Neuroökonomie

Buch Neuroökonomie

Neue Theorien zu Konsum, Marketing und emotionalem Verhalten in der Ökonomie

Metropolis,


Rezension

Neue wis­senschaftliche Erken­nt­nisse ermöglichen es Mar­keting­ex­perten, immer um­fan­gre­ichere Einblicke in die Entschei­dun­gen der Käufer zu gewinnen. Ve­r­ant­wortlich dafür ist der Schul­ter­schluss der Ökonomie mit der Hirn­forschung: die Neuroökonomie. Was sich hinter dieser neuen akademis­chen Richtung verbirgt, zeigt diese Zusam­men­stel­lung von Fachbeiträgen in sehr gelungener Form. Der Leser gewinnt einen Überblick über die Funk­tion­sweise des men­schlichen Gehirns und wird über aktuelle Forschung­spro­jekte in Kenntnis gesetzt. Er erfährt, warum die in der Wirtschaftswis­senschaft lange Zeit vorherrschende Annahme vom rational denkenden und handelnden Menschen in ihren Grundfesten erschüttert wird und was das für ganz konkrete All­t­agssi­t­u­a­tio­nen, etwa fürs Einkaufen, bedeutet. Das Buch geht aber noch einen Schritt weiter: Es setzt sich auch intensiv mit den Grenzen der Neuroökonomie auseinander und wirft eine Reihe ethischer Fragen auf. Einziges Manko: die oft zu kom­plizierte wis­senschaftliche Sprache. BooksInShort empfiehlt das Buch allen Un­ternehmern und Managern, die das menschliche Verhalten verstehen wollen, sowie allen Wirtschaftsstu­den­ten, die wissen möchten, was nicht in ihren Lehrbüchern steht – aber drinstehen sollte.

Take-aways

  • Die Neuroökonomie ist der Schul­ter­schluss zwischen Wirtschaftswis­senschaften und Hirn­forschung.
  • Das Ziel dieser neueren akademis­chen Richtung ist es, anhand der Ar­beitsweise des Gehirns Einblicke in das wirtschaftliche Verhalten von Menschen zu gewähren.
  • Neuroökonomen stützen sich auf modernste Techniken, die die Funktionen des Gehirns bildhaft darstellen.
  • Die Neuroökonomie widerlegt die Theorie vom stets rational handelnden Homo oeconomicus.
  • Das Haup­tan­wen­dungs­ge­biet der Neuroökonomie ist das Marketing.
  • Die Verbindung von Ökonomie und Hirn­forschung wirft ethische Fragen auf, wie die nach der Unabhängigkeit der Forschung und der Ma­nip­ulier­barkeit der Konsumenten.
  • Men­schliches Verhalten wird entschei­dend von Emotionen bestimmt.
  • Menschen handeln aufgrund von Vorlieben oder in Erwartung eines Vorteils.
  • Entschei­dun­gen erfolgen oft durch unbewusste In­for­ma­tionsver­ar­beitung.
  • Die Realität ist nicht objektiv gegeben, sondern eine subjektive Deutung, die von den in­di­vidu­ellen Erfahrungen jedes Einzelnen abhängt.
 

Zusammenfassung

Neuroökonomie – eine neue Wis­senschaft

Seit einigen Jahren ist unter Wirtschaftswis­senschaftlern ein neuer Trend zu beobachten. Die Ökonomen kehren den in ihrem Fachbereich bekannten Methoden zunehmend den Rücken und bewegen sich stattdessen vermehrt in die Nähe anderer Disziplinen wie der Psychologie und den Natur­wis­senschaften. Besonderes Augenmerk haben sie dabei auf die Hirn­forschung geworfen. Denn neueste technische En­twick­lun­gen ermöglichen nicht nur einen immer genaueren Blick ins Gehirn und damit ein besseres Verständnis des men­schlichen Verhaltens. Sie verschaffen den Ökonomen auch die Chance, durch empirische Un­ter­suchun­gen alltäglicher wirtschaftlicher Abläufe eine rein the­o­retis­che Betrachtung zu umgehen. Die neue Verbindung von Hirn­forschung und Wirtschaftswis­senschaften wird unter dem Namen Neuroökonomie zusam­menge­fasst.

„Ein erklärtes Ziel der neuroökonomischen Forschung ist die vollständige Erklärung des men­schlichen Verhaltens in ökonomisch relevanten Situationen.“

Eines der vorrangigen Ziele der neuen Wis­senschaft ist die Un­ter­suchung des men­schlichen Entschei­dungsver­hal­tens anhand der Strukturen und Vorgänge im Gehirn. Die Forscher erhoffen sich genauere Aufschlüsse über die Gründe etwa für die Wahl eines bestimmten Produkts oder einer konkreten An­lages­trate­gie an der Börse. Basierten die meisten wirtschaftswis­senschaftlichen Ansätze noch bis zum Ende des 20. Jahrhun­derts auf der Annahme, dass der Mensch sich bei seinen Entschei­dun­gen weitgehend rational verhält, so liefert die Neuroökonomie ganz neue Einsichten. Ihr zufolge verfügen Individuen so gut wie nie über vollständige Information. Ihr Handeln ist in hohem Maß bee­in­fluss­bar, es erfolgt meist unbewusst, ist von Erin­nerun­gen, Gefühlen und dem körperlichen Befinden abhängig und orientiert sich an Gewohn­heiten. Zudem ist die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses deutlich geringer als gemeinhin angenommen. Die Folge: Viele Konsumenten sind von einem zu großen Ware­nange­bot schnell überfordert.

„Hirn­forschung und Kog­ni­tion­swis­senschaften sind sich darin einig, dass Menschen dann am leichtesten bee­in­fluss­bar sind, wenn sie ohnehin bereits ziel­gerichtet motiviert sind (z. B. auf der Suche sind, eine Er­wartung­shal­tung aufgebaut haben).“

Wichtiger für Unternehmer und Manager ist die Erkenntnis, dass Menschen den größten Teil der In­for­ma­tio­nen unbewusst verarbeiten und ihre Entschei­dun­gen vor allem auf Emotionen basieren. Dieses Wissen ermöglicht Mar­keting­ex­perten, ihre Wer­be­botschaften gezielter zu präsentieren. So werden etwa Werbefilme in kurzen Abständen wiederholt oder Produkte mit emotionalen Botschaften verknüpft, damit sie sich dem Zuschauer oder Zuhörer unbewusst einprägen. Zudem lassen sich die Inhalte solcher Werbung durch geeignete Reize als Erinnerung wieder abrufen. Auch hier hilft ein Ergebnis der Hirn­forschung: Das Gehirn bestimmt das gesamte menschliche Verhalten, es ist aber seinerseits sowohl von Außenreizen als auch von inneren Prozessen wie Erin­nerun­gen, Gedanken, Wünschen und Trieben abhängig.

Die Ar­beitsweise der Neuroökonomie

Um das menschliche Entschei­dungsver­hal­ten im Gehirn ablesen zu können, ist es nicht nur wichtig zu wissen, wie es arbeitet. Die Aussagen müssen sich auch ve­r­all­ge­mein­ern lassen. Beides erfordert exakte Mess­meth­o­den, die eine genaue Zuordnung von Ver­hal­tensweisen zu bestimmten Hirnarealen belegen. Die bislang hauptsächlich genutzten Methoden konzen­tri­eren sich auf zwei Aspekte des Gehirns. Entweder setzen sie an den durch die Hirnzellen fließenden elek­trischen Impulsen an. In diesem Fall erfolgt die Messung mithilfe der Elek­troen­zephalo­grafie (EEG) oder der Mag­neten­zephalo­grafie (MEG). Oder die Un­ter­suchung stützt sich auf die Stof­fwech­sel­prozesse im Gehirn. Die führenden Verfahren sind hier die Positronen­e­mis­sion­sto­mo­grafie (PET) oder die Mag­ne­tres­o­nanz­to­mo­grafie (MRT).

„Wir sind durch eine zu große Auswahl überfordert – weniger ist mehr.“

Während bei EEG und MEG die elek­trischen Ströme des Gehirns mittels Elektroden auf der Kopfhaut gemessen werden, spritzt man dem Probanden bei der PET eine radioaktiv markierte Lösung in das Blut. Nur so lassen sich die Stof­fwech­sel­prozesse sichtbar machen. Die MRT kommt dagegen ebenfalls ohne solche Eingriffe aus. Hier wird die Funk­tion­sweise des Gehirns anhand eines Mag­net­feldes in statische oder auch dynamische Bilder übersetzt.

Der Aufbau des Gehirns

Die wichtigsten Bereiche des Gehirns, die sich mithilfe dieser Verfahren erkunden lassen, sind die linke und die rechte Großhirnrinde sowie die darun­ter­liegen­den Strukturen der Basal­gan­glien, des Hippocampus, des limbischen Systems und der Amygdala. Die jüngste Entwicklung in der Evolution des Gehirns ist die Großhirnrinde, die kognitive Aufgaben wie Planung oder bewusstes Denken übernimmt, aber auch für höhere motorische und emotionale Fähigkeiten und Gedächt­nisleis­tun­gen zuständig ist. Die evo­lu­tion­s­geschichtlich älteren Hirnareale wie die Basal­gan­glien und das limbische System steuern vor allem motorische Funktionen und emotionale Zustände sowie spezielle Erin­nerun­gen. Die Fähigkeit des gesamten Gehirns besteht schließlich darin, die vielfältigen Aufgaben der einzelnen Teile zu einer ein­heitlichen Wahrnehmung zu verbinden.

„Bedeutung für Werbung und Pro­duk­t­dar­bi­etung hat sowohl die bewusste als auch die unbewusste In­for­ma­tionsver­ar­beitung.“

Ein für die Neuroökonomie besonders wichtiger Teil ist das mesolim­bis­che Be­loh­nungssys­tem. Es umfasst die Amygdala, auch Mandelkern genannt, und den Hippocampus. Diese Gebiete spielen eine große Rolle bei der Frage, ob men­schliches Verhalten sich wirklich zuallererst am Erzielen von Gewinn und am Vermeiden von Strafe bzw. Verlust orientiert. Darum ist auch die Ab­satzwirtschaft und hier vor allem das Marketing ein wichtiges Einsatzfeld für die Neuroökonomie: Zahlreiche Studien belegen, dass gezielte Werbemaßnahmen wie Logos, Pro­duk­t­de­sign oder Spots unmittelbar die Emotionen der Konsumenten ansprechen und deren Kaufentschei­dun­gen bee­in­flussen – nämlich dann, wenn das Marketing in genau denjenigen Hirn­struk­turen die Aktivität steigert, die dem Be­loh­nungssys­tem angehören.

Die Grenzen der Neuroökonomie

Die Verbindung von Hirn­forschung und Wirtschaftswis­senschaften trifft nicht überall auf Zustimmung. Ein Kritikpunkt sind die hohen Kosten, die der Einsatz aufwändiger Techniken wie MRT oder PET verursacht. Andere Einwände zielen darauf ab, dass die enge Zusam­me­nar­beit der Hirn­forscher mit Unternehmen und Mar­keting­ex­perten die Unabhängigkeit der Forschung untergraben könnte. Außerdem gibt es Befürchtungen, dass die Konsumenten zunehmend durch Werbe­strate­gien manipuliert werden – das könnte auch für politische Werbung gelten, wodurch das demokratis­che Prinzip gefährdet wäre. Dem halten die Neuroökonomen entgegen, dass man noch weit davon entfernt sei, durch den Blick in das menschliche Gehirn wirklich Gedanken zu lesen und bestimmtes Entschei­dungsver­hal­ten her­vorzu­rufen. Und ob das jemals erreicht werden könne, stehe in den Sternen. Vielmehr leiste die Neuroökonomie einen wesentlichen Beitrag, um die Arbeit des Gehirns genauer zu beschreiben. Allerdings, so geben die Neuroökonomen zu, können Mar­keting­ex­perten auf Basis der Lokalisierung von bestimmten Ver­hal­tensweisen im Gehirn ihre Wer­bean­reize durchaus bereits präziser setzen als bisher.

„Homo oeconomicus, die klassische Ak­teurskon­struk­tion der Ökonomie, hat zwei Schwach­punkte: (1) Kein Mensch kann alle Folgen seiner Handlungen abschätzen, (2) Menschen sind stark auf Kooperation und Vertrauen zu anderen angewiesen.“

Befürchtungen über die Auswirkun­gen der Hirn­forschung auf die Persönlichkeit des Einzelnen haben zur Entstehung des Fachgebiets der Neuroethik geführt. Sie beschäftigt sich mit den Grenzen der Hirn­forschung und damit, wie Missbrauch der Forschungsergeb­nisse vermieden werden kann. So werden z. B. die gesellschaftlichen Folgen einer Bee­in­flus­sung der Wahrnehmung durch die Werbung diskutiert oder die Fragen erörtert, wie die Selb­st­bes­tim­mung der Bürger gewahrt oder die Umwelt geschützt werden kann, wenn die Unternehmen ihre Kunden mit hirn­gerechter Mar­ket­ing­pro­pa­ganda zu immer mehr Konsum anhalten.

Die Bedeutung der Emotionen

Eine der größten Leistungen der Neuroökonomie ist es, die klassischen Annahmen der Wirtschaftswis­senschaften hinterfragt zu haben. Bislang gingen Ökonomen in ihren Modellen oft davon aus, dass Mark­t­teil­nehmer über vollständige Information verfügen und nur danach streben, ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Der so genannte Homo oeconomicus verhält sich de­mentsprechend immer rational. Der Blick ins menschliche Gehirn zeigt aber, dass die Wirk­lichkeit ganz anders aussieht: Die Emotionen spielen einen entschei­den­den Part bei den Entschei­dun­gen und Handlungen.

„Menschen handeln nicht nur aus Vorteilsab­sicht, sondern auch aus Vorlieben.“

Ein Faktor, der in wirtschaftlichen Beziehungen, etwa beim Abschluss von Verträgen, eine große Rolle spielt, ist das Gefühl des Vertrauens, das in der Theorie vom Homo oeconomicus gar nicht vorkommt oder das in den neueren rationalen Modellen nur als eine Abwägung zwischen Kosten und Nutzen dargestellt wird. Die Neuroökonomie konnte dagegen in zahlreichen Ex­per­i­menten belegen, dass Gefühle wie Vertrauen unmittelbar an Entschei­dun­gen beteiligt sind. So hängen etwa die Präferenzen von Ver­suchsper­so­nen von ihrem Hor­mon­spiegel ab: Er beeinflusst die Emotionen. Auch verhalten sich Menschen mitunter al­tru­is­tisch, ohne dadurch einen Vorteil zu erzielen.

„Welt selbst ist Deutung.“

Eine weitere von den klassischen Wirtschaftswis­senschaften vernachlässigte Emotion ist die Angst. Studien belegen, dass dieses Gefühl z. B. Fi­nanzentschei­dun­gen wie die Wert­pa­pier­an­lage entschei­dend beeinflusst. So konnten Neuroökonomen zeigen, dass deutsche Anleger, vergleicht man ihr Verhalten mit einer optimalen Fi­nanzs­trate­gie, häufig einen zu großen Teil ihres Vermögens in heimische Titel investieren. Dadurch entgeht ihnen eine potenziell höhere Rendite. In den Un­ter­suchun­gen wurde deutlich, dass bei einer Entschei­dung zwischen in- und ausländischen Wert­pa­pieren mit der Amygdala und dem Hippocampus genau die Hirn­bere­iche aktiviert werden, die mit dem Gefühl der Angst verbunden sind. Dreht sich die Wahl nur um heimische Wertpapiere, sind diese Areale nicht in gleichem Maße tätig. Die Forscher schlossen daraus, dass die Investition in ausländische Aktien für die Anleger ein größeres Risiko bedeutet, Verluste zu machen. Wenn also die Banken höhere Gewinne erzielen wollen, müssen sie die Angst der Anleger künftig ernst nehmen. So könnten Fi­nanzber­ater etwa eine ausführlichere Information über ausländische Anlagen bieten und verstärkt positive Erfahrungen mit der Investition in diese Papiere aufzeigen.

Alles ist subjektiv

Indem die Rolle der Emotionen im wirtschaftlichen Alltag betont wird, macht die Neuroökonomie Schluss mit der Vorstellung, der Mensch sei in seinem Verhalten festgelegt. Davon ging zumindest der Ansatz des Homo oeconomicus aus. Die Verbindung von Wirtschaft und Hirn­forschung rückt dagegen die sich ständig verändernde Beziehung zwischen den Mark­t­teil­nehmern stärker in den Fokus. Die treibende Kraft sind die Emotionen. Sie sind subjektiv und hängen von der Gesamt­si­t­u­a­tion ab, in der sich ein Mensch befindet. Die Neuroökonomie un­ter­stre­icht die Erkenntnis, dass Entschei­dun­gen immer an einen Kontext gebunden sind. Der Akteur ist dabei das Gehirn, das es dem Einzelnen ermöglicht, eine Situation wahrzunehmen, sie gefühlsmäßig zu bewerten und dann zu handeln. Vo­raus­set­zung für Letzteres ist, dass die Person eine Belohnung erhält. Dies kann ein materieller Vorteil, aber auch die Bedienung einer Vorliebe sein. Das Gehirn schüttet in diesem Fall vermehrt Dopamin aus. Die Bewertung von Vorteil oder Vorliebe unterliegt allerdings einem ständigen Wandel. Was heute noch ein Vorteil ist, kann bereits morgen ein Nachteil sein. Darüber hinaus fließen in die Entschei­dun­gen auch immer die eigenen Erwartungen bezüglich der Interessen der anderen Beteiligten mit ein. Die Neuroökonomen folgern daraus, dass es keine objektive Realität gibt. Die Wirk­lichkeit ist immer nur eine Deutung, die sich in jedem Einzelnen aufgrund seiner in­di­vidu­ellen Erfahrungen vollzieht.

Über den Autor

Birger P. Priddat, der Herausgeber dieses Buches, ist Professor für politische Ökonomie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen.