Die Idee der Phänomenologie

Buch Die Idee der Phänomenologie

Fünf Vorlesungen

Den Haag, 1947
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Zu den Sachen selbst

„Die Gedanken stehen etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren.“ So formulierte der Natur­wis­senschaftler Carl Vogt Mitte des 19. Jahrhun­derts eine wis­senschaftliche Einstellung, die man heute als Vulgärma­te­ri­al­is­mus bezeichnet: Psychische Vorgänge seien immer auf organische Ursachen zurückzuführen. Dieser Position widersprach gut ein halbes Jahrhundert später Edmund Husserl. Auch er war ursprünglich Natur­wis­senschaftler, entdeckte dann aber seine philosophis­che Seite und startete zu Beginn des 20. Jahrhun­derts sein Projekt, die Philosophie neu zu beleben und ihr einen eigenen Rang zuzuerken­nen, ohne sie an den Maßstäben der Natur­wis­senschaften auszurichten. Für Husserl sind math­e­ma­tis­che, biologische oder physikalis­che Sätze nur Annahmen, die die wirklichen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen verwischen. Den Sachen selbst, den Phänomenen, könne man nur über eine philosophis­che Wesensschau auf die Spur kommen, die alles, was von der Essenz der Dinge ablenke, in Klammern setze. In den fünf Vorlesungen der Idee der Phänomenologie legt Husserl erstmals dar, wie diese Ausklam­merung (er nennt sie „phänom­e­nol­o­gis­che Reduktion“) konkret funk­tion­iert. Ein wichtiger Grund­la­gen­text der Phänomenologie.

Take-aways

  • Die Idee der Phänomenologie gehört zu den wichtigsten Grund­la­gen­tex­ten der Erken­nt­nis­philoso­phie.
  • Inhalt: Die Natur­wis­senschaften verlassen sich unkritisch auf ihre Erken­nt­nisse. Man muss ihnen als Erken­nt­niskri­tik die phänom­e­nol­o­gis­che Methode ent­ge­gen­stellen. Zu den Dingen selbst kann man nur gelangen, wenn man sie von allen Vorbe­din­gun­gen und Nebenbe­deu­tun­gen reinigt und dadurch ihren wahren Kern erkennt. Phänom­e­nol­o­gis­che Wesensschau zeigt die Dinge, wie sie wirklich sind. Man kann sich z. B. die Farbe Rot an sich vorstellen, indem man alle As­sozi­a­tio­nen dazu ausklammert.
  • Im Kern handelt es sich bei der Phänomenologie um eine neue Form der Erken­nt­nis­the­o­rie, die danach fragt, was der Mensch von der Welt wissen kann.
  • Vom Psy­chol­o­gisieren hält Husserl wenig: Nicht der menschliche Geist, sondern dessen Verhältnis zu den Gegenständen der Welt steht im Vordergrund.
  • Das Buch besteht aus den Skripten einer fünfteiligen Vor­lesungsreihe, die Husserl im Frühjahr 1907 an der Universität Göttingen hielt.
  • Der Gedanke der phänom­e­nol­o­gis­chen Reduktion wird hier erstmals ausgeführt.
  • Die Texte wurden zum Grundstein von Husserls weiterer Forschung
  • Sie wurden erst 1947, nach Husserls Tod, veröffentlicht.
  • Die Phänomenologie bee­in­flusste Philosophen wie Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre.
  • Zitat: „Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänom­e­nol­o­gis­che Reduktion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit, die nichts von Tran­szen­denz mehr bietet.“
 

Zusammenfassung

Natürliche und philosophis­che Wis­senschaft

Die natürliche und die philosophis­che Wis­senschaft entstammen un­ter­schiedlichen Geis­te­shal­tun­gen. Mit der natürlichen Geis­te­shal­tung betrachtet man die Objekte in der un­mit­tel­baren Umgebung ganz unbekümmert. Man ver­schwen­det keinen Gedanken an Erken­nt­niskri­tik. Alles hat man unmittelbar vor Augen und es vermischt sich zuweilen mit den eigenen Erin­nerun­gen. Die Urteile über die Sachen sind entsprechend natürlich. Man macht allgemeine Aussagen über die Dinge und ihre Beziehungen, man gen­er­al­isiert und legt sich ein logisches Konzept vom Zusam­men­spiel der einzelnen Er­schei­n­un­gen zurecht. Diese Erken­nt­nisse können sich im Nachhinein als Trugschlüsse her­ausstellen. So kann eine gesicherte Erkenntnis eine zuvor bloß angenommene ausstechen, z. B. wenn man sich verrechnet oder verzählt hat und seine Meinung revidieren muss. Mit den Urteilen verändern sich auch die Wis­senschaften: Langsam und stetig vermehren sie ihre Erken­nt­nisse, gehen fehl, werden korrigiert, gehen wieder fehl usw.

„In der natürlichen Geis­te­shal­tung sind wir anschauend und denkend den Sachen zugewandt, die uns jeweils gegeben sind (...)“ (S. 17)

Was bei der natürlichen Denkhaltung einfach hingenommen wird – nämlich die Erkenntnis –, wird bei der philosophis­chen Denkhaltung zum Problem. Die Erkenntnismöglichkeit wird zum Mysterium und un­durch­schaubaren Rätsel.

Die Rolle der Erken­nt­niskri­tik

Erkenntnis ist immer die Erkenntnis von etwas. Sie ist nie für sich selbst, sondern bezieht sich stets auf gewisse Gegenstände. Wie aber kann man sicher sein, dass die Gegenstände und ihre Erkenntnis deck­ungs­gle­ich sind? Die Frage nach der Erkenntnismöglichkeit steht plötzlich im Raum und wirft immer weitere Fragen auf. Existiert überhaupt, was man mittels seiner Erkenntnis zu erkennen glaubt? Oder ist vielleicht der Akt der Erkenntnis, das Erlebnis der Erkenntnis, schon alles, und die erkannten Objekte sind gar nicht so, wie man sie erkennt? Erkennen wäre dann ein ebenso subjektives Erlebnis wie Erinnern oder Erwarten. Zieht man die biologische Wis­senschaft zurate, so erscheinen der Mensch und sein Intellekt als zufällige Ereignisse, die auch anders sein könnten und sich vermutlich zu etwas anderem entwickeln werden. Ihr zufolge wäre die menschliche Erkenntnis an den Intellekt gebunden und der Mensch wäre gar nicht fähig, die wahre Natur der Dinge zu erkennen.

„An­der­er­seits ist Erkenntnis ihrem Wesen nach Erkenntnis von Gegenständlichkeit, und sie ist es durch den ihr immanenten Sinn, mit dem sie sich auf Gegenständlichkeit bezieht.“ (S. 19)

Hält sich der Mensch an die natürlichen Wis­senschaften, ist alles klar und deutlich, beweisbar und objektiv. Fängt er an, tiefer nachzu­denken, wird es verworren und ambivalent. Der Widersinn beherrscht das Feld der Erken­nt­nis­the­o­rie oder – wie man es auch nennen kann – die Kritik der the­o­retis­chen Vernunft. Die Erken­nt­nis­the­o­rie muss eine kritische sein, denn sie muss hin­ter­fra­gen, was der Mensch überhaupt wissen und erkennen kann. Durch sie un­ter­schei­det sich die Philosophie von den natürlichen Wis­senschaften.

Philosophie ist Phänomenologie

Die Erken­nt­niskri­tik ist das Fundament der Philosophie. Sie versucht, das Wesen der Erkenntnis aufzuklären, und ist deshalb eine Phänomenologie der Erkenntnis. Phänomenologie aber ist sowohl eine Wis­senschaft wie auch eine besondere philosophis­che Denkhaltung und Methode. Die Philosophie hat sich vor langer Zeit die Vorge­hensweise der anderen Wis­senschaften zu eigen gemacht; sie ging davon aus, dass alle Wis­senschaften ein und dieselbe Erken­nt­nis­meth­ode benutzen müssten. Vor allem die so genannten exakten Wis­senschaften, wie die Mathematik, waren der Philosophie seit dem 17. Jahrhundert ein Vorbild.

„Die Möglichkeit der Erkenntnis wird überall zum Rätsel.“ (S. 21)

In jüngster Zeit jedoch wird Kritik an dieser Vorge­hensweise laut. Es wird zu Recht von Vorurteilen gesprochen. Natürliche Wis­senschaften können sich aufeinander beziehen und berufen – die Philosophie kann dies nicht. Sie handelt von völlig anderen Dingen und bezieht sich auf ganz andere Dimensionen als die natürlichen Wis­senschaften. Die Philosophie benötigt darum eine neue Methode, sie darf von den Ergebnissen und der Denkhaltung der natürlichen Wis­senschaften keinen Gebrauch machen.

Der karte­sian­is­che Zweifel

Erken­nt­niskri­tik bedeutet, das ganze Sein mit einem Frageze­ichen zu versehen, es also als fraglich zu markieren. Der Zweifel gehört zur Erken­nt­niskri­tik, sogar der Zweifel an deren eigenen Be­haup­tun­gen. Sie darf nichts als gegeben hinnehmen. Da stellt sich wie von selbst die Frage, womit die Erken­nt­niskri­tik eigentlich anfangen soll. Denn wo nichts erkannt werden darf, kann es eine Wis­senschaft des Erkennens gar nicht geben. Hilfreich ist bei diesem Dilemma der karte­sian­is­che Zweifel, also der von René Descartes formulierte Zustand des Geistes, der an allem zweifelt, aber dann feststellt, dass er selbst, der zweifelnde Geist, auf jeden Fall existieren muss – sonst würde das Zweifeln ja gar nicht stattfinden. Wann immer ein Mensch denkt, wahrnimmt und urteilt, muss für seinen Geist zumindest dieses Denken, Wahrnehmen und Urteilen gewiss sein. Was immer ein Geist tut, er verfügt über eine innere Wahrnehmung seiner „Cogitatio“, d. h. er kann die Aktivitäten seines Denkens zum Objekt seiner Betrachtung machen.

Tran­szen­denz und Immanenz

Ein weiteres Problem für die Erken­nt­niskri­tik ist der Widerspruch von Tran­szen­denz und Immanenz. Die Erken­nt­niskri­tik muss ja etwas über Dinge her­aus­finden, die in ihr selbst nicht vorhanden (immanent) sind, sondern außerhalb (tran­szen­dent) ihres Seins liegen. Tran­szen­dente Wahrheiten zu beweisen ist schwer. Die natürlichen, objektiven Wis­senschaften können nichts dazu beitragen, weil sie zwar Fakten über die tran­szen­dente Welt sammeln, sie aber niemals wirklich schauen können. So geht es der Wis­senschaft wie einem taub geborenen Menschen, der zwar alles über Musik, ihre Möglichkeiten, Harmonien und Effekte als Fak­ten­wis­sen sammeln kann, aber niemals wirklich verstehen oder sich vorstellen kann, was Musik ist.

Die phänom­e­nol­o­gis­che Reduktion

Wie kann die Erken­nt­niskri­tik mit der Tran­szen­denz umgehen? Am besten wäre es für sie, wenn es die Tran­szen­denz gar nicht gäbe, denn letztlich kann sie auch von der Erken­nt­niskri­tik nicht erkannt werden. Die Erken­nt­niskri­tik behilft sich damit, dass sie alles Tran­szen­dente ausblendet. Nur so gelingt die Un­ter­schei­dung zwischen dem reinen Phänomen, also dem Gedachten und Erfahrenen, und dem psy­chol­o­gis­chen Phänomen des Denkens selbst. Der Zustand des Denkens, die „Cogitatio“, ist ein Faktum, das hingenommen werden muss. Es ist der Forschungs­ge­gen­stand der psy­chol­o­gis­chen Wis­senschaft. In der Phänomenologie ist dies aber nicht von Interesse. Das Ich und sein Erleben von Phänomenen muss aus der Erken­nt­niskri­tik aus­geklam­mert werden. Dieser Vorgang des Ausklam­merns wird als phänom­e­nol­o­gis­che Reduktion bezeichnet.

„Phänomenologie bezeichnet (...) zugleich und vor allem eine Methode und Denkhaltung: die spezifisch philosophis­che Denkhaltung, die spezifisch philosophis­che Methode.“ (S. 23)

Ziel dieser Reduktion ist es, eine „absolute Gegebenheit“, das reine Phänomen, zu erlangen. Das erlebte Phänomen muss also von jeder Tran­szen­denz befreit werden, sogar vom Akt des Erlebens selbst. Aus dem Gemenge von Phänomen und Tran­szen­denz schält sich mittels der phänom­e­nol­o­gis­chen Reduktion das reine Phänomen heraus. Und dieses Phänomen gilt es zum Un­ter­suchungs­ge­gen­stand einer neuen Wis­senschaft zu machen: der Phänomenologie. Damit haben wir die Sphäre der Psychologie verlassen und können uns fortan nur um die Phänomene selbst kümmern.

Phänomenologie als reine Wesensschau

Die Phänomenologie als Wis­senschaft stößt auf mancherlei Probleme. Wis­senschaften operieren gewöhnlich mit objektiven Daten. Aber Objektivität würde bedeuten, dass wieder Tran­szen­denz in die Beobach­tun­gen des Wis­senschaftlers einfließt, und genau das gilt es ja zu vermeiden. Es scheint darum, als sei die Phänomenologie notwendi­ger­weise immer eine subjektive Wis­senschaft. Man kann zu einem Phänomen sagen, während man es schaut: „Da ist es.“ Aber eine objektiv gültige Aussage kann man daraus nicht ableiten. Die Phänomenologie ist eine Wesensschau, die nur im reinen Schauen die Gegebenheit von Phänomenen betrachtet. Mehr kann und will sie nicht. Wis­senschaftliche Erken­nt­nisse, math­e­ma­tis­che Formeln, Ideen von Gott und Welt: All das spielt keine Rolle für die Phänomenologie. Der Begriff „Apriori“ ist darum eine treffende Um­schrei­bung für die phänom­e­nol­o­gis­che Wesensschau.

Das Wesen des Allgemeinen

Die phänom­e­nol­o­gis­che We­sens­forschung ist immer gen­er­al­is­tisch, sie zielt aufs Allgemeine. Es geht ihr nicht um in­di­vidu­elle Erlebnisse einzelner Personen. Vielmehr kommt es auf die generellen Gegeben­heiten an, auf denen die Erkenntnis beruht. Die Frage ist aber, ob das Allgemeine überhaupt von der Phänomenologie erkannt werden kann, ob es überhaupt „selbst gegeben“ und nur für sich existiert, also ohne tran­szen­den­tale Elemente, ohne Verweise und ohne Horizont. Dergestalt, dass man schauend sagen kann: „Da ist es, so ist es.“ Die Antwort lautet: Ja, es ist möglich. Man kann eine Anschauung von etwas Allgemeinem haben, das den An­forderun­gen der Phänomenologie entspricht. So kann man sich etwa die Farbe Rot vorstellen. Die Anschauung streicht im Verlauf der phänom­e­nol­o­gis­chen Reduktion jeden Nebenbezug der Farbe Rot, z. B. bestimmte Gegenstände, die von dieser Farbe sind. Es ist ja nicht dieses oder jenes Rot gemeint, sondern nur die Farbe Rot an sich. In reiner Anschauung kann man sich so tatsächlich ein Bild vom Wesen der Farbe Rot machen.

„Die Philosophie aber liegt in einer völlig neuen Dimension. Sie bedarf völlig neuer Aus­gangspunkte und einer völlig neuen Methode, die sie von jeder ,natürlichen‘ Wis­senschaft prinzipiell un­ter­schei­det.“ (S. 24)

Die Phänomenologie ist dort zu Ende, wo die ob­jek­tivieren­den Wis­senschaften beginnen. Sie schaut, sie klärt auf, sie un­ter­schei­det und bestimmt den Sinn von Phänomenen. Sie ist aber keine deduktive Wis­senschaft und verwendet keine the­o­retis­chen und math­e­ma­tis­chen Konzepte, sondern ist reines Schauen. Was sie schaut, sind selbst gegebene Phänomene. Sie sind „evident“, weil sie auf nichts anderes zurückzuführen sind als auf sich selbst. Diese Selb­st­gegeben­heit ist eine letzte Instanz, sie ist absolut. Man kann natürlich leugnen, dass es so etwas überhaupt gibt. Das würde aber gle­ichzeitig bedeuten, dass man alle letzten Normen leugnet – und dann bräuchte man mit der Philosophie und der Phänomenologie gar nicht erst anzufangen.

Spezielle Probleme

Die Phänomenologie hat schon viel erreicht. Es gelingt ihr, reine Phänomene zu schauen und diese auch noch zu etwas Allgemeinem zu erheben. Von der Wahrnehmung der Farbe Rot gelangt man durch phänom­e­nol­o­gis­che Reduktion zur Anschauung des Wesens der Farbe. Nun muss man die phänom­e­nol­o­gis­che Betrachtung aber noch um den Zeitfaktor ergänzen. Schließlich können Menschen sich auch erinnern und damit etwas Selb­st­gegebenes in ihrer Fantasie her­auf­beschwören. Spielt das für die Wesensschau noch eine Rolle, oder ist nur die un­mit­tel­bare Anschauung relevant? Die Antwort muss lauten: Das Wesen eines bestimmten Gegenstands lässt sich sowohl unmittelbar in der phänom­e­nol­o­gis­chen Schau als auch in einer Fan­tasiebe­tra­ch­tung erkennen. Im einen Fall handelt es sich um eine einzelne Wahrnehmung, im anderen um eine Fan­tasiev­erge­genwärtigung, die ein bereits er­schlossenes Wesen wachruft.

„Erst durch eine Reduktion, die wir auch schon phänom­e­nol­o­gis­che Reduktion nennen wollen, gewinne ich eine absolute Gegebenheit, die nichts von Tran­szen­denz mehr bietet.“ (S. 44)

Allerdings muss man zwischen dem fan­tasierten Gegenstand und dem Akt des Fan­tasierens un­ter­schei­den. Das Fantasieren ist ein aktiver Denkakt, der vorgestellte Gegenstand aber ist nicht gegenwärtig, da er ja nicht in diesem Moment erlebt, sondern nur vorgestellt wird. Dennoch ist ein Bild des Gegenstands vorhanden. Er ist da und doch nicht da, bloße Erinnerung, aber dennoch das Wesen abbildend. Der fantasierte Gegenstand ist nicht existent, sein Wesen kann aber geschaut werden. Daher kann sein Wesen beurteilt werden, auch wenn seine Existenz verneint werden muss. Existenz und Essenz sind zwei ver­schiedene Arten der Gegebenheit.

„Jedem psychischen Erlebnis entspricht also auf dem Wege phänom­e­nol­o­gis­cher Reduktion ein reines Phänomen, das sein immanentes Wesen (...) als absolute Gegebenheit her­ausstellt.“ (S. 45)

Die Phänomenologie hat noch mit weiteren Problemen zu kämpfen. Wie soll man mit reinen Fiktionen, z. B. Fabeltieren, oder mit sym­bol­is­chem Denken, etwa in Form einer Rechenauf­gabe, umgehen? Alles, was wir denken können, hat eine gewisse Evidenz und kann als gegeben angesehen werden, das gilt auch für völlig absurde Dinge, beispiel­sweise ein rundes Viereck. Zu den zukünftigen Aufgaben der Phänomenologie gehört es, die ver­schiede­nen Arten der Gegebenheit zu un­ter­schei­den und zu erforschen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Idee der Phänomenologie besteht aus den Skripten von fünf aufeinander aufbauenden Vorlesungen. Husserl geht von einfachen Prämissen aus und entwickelt daraus einen neuen wis­senschaftlichen Ansatz. Der Schwierigkeits­grad der Texte steigt kon­tinuier­lich an: Der erste ist noch relativ leicht lesbar, die weiteren sind zunehmend kompliziert. Husserl versucht dem ent­ge­gen­zuwirken, indem er sich häufig wiederholt und dem Bild seiner Phänomenologie immer weitere Facetten hinzufügt. Bisweilen verwendet er griechische und lateinische Fach­be­griffe der Philosophie und ergeht sich in langen Ar­gu­men­ta­tion­ssträngen, während er an anderer Stelle geradezu all­t­agssprach­lich formuliert. Weil er sich der Unübersichtlichkeit seiner Vorlesungen wohl bewusst war, fügte er noch einen Text hinzu, den er mit „Gedanken­gang der Vorlesungen“ überschrieb. In dieser Zusam­men­fas­sung sagt er im Grunde mehr oder weniger das Gleiche wie in den Vorlesungen, nur dass er hier erheblich pointierter formuliert und auch den einen oder anderen Gedanken in neue, einfachere Worte fasst. „Nicht ganz aus­gear­beitet, aber doch lesenswert“, war Husserls eigenes Fazit über diese Texte.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Husserl wollte mit seinen philosophis­chen Werken den zu seiner Zeit mächtigen Psy­chol­o­gis­mus und Sub­jek­tivis­mus zurückdrängen. Der Psy­chol­o­gis­mus reduziert Logik und Erken­nt­nis­the­o­rie auf die Gesetze der Psychologie. Sub­jek­t­philoso­phie stellt das denkende und wahrnehmende Subjekt in den Mittelpunkt, nicht aber das objektive Sein.
  • Husserl will mit seiner Phänomenologie eine neue Leitwissenschaft begründen. Daher ist es konsequent, dass er sich gegen die Natur­wis­senschaften wendet und auch einer natur­wis­senschaftlich ori­en­tierten Philosophie den Rücken kehrt. Im Kern versucht er eine neue Erken­nt­nis­the­o­rie zu geben.
  • Den Natur­wis­senschaften wird vorgeworfen, von unerlaubten Vorbe­din­gun­gen auszugehen. Sie seien gewissermaßen von der Tran­szen­denz „verschmutzt“, also von Einflüssen, die von der wis­senschaftlichen Methode selbst gar nicht erfasst werden könnten. Husserls Phänomenologie will alle Tran­szen­denz abstreifen und damit zu den Sachen selbst gelangen.
  • Husserl will dies mit der Methode der phänom­e­nol­o­gis­chen Reduktion be­w­erk­stel­li­gen. Wie beim Häuten einer Zwiebel, werden die äußeren Schichten, z. B. Sub­jek­t­beziehun­gen, Traditionen oder wis­senschaftliche Erken­nt­nisse, von einem Gegenstand abgeschält, bis dessen wahres Wesen sozusagen nackt vor dem Betrachter liegt.
  • Kritiker der Phänomenologie wie z. B. Karl Popper bestreiten, dass die von Husserl angestrebte Seins­be­tra­ch­tung überhaupt möglich ist. Reine Be­tra­ch­tun­gen könne es nicht geben, weil sie immer mit Intentionen und Theorien durchsetzt seien, die das Ergebnis verfälschten – auch wenn die Phänomenologie behauptet, all das außen vor zu lassen.
  • Heute wird die Phänomenologie von manchen als gescheit­ertes Projekt betrachtet, indem ihr die Erken­nt­nisse der Psychologie, Biologie und Hirn­forschung ent­ge­genge­hal­ten werden. Es ist aber wohl davon auszugehen, dass die Natur­wis­senschaftsgläubigkeit unserer Zeit auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist und irgendwann wieder eine Gegen­be­we­gung auf den Plan rufen wird.

His­torischer Hintergrund

Ma­te­ri­al­is­mus vs. Idealismus

Eines der großen Probleme der Philosophie ist seit jeher die Opposition von Geist und Materie. Bereits der französische Philosoph René Descartes postulierte im 17. Jahrhundert einen Dualismus von Geist und Körper. Die auf ihn folgenden Ma­te­ri­al­is­ten lehnten diese Un­ter­schei­dung ab. Einer der radikalsten Vertreter dieser Philosophie war Julien Offray de La Mettrie. Er behauptete, der Mensch sei nichts weiter als eine Maschine, die zwar hochkomplex, aber eben doch nur den Gesetzen der Mechanik folgend aufgebaut sei. Andere Ma­te­ri­al­is­ten ver­schmolzen in ihrer Lehre Geist und Materie dergestalt, dass schließlich nur die Materie übrig blieb, die allerdings auch die Fähigkeit des Empfindens und Denkens haben sollte.

In Deutschland wurde die andere Seite des karte­sian­is­chen Dualismus stärker betont: Den deutschen Idealisten zufolge herrscht der Geist über den Körper. Darauf gab es im 19. Jahrhundert eine Gegen­be­we­gung, die aufgrund der raschen wis­senschaftlichen Fortschritte in der Chemie und der Evo­lu­tions­bi­olo­gie vorpreschte, um dem Ma­te­ri­al­is­mus das Wort zu reden. Die mech­a­nis­chen Ma­te­ri­al­is­ten, die von ihren Gegnern als „Vulgärma­te­ri­al­is­ten“ bezeichnet wurden, behaupteten, dass die Bewegungen des Geistes und all die Dinge, die von der damals neuen Psychologie erforscht wurden, lediglich körperliche Funktionen seien. Von Carl Vogt, einem der ein­flussre­ich­sten Vertreter dieser Lehre, stammt die Aussage, dass das Psychische eine Art Körpersekret wie die Galle oder der Urin sei. Husserl wiederum lehnte diese Theorie als Au­gen­wis­cherei ab. Mit seiner Phänomenologie richtete er sich gegen den erken­nt­nis­the­o­retisch naiven und un­kri­tis­chen Umgang mit der Psychologie und der Natur­wis­senschaft.

Entstehung

Die Idee der Phänomenologie steht am Anfang der phänom­e­nol­o­gis­chen Theorie Husserls. Zwar hatte er mit seinen 1901 veröffentlichten Logischen Un­ter­suchun­gen schon Aufsehen erregt, doch kam es ihm vor, als hätte er noch nicht einmal die wichtigsten Grundlagen seiner Philosophie gelegt. Die Nachricht, dass die Universität Göttingen ihn entgegen dem Vorschlag des Un­ter­richtsmin­is­teri­ums nicht zum Ordinarius für Philosophie machen wollte, versetzte ihm einen zusätzlichen Tiefschlag. In seinen Notizbüchern findet sich der Eintrag: „Ohne in allgemeinen Zügen mir über Sinn, Wesen, Methode, Haupt­gesicht­spunkte einer Kritik der Vernunft ins Klare zu kommen, ohne einen allgemeinen Entwurf für sie ausgedacht, entworfen, fest­gestellt und begründet zu haben, kann ich wahr und wahrhaftig nicht leben.“

Die fünf Vorlesungen hielt Husserl zu Beginn des Som­merse­mes­ters 1907 an der Universität Göttingen. Sie waren als Einleitung für die Hauptvor­lesung Hauptstücke aus der Phänomenologie und Kritik der Vernunft gedacht. Erst 1947 wurden die Vorlesungen auf Anregung des Direktors des Husserl-Archivs unter dem Titel Die Idee der Phänomenologie veröffentlicht.

Wirkungs­geschichte

Die direkte Wirkung der fünf Vorlesungen lässt sich heute nur schwer ermitteln. Husserls Schüler an der Universität waren of­fen­sichtlich nicht sonderlich erbaut von den neuen Gedanken, die ihr Professor in die Philosophie einführte. Husserl selbst kon­sta­tierte Anfang März 1908 in seinen Aufze­ich­nun­gen: „Das war ein neuer Anfang, leider von meinen Schülern nicht so verstanden und aufgenommen, wie ich es erhofft. Die Schwierigkeiten waren auch allzu groß und konnten im ersten Anhieb nicht überwunden werden.“ Für Husserls weiteres Werk und die Phänomenologie überhaupt waren die Vorlesungen hingegen sehr wichtig, schließlich entwickelte er in ihnen das Konzept der phänom­e­nol­o­gis­chen Reduktion. In weiteren Vorlesungen bis 1915 kam er immer wieder auf diese Grundlagen zurück. 1913 begründete Husserl das Jahrbuch für Philosophie und phänom­e­nol­o­gis­che Forschung – das passende Medium für die inzwischen zahlreichen deutschen Phänomenologen. Zu ihnen gehörten u. a. Martin Heidegger und Max Scheler. Auch in Frankreich fanden sich Anhänger der Phänomenologie, z. B. Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty und Paul Ricœur.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gründeten in die USA emigrierte Husserl-Schüler die Zeitschrift Philosophy and Phe­nom­e­no­log­i­cal Research. Husserls Lehre bee­in­flusste u. a. die amerikanis­chen Philosophen Aron Gurwitsch und Alfred Schütz. Letzterer verquickte die Phänomenologie Husserls und das Werk Max Webers zu einer phänom­e­nol­o­gis­chen Soziologie. Nach dem Krieg erlebte die Phänomenologie auch in Deutschland eine Wiederge­burt. 1969 wurde in München die Deutsche Gesellschaft für phänom­e­nol­o­gis­che Forschung gegründet, die seitdem dazu beiträgt, Husserls Philosophie fortzuführen und zu erweitern.

Über den Autor

Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, wird am 8. April 1859 in Proßnitz (Mähren, heute Tschechis­che Republik) in eine jüdische Familie geboren. Er studiert in Leipzig, Berlin und Wien Astronomie, Mathematik, Physik und Philosophie. 1886 geht Husserl nach Halle, wo er an der Universität als Pri­vat­dozent lehrt und mit der Arbeit Über den Begriff der Zahl (1887) habilitiert. Kurz vor der Hochzeit mit seiner Verlobten Malvine Stein­schnei­der lässt er sich evangelisch taufen. 1891 erscheint die Philosophie der Arithmetik, in der er die Gültigkeit math­e­ma­tis­cher Wahrheiten unabhängig von der men­schlichen Erkenntnis behauptet. Zehn Jahre später revidiert er seine Meinung in seinem ersten Hauptwerk, den Logischen Un­ter­suchun­gen (1901). Das Buch bringt ihm den Ruf an die Universität Göttingen ein, wo er ab 1901 als außeror­dentlicher und ab 1906 als or­dentlicher Professor lehrt. Dort entsteht Husserls eigene phänom­e­nol­o­gis­che Schule, die zahlreiche Studenten anzieht. In seinem ein­flussre­ich­sten Werk, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänom­e­nol­o­gis­chen Philosophie (1913), formuliert er die Aufgabe der Phänomenologie, die Sachen so zu beschreiben, wie sie sich dem men­schlichen Geist darstellten – unabhängig davon, ob die Sachen selbst überhaupt existierten. „Zu den Sachen selbst“ ist ein berühmt gewordener Ausspruch Husserls. Seine Ideen fallen auf fruchtbaren Boden, sodass er 1916 einen Ruf an die Universität von Freiburg erhält. Seine erste Assistentin ist Edith Stein, ihr Nachfolger Martin Heidegger, der seine eigenen Forschungen auf Husserls Erken­nt­nis­sen aufbauen wird. Nach der Machtübernahme der Na­tion­al­sozial­is­ten wird Husserl zunächst beurlaubt. 1936 entzieht man ihm die Lehrerlaub­nis und vertreibt ihn aus seinem Haus. Ein Angebot der University of Southern California lehnt er ab. Edmund Husserl stirbt am 27. April 1938 in Freiburg.