Kinder fordern uns heraus

Buch Kinder fordern uns heraus

Wie erziehen wir sie zeitgemäß?

Klett-Cotta,
Erstausgabe:1964


Rezension

Pflegele­ichte Kinder sind wohl eher die Ausnahme. Die meisten können ihre Eltern schon im Babyalter zur Verzwei­flung bringen. Die tra­di­tionellen Erziehungsmeth­o­den Zwang, Strafe und Belohnung können in unserer demokratisch denkenden Gesellschaft nicht mehr angewendet werden, so die These von Rudolf Dreikurs, denn damit erreicht man entweder gar nichts oder das Gegenteil von dem, was man be­ab­sichtigt. Trotzdem kann Erziehung gelingen. Ja, sie kann sogar Spaß machen, meint Dreikurs, wenn man sich an einige Prinzipien hält. Mit einer Fülle von Beispielen aus dem alltäglichen Fam­i­lien­wahnsinn macht dieser Klassiker der Erziehungslit­er­atur klar, wie geschickt die kleinen Won­neprop­pen einen an der Nase herumführen können – und wie man das unterbinden kann, ohne die eigene Würde oder die des Kindes aufs Spiel zu setzen. BooksInShort meint: Eine Pflichtlektüre für alle Eltern, die mit ihrem Nachwuchs in Harmonie statt im Krieg leben möchten.

Take-aways

  • Behandeln Sie Ihre Kinder als gle­ich­w­er­tige Individuen.
  • Ermutigen Sie sie bei all ihren Versuchen, lassen Sie sie aus Fehlern lernen.
  • Nehmen Sie Ihrem Kind nichts ab, was es selber machen kann, sonst wird aus ihm ein bequemer Tyrann ohne Selb­stver­trauen.
  • Bestrafung, die nicht eine natürliche Folge eines Fehlver­hal­tens ist, verletzt die Würde des Kindes.
  • Ständiges Belohnen führt dazu, dass sich das Kind nur noch aus Berechnung richtig verhält.
  • Lassen Sie sich nicht auf Streit ein, sondern ziehen Sie sich schweigend ein paar Minuten zurück. Niemand streitet allein weiter.
  • Kon­flik­t­si­t­u­a­tio­nen lösen Sie nicht mit langen Diskus­sio­nen, sondern durch kon­se­quentes Handeln.
  • Lassen Sie das Kind die Folgen seines Verhaltens spüren.
  • Halten Sie keine Moral­predigten, sprechen Sie mit dem Kind anstatt zu ihm.
  • Lösen Sie Probleme in einem wöchentlichen Familienrat, in dem alle die gleiche Stimme haben und die Mehrheit entscheidet.
 

Zusammenfassung

Eltern und Kinder sind gle­ich­w­er­tig

Autoritäre Erziehung ist lange vorbei, das Gegenteil scheint auch bereits passé. Viele Eltern sind verun­sichert und suchen nach neuen Regeln. In unserer demokratisch geprägten Gesellschaft kein leichtes Unterfangen: Wo Gle­ich­berech­ti­gung herrscht, ist Autorität ein heikles Thema. Klar: Eltern haben mehr Erfahrung als ihre Kinder, sie wissen mehr und können mehr. So gesehen sind sie ihnen überlegen. Gle­ichzeitig kann niemand abstreiten, dass Kinder dieselbe menschliche Würde haben wie ihre älteren Zeitgenossen. Vor diesem Hintergrund laufen tra­di­tionelle Erziehungsmeth­o­den schnell ins Leere.

„Dass Eltern ihre Kinder heute nicht mehr mit Methoden aus der Ver­gan­gen­heit erziehen können, ist den meisten von ihnen bewusst. Ihre Frage lautet, was anders gemacht werden sollte.“

Wenn Ihr Kind Sie z. B. immer wieder bei der Arbeit stört, dann finden Sie heraus, was es will. Wahrschein­lich möchte es Aufmerk­samkeit, und darauf richtet es unbewusst sein Benehmen aus. Es wird sich das aussuchen, was Ihnen massiv auf die Nerven geht, z. B. mit dem Fuß gegen den Tisch klopfen und Sie damit vom Schreiben ablenken. Wenn Sie jetzt loss­chimpfen, hat das Kind genau das erreicht, was es wollte: Sie wenden sich ihm zu. Nächstes Mal wird es wieder an den Tisch klopfen. Natürlich sind es nicht nur solche Erfahrungen, die das Verhalten eines Kindes bee­in­flussen. Die Beziehung zu seinen Eltern, seine Stellung innerhalb der Familie und die Erziehungsmeth­ode – das sind die drei Faktoren, die die Entwicklung seiner Persönlichkeit bestimmen. Das heißt für Sie: Bevor Sie anfangen, über die passenden Erziehungsmeth­o­den nachzu­denken, müssen Sie Ihr Kind erst einmal sehr gut beobachten.

Ermutigen statt bestrafen

Ein Kind weiß instinktiv, dass es klein ist, aber es tut alles, damit Mama und Papa es für voll nehmen. Egal ob es Eier in den Kühlschrank räumen oder sich den Anorak zumachen soll, immer will es beweisen, dass es ein voll­w­er­tiges Fam­i­lien­mit­glied ist. Und was machen Sie? Sie nehmen ihm die Eier ab und ziehen den Reißverschluss ruckzuck selber hoch. Ihrem Kind vermitteln Sie damit, dass es unfähig, langsam und insgesamt min­der­w­er­tig ist. Was es dagegen lernen sollte, ist, dass manche Dinge schiefgehen (Eier sind zer­brech­lich), und zwar nicht, weil es ein Versager ist, sondern weil seine Fer­tigkeiten noch nicht per­fek­tion­iert sind. Ermutigen Sie Ihr Kind also bei seinen Versuchen, zeigen Sie Vertrauen in seine Fähigkeiten und lassen Sie es Fehler machen, ohne seine Selb­stach­tung anzukratzen.

„Ein ungezogenes Kind ist immer ein entmutigtes Kind.“

Klar: Mitunter stra­pazieren die kleinen Rabauken unsere Selb­st­be­herrschung bis zum Geht­nicht­mehr, reagieren einfach nicht auf unser Nein oder denken sich ständig neuen Unfug aus. Wenn Ihr Knirps zum fünften Mal die Toilette mit Papier vollstopft, sperren Sie ihn vielleicht zum fünften Mal in sein Zimmer. Aber alles, was Sie damit erreichen, sind Trotz und Widerstand. In unserer heutigen sozialen Struktur funk­tion­iert autoritäres Machtver­hal­ten nicht mehr – andernfalls würde eine Strafe bereits beim ersten Mal Wirkung zeigen. Schlimmer noch: Strafen bedeutet immer auch, die Würde des anderen zu verletzen und beide Seiten in einen Machtkampf zu verwickeln. Viel besser ist es, kon­struk­tive Methoden anzuwenden, die auf gegen­seit­iger Achtung, Rücksicht und dem Willen zur Zusam­me­nar­beit basieren.

Das Kind die Folgen seiner Handlung spüren lassen

Genauso nutzlos wie Bestrafen ist Belohnen: unter gle­ich­w­er­ti­gen Menschen eine unsinnige Handlung. Wenn Ihr Kind Ihnen nur mit Aussicht auf Belohnung gehorcht, lernt es weder Zusam­me­nar­beit noch Ve­r­ant­wortlichkeit. Ein Kind, das sich anständig aufführt oder im Haushalt mithilft, braucht dafür keine Belohnung; sie würde bedeuten, ihm seine ehrliche Absicht, Teil der Familie sein zu wollen, nicht abzunehmen. Später wundern sich die Eltern, dass der Flegel keinen frei­willi­gen Handgriff mehr macht. Zum Wohle der Familie beizutragen, macht Kinder glücklich. Das sollten Sie nicht durch Bezahlung zerstören und damit ein falsches Wertesystem aufbauen.

„Die Sitte, Kinder für gutes Verhalten zu belohnen, ist genauso schädlich wie die Methode der Bestrafung.“

Lassen Sie Ihr Kind die Folgen seines Tuns selber erfahren. Vergisst es beispiel­sweise sein Pausenbrot, wird es natürlich Hunger haben. Wenn Sie ihm die Zwis­chen­verpfle­gung aus übertriebener Angst, es könnte verhungern, hin­ter­her­tra­gen, nehmen Sie ihm die Möglichkeit, ein Problem selbst zu lösen. Verkneifen Sie sich auch die Mahnung: „Wenn du dein Pausenbrot vergisst, wirst du Hunger haben!“ Diese natürliche Folge muss das Kind am eigenen Leib erfahren, es ist absolut nicht das Problem von Mama und Papa.

Rechte achten und aus Fehlern lernen

Jeder hat Rechte, Eltern wie Kinder. Schon ein Baby hat ein Recht auf Schlaf; zerren Sie es also nicht aus seinem Bettchen, nur um es dem Besuch vorzuführen. Eltern wiederum haben das Recht auf einen ungestörten Abend mit Freunden. Sagen Sie das Ihren Kindern vorher und lassen Sie sie selbst entscheiden, ob sie sich an die Regel „Heute Abend nicht stören“ halten oder lieber zu Oma gebracht werden möchten. In der Folge müssen Sie konsequent bleiben: Stört das Kind, muss es das Zimmer verlassen. Es kann sich allenfalls entscheiden, ob es allein gehen oder von Ihnen hin­aus­ge­bracht werden möchte.

„Mit unseren fehler­haften Bemühungen, Mitarbeit durch Bezahlung zu erreichen, versagen wir unseren Kindern die grundle­gen­den Be­friedi­gun­gen des Lebens.“

Natürlich werden Kinder immer wieder Fehler machen, und das ist auch gut so – vo­raus­ge­setzt, Sie machen eine er­fol­gre­iche Lern­si­t­u­a­tion daraus. Verbrennt der Kuchen, den die Zehnjährige backen wollte, ist es wenig hilfreich, sie als ungeschick­tes Dummchen aus der Küche zu verbannen. Gehen Sie in aller Ruhe gemeinsam auf Fehlersuche und lassen Sie das Mädchen selbst entdecken, dass es vielleicht bei der Tem­per­a­ture­in­stel­lung nicht aufgepasst hat. Völlig fatal wäre es, das Kind aufgrund seines Fehlers als unfähig abzustem­peln. Wer Tollpatsch genannt wird, glaubt schnell, dass dieser Name berechtigt ist, und kann gar nicht mehr anders, als sich entsprechend zu verhalten.

Zusam­me­nar­beit statt Krieg

Eltern wünschen sich Frieden, Harmonie und Kinder, die zu Hause mithelfen. Tatsächlich aber funkelt Sie die Dreijährige feindselig an, wenn Sie sie um etwas bitten, und der Große lümmelt sich auf dem Sofa, während Sie alle Arbeit allein erledigen. Sie ärgern sich darüber und erteilen Befehle – und schon stecken Sie mitten im Fam­i­lienkrieg. Und dabei erleben Sie noch, dass aus den meisten Machtkämpfen die Kinder als Sieger hervorgehen. Das einzig Richtige ist, sich auf diese Machtkämpfe gar nicht einzulassen und auf natürliche Folgen zu setzen. Wenn Ihr Kind nicht bereit ist, den Müll rauszu­tra­gen, dann ziehen Sie die Konsequenz: Sie kochen nicht in einer Küche, in der Müll herumsteht. Gewalt müssen Sie nur in Notfällen anwenden – wenn sich das Kind selbst in Gefahr bringt.

„Da Kinder das tiefe Bedürfnis haben, dazuzugehören, bringt ein leeres Schlacht­feld sie aus der Fassung.“

Druck und Zwang funk­tion­ieren heutzutage nicht mehr, Lenken und Anleiten sind er­fol­gre­ichere Erziehungsmeth­o­den. Versuchen Sie Ihr Kind mit Erfind­ungskraft, Takt und Humor zur Mitarbeit zu gewinnen. Streit vermeiden Sie am besten, indem Sie sich einfach zurückziehen. Wenn Ihr Kind vor Wut brüllt, weil Sie es in den Laufstall setzen, gehen Sie für ein paar Minuten ins Badezimmer. Damit akzeptieren Sie sein Recht auf Wut, beachten diese aber nicht. Das Kind lernt schnell, dass es wenig Sinn macht, zu streiten, wenn keiner zum Streiten da ist. Sie vermeiden unnötige Feind­seligkeit und können, sobald das Kind sich beruhigt hat, wieder liebevoll und freundlich mit ihm umgehen.

Handeln statt Reden

Wenn Ihr Sohn mit dem Luftgewehr auf die Fenster des Nach­barhauses schießt, erklären Sie ihm nicht in aller Ausführlichkeit, warum er das nicht tun soll. Ihre Begründung klingt sicher vernünftig und ist gut gemeint. Womöglich würde der kleine Cowboy sogar andächtig zuhören. Tatsächlich aber ist er in einer Kon­flik­t­si­t­u­a­tion und ganz und gar taub für Ihren Wortschwall. Sparen Sie sich das Reden und nehmen Sie ihm das Gewehr kurzerhand weg. Wenn ein Kind zur Mitarbeit bereit ist, wird ein einziger Satz genügen, um es zur Ordnung zu rufen. Klappt das nicht, helfen nur Stand­fes­tigkeit und Handeln ohne viele Worte.

„Das Handeln der Eltern könnte oft aus nichts anderem bestehen, als den Mund zu halten.“

Um Ihre Forderungen durchzuset­zen, müssen Sie sich Zeit nehmen; Zeit zum Handeln, nicht für wort­ge­waltige End­loss­chleifen. Starten Sie das Auto erst, wenn der Sprössling auf der Rückbank das Fenster hochgekurbelt hat, und schieben Sie den Buggy erst weiter, wenn der Fuß nicht mehr her­aus­gestreckt auf dem Weg schleift. Das geht völlig ohne Worte, Ihr Kind wird Sie verstehen. Handeln Sie unmittelbar und sparen Sie sich Ermahnungen wie „Lass das“, „Beeil dich“, Hör endlich auf“ – die sind ohnehin wirkungslos, und nach mehrmaliger Wieder­hol­ung werden Sie wahrschein­lich laut. Lassen Sie es so weit kommen, wird das Kind daraus schließen, dass es erst reagieren muss, wenn die Eltern kurz vor der Explosion stehen.

Den kindlichen Fähigkeiten vertrauen

Kinder sind viel stärker, als wir vermuten, und können meist mehr, als die Eltern ihnen zutrauen. Die lieben Kleinen finden es aber sehr gemütlich, wenn Mama sie bedient. Deshalb stellen sie sich hilflos. Ermutigen Sie Ihren Nachwuchs, zu tun, was er altersgemäß auch kann. Mit einem Dreijährigen brauchen Sie nicht auf die Toilette zu gehen, ein Vierjähriger kann allein den richtigen Knopf im Aufzug drücken, und eine Zehnjährige kann bei einer fremden Person selber anrufen. Leider un­ter­wan­dern Eltern vor lauter Besorgtheit oft schon die ersten Schritte in die Selbstständigkeit. Will ein Kleinkind allein essen, soll es das tun dürfen, auch wenn hinterher Spinat in den Haaren klebt. Sicher brauchen Kinder Hilfe und Training und müssen anfangs überwacht werden. Aber sie müssen spüren, dass die Eltern ihnen etwas zutrauen.

„Kinder haben unsere Hilfe gern, denn es gibt ihnen ein gewisses Gefühl der Macht, Bedienung zu fordern.“

Das gilt auch für Situationen, in denen Kinder mit Schick­salss­chlägen fertig werden müssen. Das Leben ist nicht immer fair, und wenn ein Kind nach einer Krankheit im Rollstuhl sitzt oder bei einem Unfall einen Elternteil verloren hat, dürfen wir es nicht allein lassen. Mitleid ist aber der falsche Ansatz. Es stimuliert das Selb­st­mitleid und blockiert die Fähigkeit, mutig nach vorn zu blicken. Lassen Sie das Kind diese Kraft entwickeln.

Demokratie in der Familie

Nachdem wir die au­tokratis­che Gesellschafts­form hinter uns gelassen haben, müssen wir anders mit unseren Kindern umgehen, als es die Gen­er­a­tio­nen vor uns taten. Dazu gehört, andere Sichtweisen zuzulassen. Kinder haben ihre eigene Meinung, und die kann durchaus auch mal richtig sein. Es lohnt sich, her­auszufinden, wie Kinder denken. Dazu müssen Sie mit ihnen sprechen, nicht zu ihnen reden und Moral­predigten halten. Zunächst heißt es aber, zuzuhören. Wenn Sie mehrere Kinder haben und es Streit gibt, holen Sie alle zusammen und fragen Sie nach, lassen Sie jedes Kind seine Sichtweise erklären und fragen Sie die anderen, was sie von dieser Sichtweise halten. So lernen die Kleinen, Lösungen zu finden, die zur Fam­i­lien­har­monie beitragen.

„Wir neigen dazu, die Fähigkeit all derer, die wir als klein oder schwach ansehen, zu bezweifeln, und vermindern als Folge die schöpferische Kraft, die sie haben könnten, wenn unser Mitleid sie nicht dazu bringen würde, sich in Passivität zurückzuziehen.“

Ein besonders geeignetes Mittel für Problemlösungen ist der Familienrat. Legen Sie gemeinsam mit den Kindern einen Wochentag und eine Uhrzeit fest. Wenn jemand nicht erscheint, ist das seine Entschei­dung – er hat sich aber dann an das zu halten, was die Gruppe beschlossen hat. Jeder Beschluss bleibt bis zum nächsten Treffen gültig und kann erst dann wieder verhandelt werden. In einem Familienrat haben alle die gleiche Stimme. Jedes Mal übernimmt jemand anders den Vorsitz und schaut zu, dass alle zu Wort kommen. Was die Mehrheit beschließt, wird eingehalten, auch wenn es jemandem nicht in den Kram passt. Daraus lernen Kinder Achtung und Ve­r­ant­wor­tung innerhalb einer Gruppe. Nur damit funk­tion­iert demokratis­ches Zusam­men­leben.

Über die Autoren

Rudolf Dreikurs, 1897 in Wien geboren und 1972 in Chicago gestorben, war Schüler des In­di­vid­u­alpsy­cholo­gen Alfred Adler. Er hat mehrere Ratgeber für Eltern und Erzieher verfasst. Kinder fordern uns heraus gilt als Stan­dard­w­erk zum Thema. Vicki Soltz war Leiterin einer Stu­di­en­gruppe und hat Beispiele aus dem Alltag zum Buch beiges­teuert.