Eltern und Kinder sind gleichwertig
Autoritäre Erziehung ist lange vorbei, das Gegenteil scheint auch bereits passé. Viele Eltern sind verunsichert und suchen nach neuen Regeln. In unserer demokratisch geprägten Gesellschaft kein leichtes Unterfangen: Wo Gleichberechtigung herrscht, ist Autorität ein heikles Thema. Klar: Eltern haben mehr Erfahrung als ihre Kinder, sie wissen mehr und können mehr. So gesehen sind sie ihnen überlegen. Gleichzeitig kann niemand abstreiten, dass Kinder dieselbe menschliche Würde haben wie ihre älteren Zeitgenossen. Vor diesem Hintergrund laufen traditionelle Erziehungsmethoden schnell ins Leere.
„Dass Eltern ihre Kinder heute nicht mehr mit Methoden aus der Vergangenheit erziehen können, ist den meisten von ihnen bewusst. Ihre Frage lautet, was anders gemacht werden sollte.“
Wenn Ihr Kind Sie z. B. immer wieder bei der Arbeit stört, dann finden Sie heraus, was es will. Wahrscheinlich möchte es Aufmerksamkeit, und darauf richtet es unbewusst sein Benehmen aus. Es wird sich das aussuchen, was Ihnen massiv auf die Nerven geht, z. B. mit dem Fuß gegen den Tisch klopfen und Sie damit vom Schreiben ablenken. Wenn Sie jetzt losschimpfen, hat das Kind genau das erreicht, was es wollte: Sie wenden sich ihm zu. Nächstes Mal wird es wieder an den Tisch klopfen. Natürlich sind es nicht nur solche Erfahrungen, die das Verhalten eines Kindes beeinflussen. Die Beziehung zu seinen Eltern, seine Stellung innerhalb der Familie und die Erziehungsmethode – das sind die drei Faktoren, die die Entwicklung seiner Persönlichkeit bestimmen. Das heißt für Sie: Bevor Sie anfangen, über die passenden Erziehungsmethoden nachzudenken, müssen Sie Ihr Kind erst einmal sehr gut beobachten.
Ermutigen statt bestrafen
Ein Kind weiß instinktiv, dass es klein ist, aber es tut alles, damit Mama und Papa es für voll nehmen. Egal ob es Eier in den Kühlschrank räumen oder sich den Anorak zumachen soll, immer will es beweisen, dass es ein vollwertiges Familienmitglied ist. Und was machen Sie? Sie nehmen ihm die Eier ab und ziehen den Reißverschluss ruckzuck selber hoch. Ihrem Kind vermitteln Sie damit, dass es unfähig, langsam und insgesamt minderwertig ist. Was es dagegen lernen sollte, ist, dass manche Dinge schiefgehen (Eier sind zerbrechlich), und zwar nicht, weil es ein Versager ist, sondern weil seine Fertigkeiten noch nicht perfektioniert sind. Ermutigen Sie Ihr Kind also bei seinen Versuchen, zeigen Sie Vertrauen in seine Fähigkeiten und lassen Sie es Fehler machen, ohne seine Selbstachtung anzukratzen.
„Ein ungezogenes Kind ist immer ein entmutigtes Kind.“
Klar: Mitunter strapazieren die kleinen Rabauken unsere Selbstbeherrschung bis zum Gehtnichtmehr, reagieren einfach nicht auf unser Nein oder denken sich ständig neuen Unfug aus. Wenn Ihr Knirps zum fünften Mal die Toilette mit Papier vollstopft, sperren Sie ihn vielleicht zum fünften Mal in sein Zimmer. Aber alles, was Sie damit erreichen, sind Trotz und Widerstand. In unserer heutigen sozialen Struktur funktioniert autoritäres Machtverhalten nicht mehr – andernfalls würde eine Strafe bereits beim ersten Mal Wirkung zeigen. Schlimmer noch: Strafen bedeutet immer auch, die Würde des anderen zu verletzen und beide Seiten in einen Machtkampf zu verwickeln. Viel besser ist es, konstruktive Methoden anzuwenden, die auf gegenseitiger Achtung, Rücksicht und dem Willen zur Zusammenarbeit basieren.
Das Kind die Folgen seiner Handlung spüren lassen
Genauso nutzlos wie Bestrafen ist Belohnen: unter gleichwertigen Menschen eine unsinnige Handlung. Wenn Ihr Kind Ihnen nur mit Aussicht auf Belohnung gehorcht, lernt es weder Zusammenarbeit noch Verantwortlichkeit. Ein Kind, das sich anständig aufführt oder im Haushalt mithilft, braucht dafür keine Belohnung; sie würde bedeuten, ihm seine ehrliche Absicht, Teil der Familie sein zu wollen, nicht abzunehmen. Später wundern sich die Eltern, dass der Flegel keinen freiwilligen Handgriff mehr macht. Zum Wohle der Familie beizutragen, macht Kinder glücklich. Das sollten Sie nicht durch Bezahlung zerstören und damit ein falsches Wertesystem aufbauen.
„Die Sitte, Kinder für gutes Verhalten zu belohnen, ist genauso schädlich wie die Methode der Bestrafung.“
Lassen Sie Ihr Kind die Folgen seines Tuns selber erfahren. Vergisst es beispielsweise sein Pausenbrot, wird es natürlich Hunger haben. Wenn Sie ihm die Zwischenverpflegung aus übertriebener Angst, es könnte verhungern, hinterhertragen, nehmen Sie ihm die Möglichkeit, ein Problem selbst zu lösen. Verkneifen Sie sich auch die Mahnung: „Wenn du dein Pausenbrot vergisst, wirst du Hunger haben!“ Diese natürliche Folge muss das Kind am eigenen Leib erfahren, es ist absolut nicht das Problem von Mama und Papa.
Rechte achten und aus Fehlern lernen
Jeder hat Rechte, Eltern wie Kinder. Schon ein Baby hat ein Recht auf Schlaf; zerren Sie es also nicht aus seinem Bettchen, nur um es dem Besuch vorzuführen. Eltern wiederum haben das Recht auf einen ungestörten Abend mit Freunden. Sagen Sie das Ihren Kindern vorher und lassen Sie sie selbst entscheiden, ob sie sich an die Regel „Heute Abend nicht stören“ halten oder lieber zu Oma gebracht werden möchten. In der Folge müssen Sie konsequent bleiben: Stört das Kind, muss es das Zimmer verlassen. Es kann sich allenfalls entscheiden, ob es allein gehen oder von Ihnen hinausgebracht werden möchte.
„Mit unseren fehlerhaften Bemühungen, Mitarbeit durch Bezahlung zu erreichen, versagen wir unseren Kindern die grundlegenden Befriedigungen des Lebens.“
Natürlich werden Kinder immer wieder Fehler machen, und das ist auch gut so – vorausgesetzt, Sie machen eine erfolgreiche Lernsituation daraus. Verbrennt der Kuchen, den die Zehnjährige backen wollte, ist es wenig hilfreich, sie als ungeschicktes Dummchen aus der Küche zu verbannen. Gehen Sie in aller Ruhe gemeinsam auf Fehlersuche und lassen Sie das Mädchen selbst entdecken, dass es vielleicht bei der Temperatureinstellung nicht aufgepasst hat. Völlig fatal wäre es, das Kind aufgrund seines Fehlers als unfähig abzustempeln. Wer Tollpatsch genannt wird, glaubt schnell, dass dieser Name berechtigt ist, und kann gar nicht mehr anders, als sich entsprechend zu verhalten.
Zusammenarbeit statt Krieg
Eltern wünschen sich Frieden, Harmonie und Kinder, die zu Hause mithelfen. Tatsächlich aber funkelt Sie die Dreijährige feindselig an, wenn Sie sie um etwas bitten, und der Große lümmelt sich auf dem Sofa, während Sie alle Arbeit allein erledigen. Sie ärgern sich darüber und erteilen Befehle – und schon stecken Sie mitten im Familienkrieg. Und dabei erleben Sie noch, dass aus den meisten Machtkämpfen die Kinder als Sieger hervorgehen. Das einzig Richtige ist, sich auf diese Machtkämpfe gar nicht einzulassen und auf natürliche Folgen zu setzen. Wenn Ihr Kind nicht bereit ist, den Müll rauszutragen, dann ziehen Sie die Konsequenz: Sie kochen nicht in einer Küche, in der Müll herumsteht. Gewalt müssen Sie nur in Notfällen anwenden – wenn sich das Kind selbst in Gefahr bringt.
„Da Kinder das tiefe Bedürfnis haben, dazuzugehören, bringt ein leeres Schlachtfeld sie aus der Fassung.“
Druck und Zwang funktionieren heutzutage nicht mehr, Lenken und Anleiten sind erfolgreichere Erziehungsmethoden. Versuchen Sie Ihr Kind mit Erfindungskraft, Takt und Humor zur Mitarbeit zu gewinnen. Streit vermeiden Sie am besten, indem Sie sich einfach zurückziehen. Wenn Ihr Kind vor Wut brüllt, weil Sie es in den Laufstall setzen, gehen Sie für ein paar Minuten ins Badezimmer. Damit akzeptieren Sie sein Recht auf Wut, beachten diese aber nicht. Das Kind lernt schnell, dass es wenig Sinn macht, zu streiten, wenn keiner zum Streiten da ist. Sie vermeiden unnötige Feindseligkeit und können, sobald das Kind sich beruhigt hat, wieder liebevoll und freundlich mit ihm umgehen.
Handeln statt Reden
Wenn Ihr Sohn mit dem Luftgewehr auf die Fenster des Nachbarhauses schießt, erklären Sie ihm nicht in aller Ausführlichkeit, warum er das nicht tun soll. Ihre Begründung klingt sicher vernünftig und ist gut gemeint. Womöglich würde der kleine Cowboy sogar andächtig zuhören. Tatsächlich aber ist er in einer Konfliktsituation und ganz und gar taub für Ihren Wortschwall. Sparen Sie sich das Reden und nehmen Sie ihm das Gewehr kurzerhand weg. Wenn ein Kind zur Mitarbeit bereit ist, wird ein einziger Satz genügen, um es zur Ordnung zu rufen. Klappt das nicht, helfen nur Standfestigkeit und Handeln ohne viele Worte.
„Das Handeln der Eltern könnte oft aus nichts anderem bestehen, als den Mund zu halten.“
Um Ihre Forderungen durchzusetzen, müssen Sie sich Zeit nehmen; Zeit zum Handeln, nicht für wortgewaltige Endlosschleifen. Starten Sie das Auto erst, wenn der Sprössling auf der Rückbank das Fenster hochgekurbelt hat, und schieben Sie den Buggy erst weiter, wenn der Fuß nicht mehr herausgestreckt auf dem Weg schleift. Das geht völlig ohne Worte, Ihr Kind wird Sie verstehen. Handeln Sie unmittelbar und sparen Sie sich Ermahnungen wie „Lass das“, „Beeil dich“, Hör endlich auf“ – die sind ohnehin wirkungslos, und nach mehrmaliger Wiederholung werden Sie wahrscheinlich laut. Lassen Sie es so weit kommen, wird das Kind daraus schließen, dass es erst reagieren muss, wenn die Eltern kurz vor der Explosion stehen.
Den kindlichen Fähigkeiten vertrauen
Kinder sind viel stärker, als wir vermuten, und können meist mehr, als die Eltern ihnen zutrauen. Die lieben Kleinen finden es aber sehr gemütlich, wenn Mama sie bedient. Deshalb stellen sie sich hilflos. Ermutigen Sie Ihren Nachwuchs, zu tun, was er altersgemäß auch kann. Mit einem Dreijährigen brauchen Sie nicht auf die Toilette zu gehen, ein Vierjähriger kann allein den richtigen Knopf im Aufzug drücken, und eine Zehnjährige kann bei einer fremden Person selber anrufen. Leider unterwandern Eltern vor lauter Besorgtheit oft schon die ersten Schritte in die Selbstständigkeit. Will ein Kleinkind allein essen, soll es das tun dürfen, auch wenn hinterher Spinat in den Haaren klebt. Sicher brauchen Kinder Hilfe und Training und müssen anfangs überwacht werden. Aber sie müssen spüren, dass die Eltern ihnen etwas zutrauen.
„Kinder haben unsere Hilfe gern, denn es gibt ihnen ein gewisses Gefühl der Macht, Bedienung zu fordern.“
Das gilt auch für Situationen, in denen Kinder mit Schicksalsschlägen fertig werden müssen. Das Leben ist nicht immer fair, und wenn ein Kind nach einer Krankheit im Rollstuhl sitzt oder bei einem Unfall einen Elternteil verloren hat, dürfen wir es nicht allein lassen. Mitleid ist aber der falsche Ansatz. Es stimuliert das Selbstmitleid und blockiert die Fähigkeit, mutig nach vorn zu blicken. Lassen Sie das Kind diese Kraft entwickeln.
Demokratie in der Familie
Nachdem wir die autokratische Gesellschaftsform hinter uns gelassen haben, müssen wir anders mit unseren Kindern umgehen, als es die Generationen vor uns taten. Dazu gehört, andere Sichtweisen zuzulassen. Kinder haben ihre eigene Meinung, und die kann durchaus auch mal richtig sein. Es lohnt sich, herauszufinden, wie Kinder denken. Dazu müssen Sie mit ihnen sprechen, nicht zu ihnen reden und Moralpredigten halten. Zunächst heißt es aber, zuzuhören. Wenn Sie mehrere Kinder haben und es Streit gibt, holen Sie alle zusammen und fragen Sie nach, lassen Sie jedes Kind seine Sichtweise erklären und fragen Sie die anderen, was sie von dieser Sichtweise halten. So lernen die Kleinen, Lösungen zu finden, die zur Familienharmonie beitragen.
„Wir neigen dazu, die Fähigkeit all derer, die wir als klein oder schwach ansehen, zu bezweifeln, und vermindern als Folge die schöpferische Kraft, die sie haben könnten, wenn unser Mitleid sie nicht dazu bringen würde, sich in Passivität zurückzuziehen.“
Ein besonders geeignetes Mittel für Problemlösungen ist der Familienrat. Legen Sie gemeinsam mit den Kindern einen Wochentag und eine Uhrzeit fest. Wenn jemand nicht erscheint, ist das seine Entscheidung – er hat sich aber dann an das zu halten, was die Gruppe beschlossen hat. Jeder Beschluss bleibt bis zum nächsten Treffen gültig und kann erst dann wieder verhandelt werden. In einem Familienrat haben alle die gleiche Stimme. Jedes Mal übernimmt jemand anders den Vorsitz und schaut zu, dass alle zu Wort kommen. Was die Mehrheit beschließt, wird eingehalten, auch wenn es jemandem nicht in den Kram passt. Daraus lernen Kinder Achtung und Verantwortung innerhalb einer Gruppe. Nur damit funktioniert demokratisches Zusammenleben.