Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen
Ausschlaggebend für den Aufstieg des Familienunternehmens Reemtsma zum Marktführer der deutschen Zigarettenindustrie vor und während des Zweiten Weltkriegs war die zweite Generation: die drei Brüder Hermann, Philipp und Alwin Reemtsma, familienintern oft nur „Eins“, „Zwei“ und „Drei“ genannt. Der unternehmerisch wichtigste war „Zwei“: Philipp Reemtsma, geboren 1893. Als seine Tante ihn das erste Mal sah, sagte sie: „Der Junge riecht nach Geld!“
„Reemtsma, das war die moderne deutsche Zigarettenindustrie der 20er und 30er Jahre.“
Die Eltern stammten aus der Gegend von Bremen. Die Tabakindustrie war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs handwerklich und mittelständisch geprägt, mit vorwiegend lokalen oder regionalen Absatzmärkten. In diesem Umfeld agierte Bernhard Reemtsma, der Vater der drei. Wegen einer Geschäftserweiterung und der Umstellung von der Zigarren- auf die Zigarettenproduktion zogen die Reemtsmas vor dem Ersten Weltkrieg zunächst in den Harz, dann nach Erfurt. Zu dieser Zeit gab es in Deutschland etwa 1000 Tabakwarenhersteller.
Von Thüringen nach Hamburg
In Thüringen traten die Söhne in das Geschäft ein und sammelten erste Erfahrungen. Der Krieg und die Zeit danach brachten eine Vervielfachung von Produktion und Verkauf: Die Zigarette war in den Schützengräben begehrt, und in der Nachkriegszeit wurde sie ein Emanzipationssymbol der Frauen. Das Problem der Rohstoffbeschaffung musste allerdings gemeistert werden: Der Tabak kam überwiegend aus dem Balkan, aus Griechenland und der Türkei. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde nur „Orient“ geraucht, die Zigarettenform war oval.
„Reemtsma suchte vor allem nach Firmen, die überregional funktionierende Zigarettenmarken besaßen und zudem gut beleumundet waren.“
Nach der Rückkehr der Brüder aus dem Krieg übernahmen vor allem Hermann und Philipp die unternehmerische Leitung. Hermann war für Produktion und Personal, Philipp für Vertrieb und Marketing zuständig. 1919 wurde das Markenzeichen des Hauses, der Bugsteven eines Wikingerschiffes vor roter Sonne, eingetragen. Dessen Grafiker, Wilhelm Deffke, gestaltete auch die ersten Marken und Anzeigen. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte den Beginn der industriellen Fertigung von Zigaretten mit Maschinen. Hierbei konnten nicht alle kleinen Firmen mithalten, und ein Konzentrationsprozess setzte ein. 1922 zog die Firma nach Hamburg um, wo die Produktion wegen des Freihafens kostengünstiger war.
Marktführerschaft
Ab 1920 gewannen die Reemtsmas einige wichtige Geschäftspartner, die zu Mitarbeitern wurden. David Schnur, selbst Inhaber einer Zigarettenfabrik, war ein begnadeter Tabakeinkäufer und -mischer. Mit ihm kam es zu einer Kooperation und wechselseitigen Beteiligungen. In der Nazizeit musste Schnur als Jude unter dramatischen Umständen emigrieren. Hans Domizlaff, Grafiker und Produktgestalter, prägte bis in die 50er Jahre hinein das Markenerscheinungsbild der Firma. Kurt Heldern, selbst Erbe einer kleinen Tabakfirma, stieß Mitte der 20er Jahre zu Reemtsma und wurde überaus erfolgreich als Verkaufsleiter der Firma.
„Gezielt gingen SA-Männer gegen Händler vor, die ‚Konzernware‘ anboten.“
Eine konsequente Markenpolitik, ein hoher Qualitätsstandard und ein als „Frischedienst“ gut organisierter Vertrieb verhalfen Marken wie Senuossi, Ova und Ernte 23 (benannt nach einer besonders reichen Tabakernte des Jahres 1923) zu nationalem Renommee. Beim Tod Bernhard Reemtsmas 1925 hatten die Söhne bereits eine führende Stellung des Unternehmens im Zigarettenmarkt erreicht. Sie logierten großbürgerlich in Hamburg-Altona und knüpften Beziehungen zur Politik, wobei sie demokratische Parteien unterstützten. Eng war der Kontakt zur Deutschen Bank, die das profitable Unternehmen nötigenfalls mit Krediten für weitere Unternehmensakquisitionen versorgte. Strategischer Vordenker und Hauptakteur dieser Expansion war Philipp Reemtsma.
Reemtsma und das Dritte Reich
Bis zur Machtübernahme der Nazis hatte Reemtsma, u. a. durch Verbandstätigkeit und durch ein Kartell mit dem Konkurrenten Haus Neuerburg eine absolut dominierende Stellung erreicht, strebte aber kein Monopol an. Als zäher Konkurrent erwies sich nun die der SA nahestehende Firma Sturm mit Marken wie „Alarm“, „Sturm“ oder „Trommler“. Die Nazis versuchten über Zeitungen, ihre Anhängerschaft auf diese Marken einzuschwören, sie polemisierten gegen „Konzernzigaretten“ und unterstellten Reemtsma eine Zusammenarbeit mit dem „jüdischen Finanzkapital“. Reemtsma war mit seinem gigantischen Werbeetat 1932 der größte deutsche Inserent. Durch Anzeigenentzug konnte das Unternehmen darum diese Blätter empfindlich treffen, wollte aber wiederum möglichst wenige Marktanteile an die Firma Sturm verlieren. Erst nach dem Röhm-Putsch 1934 verlor dieses Problem an Bedeutung.
„Die an den großen Standorten festlich in Szene gesetzten Hochzeiten erregten öffentliches Aufsehen, und überall spielten die Funktionäre des Regimes eine markante Rolle, nicht zuletzt wegen zahlreicher Bräutigame, die auf Wunsch der Firma in SA-Uniform e
Als Marktführer in der Genussmittelindustrie konnte sich Reemtsma nicht vom Regime fernhalten. In der zunehmend gelenkten Wirtschaft der Nazis war die Verstaatlichung eine reale Bedrohung der unternehmerischen Selbstständigkeit. Kaum im Unternehmen, machte der sehr national gesinnte jüngste Bruder Alwin Karriere bei der Wehrmacht, später bei der SS. Philipp Reemtsma trat, wie viele Bürgerliche, einer NSDAP-Unterorganisation bei, dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps NSKK. Es flossen reichlich Spendengelder an Parteiorganisationen, bereits 1933 in Höhe von einer Million Mark. Um das Arbeitslosenproblem in den Griff zu bekommen, beteiligten sich die Reemtsmas an einem Programm, das der großenteils weiblichen Belegschaft den Weg zurück zu Heim und Herd ermöglichen sollte; ihre Arbeitsplätze sollten Männer einnehmen. In verschiedenen Werken wurden Massenhochzeiten veranstaltet. Später, während des Kriegs, als die Männer an der Front gebraucht wurden, wendete sich das Blatt wieder.
„Göring gab an, Spenden für die Förderung eines erstklassigen Wildbestandes, die Forstwirtschaft und die Unterhaltung der Staatstheater zu benötigen. Er wollte dafür nicht weniger als drei Millionen Mark.“
Schon in den 1920er Jahren spielten bei allen größeren Zigarettenfirmen Sammelalben zur Gewinnung und Erhaltung der Markentreue eine herausragende Rolle. Sie waren regelrechte Bestseller, auch bei Reemtsma. Dank guter Beziehungen zu Adolf Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann verfügte Reemtsma über neues Bildmaterial: Während früher die Vogelwelt oder historische Ereignisse dargestellt worden waren, beschäftigte man sich nun mit Inhalten, die der Verherrlichung des Naziregimes dienten.
Spenden für Göring
1933 wurden juristische Untersuchungen gegen Philipp Reemtsma eingeleitet. Die Vorwürfe lauteten auf Beamtenbestechung, Untreue, Meineid und Steuerdelikte. Der Anstoß kam aus dem SA-Umfeld, wurde aber von der Justiz aufgegriffen. Mit diesen Anschuldigungen sollte sich Philipp Reemtsma auch nach dem Krieg wieder konfrontiert sehen; er musste sich dann aus der Inhaftierung heraus dagegen wehren. Letztlich konnte, wie auch später im Zuge seiner Entnazifizierung, kein einziger strafrechtlich relevanter Vorwurf aufrechterhalten werden. 1934 erreichte Philipp Reemtsma durch persönliche Vorsprache bei Hermann Göring eine Niederschlagung des Verfahrens, vor allem im Hinblick auf den Vorwurf der Konzernbildung, die den Nazis ein Dorn im Auge war. Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik war in dieser Phase darauf ausgerichtet, das Vertrauen der Unternehmer zu gewinnen – allerdings z. T. mit seltsamen Mitteln: Görings Preis war eine „Spende“ in Höhe von drei Millionen Mark. Von da an wurden jährlich weiterhin hohe Spendensummen fällig.
Kriegs- und Nachkriegszeit
Bereits durch die Kontakte zur Deutschen Bank war Philipp Reemtsma in verschiedene Aufsichtsgremien eingerückt. An Arisierungen beteiligte sich die Firma nicht. Jüdische Mitarbeiter wurden geschützt. Ab Mitte der 1930er Jahre förderten die Nazis die Konzentration in der Wirtschaft. Reemtsma fusionierte mit Hauptkonkurrent Neuerburg. Der Marktanteil lag bei über 60 %. Philipp Reemtsma führte nun die „Interessengemeinschaft deutscher Zigarettenhersteller“. In der entbehrungsreichen Kriegszeit genoss die Zigarettenindustrie höchste Priorität, der Konsum stieg ständig. Die Reemtsmas kauften sich Landgüter. Hermann Reemtsma hatte als Kunstmäzen eine besonders enge Verbindung zu dem von den Nazis verfemten Künstler Ernst Barlach.
„Die Einheitszigarette war symptomatisch für den Niedergang der deutschen Zigarettenindustrie. Tiefer konnten die Hersteller kaum sinken.“
Während des Kriegs verlor Philipp Reemtsma seine drei Söhne, zwei von ihnen an der Front; der jüngste starb an Kinderlähmung. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau heiratete er erneut, und zwar eine wesentlich jüngere Kusine seiner Exfrau, mit der ihn ein inniges Verhältnis verband. Aus dieser Ehe ging der 1952 geborene Jan Philipp Reemtsma hervor, der Unternehmenserbe.
„Unabhängig von der Anklage gegen Philipp F. Reemtsma betrieben die Besatzungsmächte die Zerlegung der Reemtsma KG. Ihre Handhabe dazu waren die Bestimmungen zur Dekartellisierung mit dem Ziel, die deutsche Wirtschaft neu zu ordnen.“
Die drei Reemtsma-Brüder sahen sich nach dem Krieg langwierigen juristischen Verfahren ausgesetzt. Philipp war monatelang inhaftiert. Wesentliche Produktionsstätten und Tabakbestände waren durch Bomben und Brände zerstört worden. Parallel zu den Gerichtsverfahren begann unter Aufsicht der Besatzungsbehörden der Wiederaufbau der Zigarettenproduktion mithilfe eines Teils der bewährten Führungsmannschaft. Durch die angloamerikanische Besatzung veränderten sich die Geschmacks- und Imagegewohnheiten der Raucher stark. Die Amerikaner drängten etwa auf die Verwendung von Virginiatabak.
Der Neuanfang und das Ende der Selbstständigkeit
Wegen zunehmender Zerwürfnisse mit Hans Domizlaff, die 1955 zur Trennung führten, kam der Neuanfang nur schleppend in Gang. Immerhin gelang es, die Marke Ernte 23 wieder zu etablieren und damit der erfolgreichen HB Paroli zu bieten. Sehr erfolgreich waren Lizenzproduktion und -vertrieb der Marke Peter Stuyvesant, die von dem Südafrikaner Jan Rupert ersonnen worden war. Philipp Reemtsma strebte eine enge Kooperation mit Rupert an, die aber nach seinem Tod 1959 nicht fortgesetzt wurde.
„1958 berührten sich zwei steile Umsatzkurven das erste und letzte Mal: Die Filterlose und die Filterzigarette begegneten sich, Erstere im Abstieg, Letztere in rasantem Aufstieg begriffen.“
18 Monate nach Philipp starb auch Hermann Reemtsma. Nach einem gemäß Philipps Testament von der Deutschen Bank geleiteten Interregnum ohne Beteiligung von Familienmitgliedern verkaufte der damals 28-jährige Erbe Jan Philipp Reemtsma 1980 seinen Anteil von 53 % an die Hamburger Unternehmerfamilie Herz (Tchibo, Beiersdorf) für ca. 400 Millionen D-Mark. Unter der Ägide der Herz-Brüder kam es zu einem weiteren Aufschwung. 2002 verkauften sie die gesamte Firma für sechs Milliarden Euro. Reemtsma ist heute eine Tochter der britischen Imperial Tobacco.
Reemtsma als Mäzen
1996 wurde Jan Philipp Reemtsma Opfer eines spektakulären Entführungsfalls. Erst nach 33 Tagen kam er gegen Zahlung von 30 Millionen Mark Lösegeld wieder frei. Reemtsma betätigt sich vor allem als Mäzen auf literarischem und gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet. Schon als Student unterstützte er den von ihm hoch geschätzten Schriftsteller Arno Schmidt. Später gründete er das Institut für Sozialforschung in Hamburg.
„Die Opposition gegen das Verschweigen von Erblasten aus der Zeit des Nationalsozialismus geriet zu einer zentralen Konstante im Schaffen des Jan Philipp Reemtsma.“
Neben vielen anderen Aktivitäten wurde er als Initiator der vielfach angefeindeten Wehrmachtsausstellung bekannt, in der völkerrechtswidrige Gräueltaten der Wehrmacht belegt werden sollten. Nachweisliche Fehler machten diese Ausstellung zum Debakel. Sie wurde einer gründlichen Revision unterzogen und fand danach allgemeine Anerkennung.