Die Reemtsmas

Buch Die Reemtsmas

Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie

Hoffmann und Campe,


Rezension

Streng chro­nol­o­gisch und detailgenau schildert der Historiker Erik Lindner den Aufstieg der friesischen Familie Reemtsma zu marktführenden Zi­garet­ten­her­stellern. Während der Nazizeit gerieten die demokratisch gesinnten Reemtsma-Brüder in ein prekäres Abhängigkeitsverhältnis zum Regime. Dies und die Bewältigung der NS-Ver­gan­gen­heit nehmen in dem um­fan­gre­ichen Buch viel Raum ein. Lindner stellt das heikle Thema mit ausreichend Dokumenten gestützt und in der Wertung ausgewogen dar. Das geht allerdings ein wenig auf Kosten der An­schaulichkeit und der Lebendigkeit der Per­so­n­en­darstel­lung. Selbst die wichtigsten Mitglieder der Familie bleiben über weite Strecken flach und sch­ablo­nen­haft, von Nebe­nak­teuren ganz zu schweigen. Immerhin zeigt das Buch ex­em­plar­isch die Ver­strick­ung nicht na­tion­al­sozial­is­tisch gesinnter Unternehmer in der NS-Zeit, weshalb BooksInShort das Werk nachdrücklich empfiehlt.

Take-aways

  • Zwei der drei Reemtsma-Brüder machten in den 20er und 30er Jahren aus ihrer ererbten Tabak­man­u­fak­tur das führende Unternehmen der deutschen Zi­garet­tenin­dus­trie.
  • Reemtsma wurde mit dem Grafiker Hans Domizlaff zum er­fol­gre­ichen Pionier in Sachen Marken­bil­dung.
  • Ab Mitte der 20er Jahre sicherte sich das Unternehmen Mark­tan­teile durch gezielten Zukauf kleinerer Firmen.
  • Als Marktführer schmiedete Reemtsma um 1930 ein Zi­garet­tenkartell.
  • Im Dritten Reich arrangierte sich das Unternehmen mit den Machthabern: Das Wohlwollen der Nazis wurde mit hohen „Spenden“ erkauft.
  • Reemtsma profitierte bis zum Kriegsende vom ständig steigenden Zi­garet­tenkon­sum.
  • Nach dem Krieg mussten sich die Reemtsma-Brüder mit Beschuldigun­gen wegen der Naziver­strick­un­gen au­seinan­der­set­zen.
  • Der Wieder­auf­stieg der Firma gestaltete sich als schwierig, gelang aber.
  • Der einzige Fam­i­lienerbe, Jan Philipp Reemtsma, verkaufte seine Anteile 1980 und widmet sich der Literatur, der Sozial­wis­senschaft und dem Mäzenatentum.
  • Heute ist Reemtsma eine Tochter der britischen Imperial Tobacco, die 2002 sechs Milliarden Euro für das einstige Fam­i­lienun­ternehmen bezahlte.
 

Zusammenfassung

Aufstieg aus beschei­de­nen Verhältnissen

Auss­chlaggebend für den Aufstieg des Fam­i­lienun­ternehmens Reemtsma zum Marktführer der deutschen Zi­garet­tenin­dus­trie vor und während des Zweiten Weltkriegs war die zweite Generation: die drei Brüder Hermann, Philipp und Alwin Reemtsma, fam­i­lien­in­tern oft nur „Eins“, „Zwei“ und „Drei“ genannt. Der un­ternehmerisch wichtigste war „Zwei“: Philipp Reemtsma, geboren 1893. Als seine Tante ihn das erste Mal sah, sagte sie: „Der Junge riecht nach Geld!“

„Reemtsma, das war die moderne deutsche Zi­garet­tenin­dus­trie der 20er und 30er Jahre.“

Die Eltern stammten aus der Gegend von Bremen. Die Tabakin­dus­trie war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs handw­erk­lich und mittelständisch geprägt, mit vorwiegend lokalen oder regionalen Absatzmärkten. In diesem Umfeld agierte Bernhard Reemtsma, der Vater der drei. Wegen einer Geschäft­ser­weiterung und der Umstellung von der Zigarren- auf die Zi­garet­ten­pro­duk­tion zogen die Reemtsmas vor dem Ersten Weltkrieg zunächst in den Harz, dann nach Erfurt. Zu dieser Zeit gab es in Deutschland etwa 1000 Tabak­waren­her­steller.

Von Thüringen nach Hamburg

In Thüringen traten die Söhne in das Geschäft ein und sammelten erste Erfahrungen. Der Krieg und die Zeit danach brachten eine Vervielfachung von Produktion und Verkauf: Die Zigarette war in den Schützengräben begehrt, und in der Nachkriegszeit wurde sie ein Emanzi­pa­tion­ssym­bol der Frauen. Das Problem der Rohstoff­beschaf­fung musste allerdings gemeistert werden: Der Tabak kam überwiegend aus dem Balkan, aus Griechen­land und der Türkei. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde nur „Orient“ geraucht, die Zi­garet­ten­form war oval.

„Reemtsma suchte vor allem nach Firmen, die überregional funk­tion­ierende Zi­garet­ten­marken besaßen und zudem gut beleumundet waren.“

Nach der Rückkehr der Brüder aus dem Krieg übernahmen vor allem Hermann und Philipp die un­ternehmerische Leitung. Hermann war für Produktion und Personal, Philipp für Vertrieb und Marketing zuständig. 1919 wurde das Marken­ze­ichen des Hauses, der Bugsteven eines Wikinger­schiffes vor roter Sonne, eingetragen. Dessen Grafiker, Wilhelm Deffke, gestaltete auch die ersten Marken und Anzeigen. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg brachte den Beginn der in­dus­triellen Fertigung von Zigaretten mit Maschinen. Hierbei konnten nicht alle kleinen Firmen mithalten, und ein Konzen­tra­tionsprozess setzte ein. 1922 zog die Firma nach Hamburg um, wo die Produktion wegen des Freihafens kostengünstiger war.

Marktführerschaft

Ab 1920 gewannen die Reemtsmas einige wichtige Geschäftspartner, die zu Mi­tar­beit­ern wurden. David Schnur, selbst Inhaber einer Zi­garet­ten­fab­rik, war ein begnadeter Tabakeinkäufer und -mischer. Mit ihm kam es zu einer Kooperation und wech­sel­seit­i­gen Beteili­gun­gen. In der Nazizeit musste Schnur als Jude unter drama­tis­chen Umständen emigrieren. Hans Domizlaff, Grafiker und Pro­duk­t­gestal­ter, prägte bis in die 50er Jahre hinein das Marken­er­schei­n­ungs­bild der Firma. Kurt Heldern, selbst Erbe einer kleinen Tabakfirma, stieß Mitte der 20er Jahre zu Reemtsma und wurde überaus erfolgreich als Verkauf­sleiter der Firma.

„Gezielt gingen SA-Männer gegen Händler vor, die ‚Konzernware‘ anboten.“

Eine konsequente Marken­poli­tik, ein hoher Qualitätsstandard und ein als „Frische­di­enst“ gut or­gan­isierter Vertrieb verhalfen Marken wie Senuossi, Ova und Ernte 23 (benannt nach einer besonders reichen Tabakernte des Jahres 1923) zu nationalem Renommee. Beim Tod Bernhard Reemtsmas 1925 hatten die Söhne bereits eine führende Stellung des Un­ternehmens im Zi­garet­ten­markt erreicht. Sie logierten großbürgerlich in Ham­burg-Al­tona und knüpften Beziehungen zur Politik, wobei sie demokratis­che Parteien unterstützten. Eng war der Kontakt zur Deutschen Bank, die das profitable Unternehmen nötigenfalls mit Krediten für weitere Un­ternehmen­sakqui­si­tio­nen versorgte. Strate­gis­cher Vordenker und Hauptakteur dieser Expansion war Philipp Reemtsma.

Reemtsma und das Dritte Reich

Bis zur Machtübernahme der Nazis hatte Reemtsma, u. a. durch Verbandstätigkeit und durch ein Kartell mit dem Konkur­renten Haus Neuerburg eine absolut do­minierende Stellung erreicht, strebte aber kein Monopol an. Als zäher Konkurrent erwies sich nun die der SA na­h­este­hende Firma Sturm mit Marken wie „Alarm“, „Sturm“ oder „Trommler“. Die Nazis versuchten über Zeitungen, ihre Anhängerschaft auf diese Marken einzuschwören, sie polemisierten gegen „Konz­ernzi­garet­ten“ und un­ter­stell­ten Reemtsma eine Zusam­me­nar­beit mit dem „jüdischen Fi­nanzkap­i­tal“. Reemtsma war mit seinem gi­gan­tis­chen Werbeetat 1932 der größte deutsche Inserent. Durch Anzeige­nentzug konnte das Unternehmen darum diese Blätter empfindlich treffen, wollte aber wiederum möglichst wenige Mark­tan­teile an die Firma Sturm verlieren. Erst nach dem Röhm-Putsch 1934 verlor dieses Problem an Bedeutung.

„Die an den großen Standorten festlich in Szene gesetzten Hochzeiten erregten öffentliches Aufsehen, und überall spielten die Funktionäre des Regimes eine markante Rolle, nicht zuletzt wegen zahlreicher Bräutigame, die auf Wunsch der Firma in SA-Uniform e

Als Marktführer in der Genuss­mit­telin­dus­trie konnte sich Reemtsma nicht vom Regime fernhalten. In der zunehmend gelenkten Wirtschaft der Nazis war die Ver­staatlichung eine reale Bedrohung der un­ternehmerischen Selbstständigkeit. Kaum im Unternehmen, machte der sehr national gesinnte jüngste Bruder Alwin Karriere bei der Wehrmacht, später bei der SS. Philipp Reemtsma trat, wie viele Bürgerliche, einer NS­DAP-Un­teror­gan­i­sa­tion bei, dem Na­tion­al­sozial­is­tis­chen Kraft­fahrko­rps NSKK. Es flossen reichlich Spenden­gelder an Parteior­gan­i­sa­tio­nen, bereits 1933 in Höhe von einer Million Mark. Um das Ar­beit­slosen­prob­lem in den Griff zu bekommen, beteiligten sich die Reemtsmas an einem Programm, das der großenteils weiblichen Belegschaft den Weg zurück zu Heim und Herd ermöglichen sollte; ihre Arbeitsplätze sollten Männer einnehmen. In ver­schiede­nen Werken wurden Massen­hochzeiten ve­r­anstal­tet. Später, während des Kriegs, als die Männer an der Front gebraucht wurden, wendete sich das Blatt wieder.

„Göring gab an, Spenden für die Förderung eines er­stk­las­si­gen Wildbe­standes, die Forstwirtschaft und die Un­ter­hal­tung der Staat­sthe­ater zu benötigen. Er wollte dafür nicht weniger als drei Millionen Mark.“

Schon in den 1920er Jahren spielten bei allen größeren Zi­garet­ten­fir­men Sammelalben zur Gewinnung und Erhaltung der Markentreue eine her­aus­ra­gende Rolle. Sie waren regelrechte Bestseller, auch bei Reemtsma. Dank guter Beziehungen zu Adolf Hitlers Leib­fo­tograf Heinrich Hoffmann verfügte Reemtsma über neues Bild­ma­te­r­ial: Während früher die Vogelwelt oder historische Ereignisse dargestellt worden waren, beschäftigte man sich nun mit Inhalten, die der Ver­her­rlichung des Naziregimes dienten.

Spenden für Göring

1933 wurden juristische Un­ter­suchun­gen gegen Philipp Reemtsma eingeleitet. Die Vorwürfe lauteten auf Beamtenbestechung, Untreue, Meineid und Steuerde­likte. Der Anstoß kam aus dem SA-Umfeld, wurde aber von der Justiz aufge­grif­fen. Mit diesen An­schuldigun­gen sollte sich Philipp Reemtsma auch nach dem Krieg wieder kon­fron­tiert sehen; er musste sich dann aus der In­haftierung heraus dagegen wehren. Letztlich konnte, wie auch später im Zuge seiner Ent­naz­i­fizierung, kein einziger strafrechtlich relevanter Vorwurf aufrechter­hal­ten werden. 1934 erreichte Philipp Reemtsma durch persönliche Vorsprache bei Hermann Göring eine Nieder­schla­gung des Verfahrens, vor allem im Hinblick auf den Vorwurf der Konz­ern­bil­dung, die den Nazis ein Dorn im Auge war. Die na­tion­al­sozial­is­tis­che Wirtschaft­spoli­tik war in dieser Phase darauf aus­gerichtet, das Vertrauen der Unternehmer zu gewinnen – allerdings z. T. mit seltsamen Mitteln: Görings Preis war eine „Spende“ in Höhe von drei Millionen Mark. Von da an wurden jährlich weiterhin hohe Spenden­sum­men fällig.

Kriegs- und Nachkriegszeit

Bereits durch die Kontakte zur Deutschen Bank war Philipp Reemtsma in ver­schiedene Auf­sichts­gremien eingerückt. An Arisierun­gen beteiligte sich die Firma nicht. Jüdische Mitarbeiter wurden geschützt. Ab Mitte der 1930er Jahre förderten die Nazis die Konzen­tra­tion in der Wirtschaft. Reemtsma fusionierte mit Haup­tkonkur­rent Neuerburg. Der Marktanteil lag bei über 60 %. Philipp Reemtsma führte nun die „In­ter­es­sen­ge­mein­schaft deutscher Zi­garet­ten­her­steller“. In der ent­behrungsre­ichen Kriegszeit genoss die Zi­garet­tenin­dus­trie höchste Priorität, der Konsum stieg ständig. Die Reemtsmas kauften sich Landgüter. Hermann Reemtsma hatte als Kunstmäzen eine besonders enge Verbindung zu dem von den Nazis verfemten Künstler Ernst Barlach.

„Die Ein­heit­szi­garette war symp­to­ma­tisch für den Niedergang der deutschen Zi­garet­tenin­dus­trie. Tiefer konnten die Hersteller kaum sinken.“

Während des Kriegs verlor Philipp Reemtsma seine drei Söhne, zwei von ihnen an der Front; der jüngste starb an Kinderlähmung. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau heiratete er erneut, und zwar eine wesentlich jüngere Kusine seiner Exfrau, mit der ihn ein inniges Verhältnis verband. Aus dieser Ehe ging der 1952 geborene Jan Philipp Reemtsma hervor, der Un­ternehmenserbe.

„Unabhängig von der Anklage gegen Philipp F. Reemtsma betrieben die Besatzungsmächte die Zerlegung der Reemtsma KG. Ihre Handhabe dazu waren die Bes­tim­mungen zur Dekartel­lisierung mit dem Ziel, die deutsche Wirtschaft neu zu ordnen.“

Die drei Reemtsma-Brüder sahen sich nach dem Krieg lang­wieri­gen ju­ris­tis­chen Verfahren ausgesetzt. Philipp war monatelang inhaftiert. Wesentliche Pro­duk­tion­sstätten und Tabakbestände waren durch Bomben und Brände zerstört worden. Parallel zu den Gerichtsver­fahren begann unter Aufsicht der Be­satzungs­behörden der Wieder­auf­bau der Zi­garet­ten­pro­duk­tion mithilfe eines Teils der bewährten Führungs­man­nschaft. Durch die an­gloamerikanis­che Besatzung veränderten sich die Geschmacks- und Im­agege­wohn­heiten der Raucher stark. Die Amerikaner drängten etwa auf die Verwendung von Vir­gini­atabak.

Der Neuanfang und das Ende der Selbstständigkeit

Wegen zunehmender Zerwürfnisse mit Hans Domizlaff, die 1955 zur Trennung führten, kam der Neuanfang nur schleppend in Gang. Immerhin gelang es, die Marke Ernte 23 wieder zu etablieren und damit der er­fol­gre­ichen HB Paroli zu bieten. Sehr erfolgreich waren Lizen­zpro­duk­tion und -vertrieb der Marke Peter Stuyvesant, die von dem Südafrikaner Jan Rupert ersonnen worden war. Philipp Reemtsma strebte eine enge Kooperation mit Rupert an, die aber nach seinem Tod 1959 nicht fortgesetzt wurde.

„1958 berührten sich zwei steile Um­satzkur­ven das erste und letzte Mal: Die Filterlose und die Fil­terzi­garette begegneten sich, Erstere im Abstieg, Letztere in rasantem Aufstieg begriffen.“

18 Monate nach Philipp starb auch Hermann Reemtsma. Nach einem gemäß Philipps Testament von der Deutschen Bank geleiteten Interregnum ohne Beteiligung von Fam­i­lien­mit­gliedern verkaufte der damals 28-jährige Erbe Jan Philipp Reemtsma 1980 seinen Anteil von 53 % an die Hamburger Un­ternehmer­fam­i­lie Herz (Tchibo, Beiersdorf) für ca. 400 Millionen D-Mark. Unter der Ägide der Herz-Brüder kam es zu einem weiteren Aufschwung. 2002 verkauften sie die gesamte Firma für sechs Milliarden Euro. Reemtsma ist heute eine Tochter der britischen Imperial Tobacco.

Reemtsma als Mäzen

1996 wurde Jan Philipp Reemtsma Opfer eines spektakulären Entführungsfalls. Erst nach 33 Tagen kam er gegen Zahlung von 30 Millionen Mark Lösegeld wieder frei. Reemtsma betätigt sich vor allem als Mäzen auf lit­er­arischem und gesellschaftswis­senschaftlichem Gebiet. Schon als Student unterstützte er den von ihm hoch geschätzten Schrift­steller Arno Schmidt. Später gründete er das Institut für Sozial­forschung in Hamburg.

„Die Opposition gegen das Ver­schweigen von Erblasten aus der Zeit des Na­tion­al­sozial­is­mus geriet zu einer zentralen Konstante im Schaffen des Jan Philipp Reemtsma.“

Neben vielen anderen Aktivitäten wurde er als Initiator der vielfach ange­fein­de­ten Wehrma­cht­sausstel­lung bekannt, in der völk­er­rechtswidrige Gräueltaten der Wehrmacht belegt werden sollten. Nach­weis­liche Fehler machten diese Ausstellung zum Debakel. Sie wurde einer gründlichen Revision unterzogen und fand danach allgemeine Anerkennung.

Über den Autor

Erik Lindner ist Historiker. Er war wis­senschaftlicher Mitarbeiter im Haus der Geschichte der Bun­desre­pub­lik Deutschland in Bonn und Leiter des Un­ternehmen­sarchivs der Axel Springer AG.