Der Verdacht

Buch Der Verdacht

Basel, 1951/52
Diese Ausgabe: Diogenes,


Worum es geht

Gerechtigkeit und Freiheit

Der Verdacht ist ein äußerst spannender, atmosphärisch dichter Krim­i­nal­ro­man, und doch bricht er wesentliche Regeln des Genres. Das gilt auch für Dürrenmatts andere Krimis Der Richter und sein Henker (ebenfalls mit dem Berner Kommissär Bärlach), Das Versprechen und Justiz: Verbrechen werden kaum aufgeklärt, die Welt bleibt un­durch­dring­bar, der Triumph der Gerechtigkeit höchstens ein zufälliger. Dürrenmatt geht es nicht in erster Linie um die Suche nach einem Täter – der ist hier schnell gefunden –, sondern um die philosophis­chen Fragen nach Schuld, Sühne, Legitimität und Legalität. Im Verdacht geht es speziell um das Verhältnis von Gerechtigkeit und Freiheit. Dürrenmatt kon­fron­tiert den Kommissär mit einem früheren KZ-Arzt namens Emmenberger, einem monströsen und grausamen Verbrecher, der in seiner un­men­schlichen Art einen extrem radikalen Frei­heits­be­griff vertritt: Emmenberger verklärt seinen persönlichen Sadismus zu einem Ausdruck höchster Freiheit und letztlich zu einer reinen Glaubenssache. Warum, fragt er Bärlach, sollte sein Nihilismus dem Prinzip der Gerechtigkeit unterlegen sein, zumal in einer materiellen Welt, die sich nicht mehr auf göttliche Gesetze beruft? Bärlach bleibt ihm eine eindeutige Antwort schuldig.

Take-aways

  • In Dürrenmatts philosophis­chem Krim­i­nal­ro­man wird eine schreck­liche Ahnung formuliert: In einer absurden Welt könnte auch die Idee der Gerechtigkeit absurd sein.
  • Inhalt: Der todkranke Kommissär Bärlach schöpft den Verdacht, der Klinikleiter Emmenberger könnte der ehemalige Naziarzt Nehle sein, der KZ-Häftlinge ohne Narkose operierte. Er lässt sich in Em­men­berg­ers Klinik verlegen, um diesen zu überführen. Doch der Arzt durchschaut ihn, die Klinik wird zum Gefängnis. In letzter Minute wird Bärlach von einem ehemaligen Folteropfer Em­men­berg­ers befreit.
  • In Bärlachs Verzwei­flung spiegeln sich die schreck­lichen geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhun­derts. Ideale wie Gerechtigkeit und Freiheit wurden nachhaltig erschüttert.
  • Emmenberger ist eine Teufels­figur, eine Verkörperung des Bösen, die im schreck­lich­sten Sinne tut, was sie will.
  • Der philosophis­che Ansatz des Nihilismus wird im Roman ausdrücklich the­ma­tisiert.
  • Der Verdacht entstand 1951 als Auf­tragsar­beit direkt im Anschluss an Der Richter und sein Henker.
  • Die beiden Bärlach-Ro­mane, auch aus fi­nanziellen Überlegungen geschrieben, markierten den Anfang von Dürrenmatts er­fol­gre­icher Schrift­steller­lauf­bahn.
  • Kritiker monierten, Der Verdacht sei symbolisch überfrachtet.
  • Die Absurdität der Welt, dargestellt in grotesken Situationen, blieb ein zentrales Thema für Dürrenmatt.
  • Zitat: „Die Freiheit ist der Mut zum Verbrechen, weil sie selbst ein Verbrechen ist.“
 

Zusammenfassung

Ein ungeheurer Verdacht

Der krebskranke Krim­i­nalkom­missär Hans Bärlach liegt gegen Jahresende 1948 in der Klinik Salem in Bern. Wegen einer Herzattacke hat man ihn erst jetzt, über die Feiertage, operieren können. Der Eingriff war erfolgreich, ändert jedoch nichts an der Diagnose: Bärlach hat kaum noch lange zu leben; er selbst rechnet mit einem Jahr. Immerhin hat er sich von der Operation erholt, als er am 27. Dezember aufwacht. Er blättert in einer Ausgabe von Life aus dem Jahr 1945.

„Es waren Tiere, Samuel. (...) Der Lagerarzt Nehle führt an einem Häftling eine Bau­ch­op­er­a­tion ohne Narkose durch und ist dabei fo­tografiert worden.“ (Bärlach, S. 5)

Dabei entdeckt er ein Foto aus dem Konzen­tra­tionslager Stutthof bei Danzig, auf dem der ehemalige Lagerarzt Nehle bei einer grausamen Bau­ch­op­er­a­tion ohne Narkose an einem der Häftlinge zu sehen ist. Bei der abendlichen Visite zeigt er das Foto seinem Chirurgen, Dr. Samuel Hungertobel. Die beiden Männer sind eng befreundet. Bärlach bemerkt, wie Hungertobel beim Anblick des Fotos erbleicht. Als erfahrener Kriminalist zieht er seine Schlüsse: Könnte es sein, so Bärlachs Verdacht, dass Hungertobel den Naziarzt Nehle kennt?

„(...) als Emmenberger diesen Schnitt ausführte, mein Gott, Hans, hatte er die Augen weit aufgerissen, sein Gesicht verzerrte sich; es war plötzlich, als breche aus diesen Augen etwas Teuflisches, eine Art übermäßige Freude, zu quälen (...), wenn auch nur für eine Sekunde; denn schon war alles vorbei.“ (Hungertobel, S. 23)

Hungertobel behauptet zunächst, das Foto habe ihn nur an jemanden erinnert. Dann aber gesteht er, dass er den Abge­bilde­ten, der einen Op­er­a­tions­mund­schutz trägt, kennt. Wider­strebend gibt er schließlich den Namen jenes Kollegen preis, den er erkannt zu haben glaubt: Dr. Fritz Emmenberger, Besitzer der Luxusklinik Sonnenstein in Zürich.

Die Vorgeschichte

Hungertobel enthüllt nun, er habe Emmenberger an einer Narbe an der Augenbraue erkannt, die man trotz der Op­er­a­tions­maske sehen könne. Er selbst habe Emmenberger einmal wegen einer Stirnhöhlen­vere­iterung operiert. In Medi­zin­erkreisen, erzählt Hungertobel, werde Emmenberger „Erbonkel“ genannt: Viele seiner reichen Patienten würden der Klinik ihr Vermögen vermachen. Bärlach schöpft daraus einen weiteren Verdacht: Er vermutet, dass Emmenberger diese Vermächtnisse von seinen Patienten mit Methoden erpresst, die er im KZ Stutthof gelernt hat.

„Alle Menschen sind gleich. Nehle war ein Mensch. Also war Nehle wie alle Menschen.“ (Gulliver, S. 30)

Hungertobel versucht dies zu widerlegen: Emmenberger habe sich während des Krieges in Chile aufgehalten. Als Beweis dafür nennt er einige Fachartikel des Arztes, die in jenen Jahren in angesehenen in­ter­na­tionalen Fachzeitschriften erschienen und in Chile verfasst worden seien. Nach der Lektüre dieser Artikel scheint Bärlach das Alibi allerdings fraglich. Gemäß Hungertobel pflegte Emmenberger früher einen sehr eleganten Schreibstil. Die Artikel aus Chile hingegen sind unbeholfen formuliert.

„Die Stadt Zürich war ihm sonst nicht recht sympathisch, vier­hun­dert­tausend Schweizer auf einem Fleck fand er etwas übertrieben.“ (über Bärlach, S. 61)

Jetzt steuert Hungertobel selbst ein weiteres Ver­dachtsmo­ment bei: Er habe bei einer Berg­wan­derung als Student miterlebt, wie der junge Kommilitone Emmenberger bei einem der Wanderer eine Koniotomie durchführte, eine Art notfallmäßigen Luftröhrenschnitt. Er könne die Szene bis heute nicht vergessen: Sie seien damals in einer finsteren, in gespen­stis­ches Abendrot getauchten Alphütte un­tergekom­men. Dort sei einer der Studenten unglücklich von einer Leiter gestürzt. Als er zu ersticken drohte, habe ihm Emmenberger den Hals aufgeschnit­ten und dabei geradezu teuflisch gegrinst, mit weit aufgeris­se­nen Augen. Der Student habe seinem Leben­sret­ter später nie mehr in die Augen sehen können und sich auch nicht für den Eingriff bedankt.

Ein geis­ter­hafter Hühne

Bärlach nimmt Kontakt zu einem Freund, dem Juden Gulliver, auf, der daraufhin mitten in der Nacht an der Spi­tal­fas­sade hochk­let­tert und am Krankenbett erscheint. Gulliver ist eine geis­ter­hafte Gestalt nach der Art des Ahasver. Sein riesen­hafter Körper ist übersät mit Narben, er hat in vielen Konzen­tra­tionslagern gelitten. Bärlach fragt ihn nach Nehle, und tatsächlich kennt Gulliver den Arzt – er wurde damals selbst von ihm operiert. Nehle habe immer die Zustimmung der Juden zu diesen Operationen erwirkt, indem er ihnen die Hoffnung gab, sie könnten danach freige­lassen werden. Sie hätten vorher bereits bei den grausamen Operationen an anderen Insassen dabei sein müssen, um zu wissen, was sie erwarte. Es stellt sich heraus, dass Gulliver sogar das Foto von der Operation Nehles gemacht hat, das Life abdruckte. Die Veröffentlichung habe den be­ab­sichtigten Zweck erfüllt: Nehle habe sich noch 1945 in Hamburg das Leben genommen.

Die zwei Nehles

Bärlach lässt sich die Ob­duk­tion­sun­ter­la­gen des toten Nehle schicken und erörtert sie mit Hungertobel. Die äußere Ähnlichkeit zwischen Nehle und Emmenberger geht so weit, dass sie neben der Narbe an der Augenbraue auch noch beide eine am Unterarm haben. Hungertobel glaubt immer noch an eine Ver­wech­slung, Bärlach nicht. Der Kommissär sieht zwei andere Möglichkeiten: Entweder hat Nehle Emmenberger getötet und ist jetzt Inhaber der Son­nen­stein-Klinik. Oder Emmenberger hat Nehle umgebracht und mit dessen Identität im KZ operiert; nach dem Krieg ist er als Emmenberger wieder in die Schweiz zurückgekehrt und hat sich als Arzt für Reiche einen Namen gemacht.

„Nehle ist der nicht. Ein Berliner hätte es nie zum Miuchmäuchterli gebracht.“ (Bärlach, S. 67)

Um den wahren Sachverhalt zu erfahren, beschließt Bärlach, sich unter falschem Namen in Em­men­berg­ers Klinik Sonnenstein verlegen zu lassen. Vorher veranlasst er einen Bekannten, den verkrachten Jour­nal­is­ten Fortschig, zur Publikation eines Artikels in dessen Kleinzeitung: Die wahre Identität des ehemaligen KZ-Arztes Nehle sei nunmehr bekannt und werde demnächst veröffentlicht.

In der Klinik Sonnenstein

Am Sil­vestertag wird Bärlach von Hungertobel persönlich in die Klinik Sonnenstein gefahren. Bei der Ein­liefer­ung erkennt Bärlach hinter einem Fenster im Erdgeschoss für einen kurzen Moment das fratzen­hafte Gesicht eines Zwerges.

„Sie spüren Krankheiten auf und ich Kriegsver­brecher.“ (Bärlach zu Emmenberger, S. 68)

Hungertobel führt noch ein kurzes Gespräch mit Emmenberger und versichert Bärlach beim Hinausgehen, dass Emmenberger auf jeden Fall derjenige sei, den er von früher kenne – und nicht etwa Nehle. Bärlach findet dies gleich darauf bestätigt, als ihn Emmenberger persönlich untersucht. Der Arzt verwendet Wörter in Berner Mundart, die der Berliner Nehle unmöglich kennen könnte. Damit ist für Bärlach endgültig klar, dass Emmenberger während des Krieges Nehles Identität angenommen hat. Bärlach versucht in dem Un­ter­suchungs­ge­spräch Emmenberger zu provozieren, indem er durch­blicken lässt, dass er nach einem Kriegsver­brecher sucht. Der Arzt bleibt gelassen.

„Das soll doch nicht etwa heißen, dass es in der Schweiz Kriegsver­brecher gebe!“ (Emmenberger zu Bärlach, S. 69)

Nach der Un­ter­suchung wird Bärlach in ein Zimmer mit ver­spiegel­ter Decke und ver­git­tertem Fenster verlegt. An der Wand hängt eine Re­pro­duk­tion von Rembrandts Gemälde Anatomie. Kranken­schwester Kläri Glauber deutet an, dass Patienten aus dieser Station die Klinik nicht mehr lebend verlassen. Sie empfiehlt Bärlach einen von ihr selbst verfassten Traktat über den Tod als Ziel und Zweck unseres Lebenswan­dels. Darin gibt sie ihrer Überzeugung Ausdruck, das Leben und der Tod seien nur Durch­gangssta­tio­nen zu einem höheren Dasein. Bärlachs Wunsch, das Rem­brandt-Bild durch Dürers Ritter, Tod und Teufel zu ersetzen, notiert sie bere­itwillig. Es wird später von einem taubstummen Handwerker aus­ge­tauscht.

Die Ärztin

Weil ihm eine hochwirk­same Beruhi­gungsspritze verabreicht wurde, wacht Bärlach erst fünf Tage später wieder auf. Dabei ist die Ärztin Dr. Edith Marlok zugegen. Die attraktive Frau ist ihm schon bei der Ein­liefer­ung aufgefallen. Nun spritzt sie sich gerade Morphium. Sie setzt Bärlach ohne Umschweife davon in Kenntnis, dass man hier durchaus wisse, wer er sei und was er wolle. Sie gibt sich als ehemals überzeugte Kommunistin zu erkennen. Sie sei vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen; aber auch dort sei sie eingek­erk­ert und im Zuge des Hitler-Stalin-Pak­tes als deutsche Kommunistin an die SS übergeben worden. Von den Nazis ins KZ gesperrt, habe sie nur überlebt, weil sie Em­men­berg­ers Geliebte geworden sei. Sie ist über alle Untaten Em­men­berg­ers in der Ver­gan­gen­heit und in der Gegenwart im Bild. In kalten, klaren Worten schildert sie Bärlach ihre de­sil­lu­sion­ierte Weltsicht und ihr Leben als Dienerin des „Höllenfürsten“.

„Was in Deutschland geschah, geschieht in jedem Land, wenn gewisse Bedingungen eintreten.“ (Bärlach zu Emmenberger, S. 69)

Nachdem Dr. Marlok das Zimmer verlassen hat, bringt die Kranken­schwester Bärlach die Post, darunter eine Ausgabe von Fortschigs Zeitung mit dem von Bärlach ve­r­an­lassten Artikel – und ein weiteres Blatt mit der Todesnachricht Fortschigs. Dieser ist Bärlachs dringendem Rat, sich nach dem Verfassen des Artikels in Paris in Sicherheit zu bringen, nicht gefolgt. Er ist in seiner Wohnung auf dem – ver­riegel­ten – Klo erschlagen worden. Die Polizei schließt ein Verbrechen aus, weil der einzige Zugang zu diesem Klo ein enger Lichtschacht ist. Bärlach erkennt sofort, dass nur der Zwerg diese Tat ausführen konnte.

Das Geständnis

In diesem Augenblick betritt Emmenberger das Zimmer, diesmal nicht im Arztkittel, sondern im Straßenanzug. Auf Knopfdruck lässt er eine Wand au­seinan­der­gleiten, hinter der sich ein Op­er­a­tionssaal befindet. Bärlach weiß, was ihn erwartet: Emmenberger will auch ihn ohne Narkose operieren und damit grausam zu Tode quälen. Tatsächlich kündigt Emmenberger eine Operation für sieben Uhr abends an. Bärlach bleiben nur noch wenige Stunden.

„Ich habe noch niemanden gesehen, der die Abteilung drei verlassen hätte. Und Sie sind auf der Abteilung drei, da lässt sich nichts dagegen machen.“ (Schwester Kläri zu Bärlach, S. 76)

Emmenberger scheint sich sicher zu fühlen und legt Bärlach seinen „Werdegang“ und seine Absichten rückhaltlos dar. Er gibt zu, Nehle die identitätss­tif­ten­den Narben beigebracht und ihn nach Chile geschickt zu haben, um unter dessen Namen KZ-Arzt zu werden. Den bei Kriegsende aus Chile zurückgekehrten Nehle habe er durch Vortäuschung eines Selb­st­mordes getötet und seine alte Identität wieder angenommen. Dass der medizinisch begabte, aber nicht als Arzt aus­ge­bildete Nehle den Ehrgeiz entwickelte, seinerseits unter Em­men­berg­ers renom­miertem Namen stilistisch zweifel­hafte Fachartikel zu veröffentlichen, konnte Emmenberger nicht voraussehen. Ein fataler Schwach­punkt in der getürkten Geschichte, der einem scharf­sin­ni­gen Krim­i­nal­is­ten wie Bärlach auffallen musste. Allein deswegen erscheint es Emmenberger geboten, den Kommissär zu beseitigen. Auch Hungertobel, einen möglichen Be­las­tungszeu­gen, will er umbringen.

„Mir sind die Menschen gleichgültig, auch Emmenberger, der doch mein Geliebter ist.“ (Marlok, S. 83)

Um seine Lust am Töten zu stillen, reichen Emmenberger solche Zweckmorde freilich nicht; dafür braucht er seine Klinik. Bärlach wirft ihm vor, ein Nihilist zu sein. Emmenberger weist das zurück. Er enthüllt einen rein materiellen Glauben an die Welt und das Leben, die nichts als ein Produkt des Zufalls seien. Im Gespräch mit Bärlach wirft er diese Vorstellung bildlich auf die Waagschale und fordert ihn auf, seinen Gerechtigkeits­glauben dage­gen­zuset­zen und zu begründen. Dann wolle man sehen, was schwerer wiege: der Glaube eines Massenmörders oder der eines Christen. Bärlach geht darauf nicht ein und schweigt.

„Nun gut, sehen wir, was ich für einen Glauben habe, und legen wir ihn auf eine Waage, und sehen wir, wenn wir den Ihren auf die andere Schale legen, wer von uns beiden den größeren Glauben besitzt, der Nihilist – da Sie mich so bezeichnen – oder der Christ.“ (Emmenberger zu Bärlach, S. 108)

Emmenberger führt seine Überzeu­gun­gen noch weiter aus: Er behauptet, das wesentliche Charak­ter­is­tikum der Materie sei ihr be­din­gungsloses Dasein und damit ihre Freiheit. Die äußerste Ausprägung der Freiheit aber sei der Mut zum Verbrechen. Im Moment des grausamsten Verbrechens realisiere sich diese Freiheit auf allerhöchste, intensivste und geradezu triumphale Weise. Das Erlebnis der äußersten Qual des Opfers wiege so viel wie die gesamte Materie des Universums.

Die Rettung

Dem kranken, alten Bärlach bleibt danach nichts mehr übrig, als hilflos auf den Tod zu warten. Nach einigen Stunden hört er allerdings, wie draußen jemand das Kinderlied Hänschen klein singt. Es ist der riesige Jude Gulliver, der geahnt hat, welchen Verdacht Bärlach schöpfte. Gemeinsam mit Hungertobel kann er Bärlach retten und persönlich Rache an Emmenberger nehmen: Er zwingt ihn, eine Zyankali-Kapsel zu zerbeißen – genauso, wie es Emmenberger damals mit Nehle tat. Dann ver­schwindet der Riese ebenso rasch, wie er aufgetaucht ist. Er nimmt Em­men­berg­ers Zwerg mit sich, der sich als sein ehemaliger Lei­densgenosse in Stutthof her­aus­gestellt hat. Bärlach schließt erleichtert die Augen. Als sich die Tür zu seinem Zimmer leise öffnet, weiß er, dass das Hungertobel sein muss, der ihn nach Bern zurückbringen wird.

Zum Text

Aufbau und Stil

Dürrenmatts kurzer Krim­i­nal­ro­man hat nur zwei Hand­lung­sorte: die beiden Kranken­z­im­mer in Bern und Zürich. Beide Räume könnten auch Bühnenbilder sein. Der einzige Ortswechsel spaltet den Roman in zwei Teile, die zusätzlich in kleinere Kapitel gegliedert sind. Diese wirken wiederum wie Szenen, in denen jeweils eine weitere Person zu Bärlach hinzutritt. Es erstaunt nicht, dass Dürrenmatts Ruhm als Schrift­steller vor allem auf Theaterstücken und Hörspielen gründet, durch die er sich als philosophis­cher Denker profilierte. Auch in Der Verdacht stehen weniger die Motive oder Gefühle der Figuren im Zentrum, sondern philosophisch-the­ol­o­gis­che Fragen des Gerechtigkeit­sprob­lems. Bei aller Gedanken­schwere bleibt der Krimi jederzeit hochspan­nend. Dürrenmatt schreibt munter und unprätentiös und lebt seinen Hang zum Grotesken lustvoll aus.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Man kann Dürrenmatts Krim­i­nal­ro­man als ein Stück Ver­gan­gen­heits­bewältigung sehen: Die Erzählung entstand Anfang der 1950er Jahre unter dem noch frischen Eindruck der Nazigräuel. Sowohl für den ohne Narkose operieren­den Emmenberger wie auch für den Juden Gulliver, der eine solche Operation überlebt hat, gibt es reale Vorbilder: etwa den berüchtigten KZ-Arzt Mengele sowie unzählige namenlose jüdische Opfer.
  • Dürrenmatts teilweise skurril überze­ich­netes Personal besteht aus Sym­bol­fig­uren, etwa dem „Ewigen Juden“ Gulliver. Prägnantestes Beispiel ist Emmenberger: Er erscheint als realer, sadis­tis­cher Mörder, gle­ichzeitig aber auch als moderne Verkörperung des Teufels, des Bösen schlechthin. Seine Narbe kann als Kain­sze­ichen gedeutet werden.
  • Das Schicksal der Marlok spiegelt die historische Erfahrung des 20. Jahrhun­derts. Ihr Leiden sowohl unter dem Stalinismus wie unter dem Na­tion­al­sozial­is­mus hat sie in einen de­sil­lu­sion­ierten, absoluten Zynismus geführt. In diesem Zustand sind ihr selbst die schlimmsten Verbrechen gleichgültig.
  • Bärlachs Schweigen auf die provozieren­den Fragen Em­men­berg­ers verdeut­licht die Erschütterung eines Humanitätsideals. Sein philosophis­cher Verdacht: Die Welt ist sinnlos, also kann es keine Gerechtigkeit geben. Die Absurdität der Welt, dargestellt in grotesken Situationen, blieb ein zentrales Thema für Dürrenmatt.
  • Gerechtigkeit und Verbrechen werden parallel gesetzt: Bärlachs Kranken­z­im­mer ist eine vergitterte Zelle, wie man sie zur Verwahrung von Verbrechern braucht, Emmenberger übt eine Macht über Leben und Tod aus, die höchstens einer Recht­sor­d­nung zusteht, Bärlachs „Verhör“ und Em­men­berg­ers „Un­ter­suchung“ stehen sich ebenbürtig gegenüber. Der Gerechtigkeits­glaube des Fahnders erscheint damit ebenso absurd wie der per­vertierte Frei­heits­glaube des Naziarzts.
  • Em­men­berg­ers Credo besagt, dass die absolute Materie nur durch reinen Zufall struk­turi­ert werde, woraus sich für den Starken, Mächtigen und Skru­pel­losen unbegrenzte Hand­lungs­frei­heit ergebe. Dieser Nihilismus, wie er bereits bei Nietzsche anklingt (den Dürrenmatt eingehend studiert hat), greift auf natur­wis­senschaftliche Erken­nt­nisse zurück, ins­beson­dere die neuere Physik und die Evo­lu­tion­s­the­o­rie. Tatsächlich bedienten sich auch die Nazis wis­senschaftlicher Theorien, um ihre Entwertung jeglicher moralisch-ethis­cher Maßstäbe zur recht­fer­ti­gen.

His­torischer Hintergrund

Legales Unrecht?

Die Diskri­m­inierungs­ge­setze der Na­tion­al­sozial­is­ten wie das Gesetz zur Wieder­her­stel­lung des Berufs­beam­ten­tums (1933) oder die berüchtigten Nürnberger Gesetze (1935), die heute als schreiendes Unrecht empfunden werden, waren seinerzeit gültiges Recht, genauso wie viele andere Rechts- und Gericht­sakte der Nazis. Gerade in der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde die Frage der Legitimität des Rechts intensiv diskutiert. Die so genannten Recht­spos­i­tivis­ten erklärten, Recht­snor­men, die for­maljuris­tisch korrekt zustande gekommen seien, müssten gelten. Hier legitimiert das Verfahren die Norm, so wie das korrekte Gerichtsver­fahren das Urteil legitimiert. Rechtswis­senschaftler Hans Kelsen formulierte diesen Standpunkt in seiner berühmt gewordenen „Reinen Rechtslehre“. Ethisch-moralis­che Wertungen gehören ihr zufolge zu einem anderen Nor­men­sys­tem und haben mit der Rechtsausübung nichts zu tun.

Das Problem der Legitimität des Rechts ist freilich älter: Seit der Aufklärung schien es unmöglich, sich in rechtlichen Fragen auf tran­szen­den­tale Grundnormen, auf ewiges oder göttliches Recht zu berufen. In den Worten David Humes: Das Sollen kann nicht aus dem Sein abgeleitet werden. Nachdem dieser Ansatz entfallen war, erschien die pos­i­tivis­tis­che Variante als denkbare Lösung, aber es blieb die Frage: Wer legitimiert die Recht setzende Gewalt bzw. wer erlegt ihr Miss­brauchss­chranken auf? Eine mögliche Antwort ist das Naturrecht. Es wird als überpos­i­tives Grund­la­gen­recht verstanden, das über dem Gesetz steht. Dieser Gedanke findet seinen bekan­ntesten Ausdruck im ersten Satz der amerikanis­chen Unabhängigkeit­serklärung, wonach alle Menschen gleich geschaffen sind und die gleichen unveräußerlichen Rechte haben. In der Weimarer Zeit beriefen sich sehr un­ter­schiedliche Rechts­denker auf das Naturrecht. Carl Schmitt spitzte die Problematik der Rechts­gel­tung auf die Frage zu: Wer entscheidet im äußersten Fall über die Rechts­gel­tung? Seine Antwort: der Souverän. Das wäre im demokratis­chen Rechtsstaat das Volk bzw. das Parlament. Dass Carl Schmitt mit dem „Souverän“ auch den „Führer“ gemeint haben könnte, wurde ihm vielfach unterstellt. Jedenfalls hat Schmitt her­aus­gear­beitet, dass die Anwendung und Geltung des Rechts letztlich eine politische Entschei­dung ist. Dagegen beharrte der Recht­spro­fes­sor und zeitweilige Re­ich­sjus­tizmin­is­ter Gustav Radbruch (Geset­zliches Unrecht und überge­set­zliches Recht, 1946) auf der Geltung überge­set­zlichen Rechts, indem er es an die Gerechtigkeit­sidee koppelte. Diese Ide­alvorstel­lung versuchte er in wenige konkrete und allgemeingültige Begriffe zu fassen. Dazu zählen Gleichheit (Willkürverbot), Rechtssicher­heit und Zweckmäßigkeit. Egal, welchem Ansatz man folgt: Die eigentliche Gerechtigkeits­frage scheint nicht allein juristisch lösbar.

Entstehung

Anfang der 1950er Jahre befand sich Friedrich Dürrenmatt, mit­tler­weile Vater von drei Kindern, in fi­nanziellen Schwierigkeiten. Er wollte als freier Schrift­steller leben, hatte aber ernsthafte Probleme, auf diese Weise seine Familie zu ernähren. Als er für deutsche Ra­dioanstal­ten Hörspiele zu schreiben begann, besserte sich die Situation. 1950 erhielt er von der Wochen­zeitschrift Der Schweiz­erische Beobachter das Angebot, einen Fort­set­zungsro­man zu veröffentlichen. Dürrenmatt nahm dankend an und schrieb zunächst den Krimi Der Richter und sein Henker, sein bis heute weltweit bekan­ntestes Buch. Vorbilder für den Kommissär Bärlach waren George Simenons Maigret und die Antihelden amerikanis­cher Autoren wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett. Außerdem ähnelt Bärlach dem bärbeißigen, unentwegt Brissago rauchenden Wacht­meis­ter Studer aus den Krimis des Schweizer Autors Friedrich Glauser.

Die Verbindung des ver­meintlich trivialen Genres mit philosophis­chen Ein­sprengseln fand große Resonanz, also ließen Zeitschrift und Autor eine Fortsetzung folgen: Der Verdacht. Dieser zweite Krim­i­nal­ro­man schließt mit der gleichen Hauptfigur unmittelbar an Der Richter und sein Henker an. Dürrenmatt schrieb unter großem Zeitdruck: Einige Abschnitte stellte er erst kurz vor dem geplanten Pub­lika­tions­da­tum fertig. Der Verdacht erschien 1951/52 im Beobachter, 1953 in Buchform.

Wirkungs­geschichte

Die Reaktion auf Der Verdacht war nicht ganz so überschwänglich wie jene auf Der Richter und sein Henker, der Dürrenmatts Durchbruch als Schrift­steller markiert hatte und ihm im Lauf der Zeit ein Mil­lio­nen­vermögen einbrachte. Manche Kritiker monierten, der zweite Roman sei hastig geschrieben – was stimmt –, symbolisch überfrachtet, kurz: handw­erk­lich nicht geglückt. Dem wider­spricht der große Pub­likum­ser­folg, der das Buch trotz einiger of­fenkundi­ger Schwächen war. Zusammen mit seinem Vorgänger und dem Roman Das Versprechen bildet es eine Krim­i­nal­ro­man-Trilo­gie, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreut – nicht zuletzt als Schullektüre.

Über den Autor

Friedrich Dürrenmatt wird am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Schweizer Kanton Bern geboren. Sein Vater ist protes­tantis­cher Pfarrer. In Bern besucht Dürrenmatt das Freie Gymnasium und das Hum­bold­tianum, 1941 legt er die Matura ab. Er ist bestenfalls ein mittelmäßiger Schüler und bezeichnet die Schulzeit später als die übelste Phase seines Lebens. In Bern und Zürich studiert er Philosophie, Literatur- und Natur­wis­senschaften. Seinen eigenen bi­ografis­chen Schriften zufolge führt er das Leben eines verkrachten Studenten. 1946 zieht er nach Basel, ein Jahr später heiratet er die Schaus­pielerin Lotti Geissler, mit der er insgesamt drei Kinder hat. 1947 wird sein erstes Theaterstück Es steht geschrieben uraufgeführt. Aus Geldnot verfasst Dürrenmatt Anfang der 50er Jahre seinen wohl bis heute bekan­ntesten Krim­i­nal­ro­man Der Richter und sein Henker (1950/51), es folgen Der Verdacht (1951/52) und Das Versprechen (1958). Die Theaterstücke Die Ehe des Herrn Mississippi (1952) und Ein Engel kommt nach Babylon (1953) machen ihn einem breiten Publikum bekannt, die Dramen Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1962) begründen seinen Weltruhm. Ab 1952 lebt der Schrift­steller in einem eigenen Haus bei Neuchâtel. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet Dürrenmatt 1984 die Schaus­pielerin und Filmemacherin Charlotte Kerr. Wechselvoll ist sein Verhältnis zur zweiten großen Figur der Schweizer Literatur des 20. Jahrhun­derts, Max Frisch. Die anfängliche Fre­und­schaft schlägt in gegen­seit­iges Ressen­ti­ment um, das auf persönlicher Antipathie und lit­er­arischen Differenzen beruht. Dürrenmatt erhält im Lauf seines Lebens zahlreiche Ausze­ich­nun­gen, u. a. den Georg-Büchner-Preis. Sein lit­er­arisches Werk ist äußerst vielfältig: Neben Theaterstücken und Romanen umfasst es Hörspiele, Essays, Erzählungen, Vorträge sowie au­to­bi­ografis­che, literatur- und the­aterthe­o­retis­che Schriften. Daneben arbeitet Dürrenmatt zeitweise als Regisseur und ständig als Maler und Zeichner. Er stirbt am 14. Dezember 1990 in Neuchâtel an einem Herzinfarkt.