um im Ausland Produkte oder Dienstleistungen anzubieten oder indem Sie als „Inkubator“ ausländischen Unternehmern helfen, in Ihrer Heimat Fuß zu fassen. Tun Sie aber nicht einfach irgendwas. Die nötige Ausdauer bringen Sie nur auf, wenn Sie mit Begeisterung bei der Sache sind.
Ständige Innovation
Laufendes Um- und Weiterdenken ist das A und O der zukünftigen Unternehmensentwicklung. Weitreichende Planung kann Ihnen dabei nicht viel helfen. Entscheidender für innovative Ideen ist eine Unternehmenskultur, die Fehler erlaubt und Unbekanntes akzeptiert. Nutzen Sie Feedbacks von Ihren Kunden, kommunizieren Sie nach allen Seiten, beziehen Sie Zufälle mit ein, beobachten Sie Trends, soziale Entwicklungen und das Marktgeschehen aufmerksam. Einen unausgereiften Prototyp zu lancieren, die Reaktionen darauf abzuwarten und wiederum in die Weiterentwicklung einzubeziehen, kann zu einer revolutionären Neuheit führen. Wer hingegen versucht, das Produkt bis in alle Einzelheiten vorauszuplanen, wird eher einen Flop landen.