Neuroökonomie – eine neue Wissenschaft
Seit einigen Jahren ist unter Wirtschaftswissenschaftlern ein neuer Trend zu beobachten. Die Ökonomen kehren den in ihrem Fachbereich bekannten Methoden zunehmend den Rücken und bewegen sich stattdessen vermehrt in die Nähe anderer Disziplinen wie der Psychologie und den Naturwissenschaften. Besonderes Augenmerk haben sie dabei auf die Hirnforschung geworfen. Denn neueste technische Entwicklungen ermöglichen nicht nur einen immer genaueren Blick ins Gehirn und damit ein besseres Verständnis des menschlichen Verhaltens. Sie verschaffen den Ökonomen auch die Chance, durch empirische Untersuchungen alltäglicher wirtschaftlicher Abläufe eine rein theoretische Betrachtung zu umgehen. Die neue Verbindung von Hirnforschung und Wirtschaftswissenschaften wird unter dem Namen Neuroökonomie zusammengefasst.
„Ein erklärtes Ziel der neuroökonomischen Forschung ist die vollständige Erklärung des menschlichen Verhaltens in ökonomisch relevanten Situationen.“
Eines der vorrangigen Ziele der neuen Wissenschaft ist die Untersuchung des menschlichen Entscheidungsverhaltens anhand der Strukturen und Vorgänge im Gehirn. Die Forscher erhoffen sich genauere Aufschlüsse über die Gründe etwa für die Wahl eines bestimmten Produkts oder einer konkreten Anlagestrategie an der Börse. Basierten die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts auf der Annahme, dass der Mensch sich bei seinen Entscheidungen weitgehend rational verhält, so liefert die Neuroökonomie ganz neue Einsichten. Ihr zufolge verfügen Individuen so gut wie nie über vollständige Information. Ihr Handeln ist in hohem Maß beeinflussbar, es erfolgt meist unbewusst, ist von Erinnerungen, Gefühlen und dem körperlichen Befinden abhängig und orientiert sich an Gewohnheiten. Zudem ist die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses deutlich geringer als gemeinhin angenommen. Die Folge: Viele Konsumenten sind von einem zu großen Warenangebot schnell überfordert.
„Hirnforschung und Kognitionswissenschaften sind sich darin einig, dass Menschen dann am leichtesten beeinflussbar sind, wenn sie ohnehin bereits zielgerichtet motiviert sind (z. B. auf der Suche sind, eine Erwartungshaltung aufgebaut haben).“
Wichtiger für Unternehmer und Manager ist die Erkenntnis, dass Menschen den größten Teil der Informationen unbewusst verarbeiten und ihre Entscheidungen vor allem auf Emotionen basieren. Dieses Wissen ermöglicht Marketingexperten, ihre Werbebotschaften gezielter zu präsentieren. So werden etwa Werbefilme in kurzen Abständen wiederholt oder Produkte mit emotionalen Botschaften verknüpft, damit sie sich dem Zuschauer oder Zuhörer unbewusst einprägen. Zudem lassen sich die Inhalte solcher Werbung durch geeignete Reize als Erinnerung wieder abrufen. Auch hier hilft ein Ergebnis der Hirnforschung: Das Gehirn bestimmt das gesamte menschliche Verhalten, es ist aber seinerseits sowohl von Außenreizen als auch von inneren Prozessen wie Erinnerungen, Gedanken, Wünschen und Trieben abhängig.
Die Arbeitsweise der Neuroökonomie
Um das menschliche Entscheidungsverhalten im Gehirn ablesen zu können, ist es nicht nur wichtig zu wissen, wie es arbeitet. Die Aussagen müssen sich auch verallgemeinern lassen. Beides erfordert exakte Messmethoden, die eine genaue Zuordnung von Verhaltensweisen zu bestimmten Hirnarealen belegen. Die bislang hauptsächlich genutzten Methoden konzentrieren sich auf zwei Aspekte des Gehirns. Entweder setzen sie an den durch die Hirnzellen fließenden elektrischen Impulsen an. In diesem Fall erfolgt die Messung mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) oder der Magnetenzephalografie (MEG). Oder die Untersuchung stützt sich auf die Stoffwechselprozesse im Gehirn. Die führenden Verfahren sind hier die Positronenemissionstomografie (PET) oder die Magnetresonanztomografie (MRT).
„Wir sind durch eine zu große Auswahl überfordert – weniger ist mehr.“
Während bei EEG und MEG die elektrischen Ströme des Gehirns mittels Elektroden auf der Kopfhaut gemessen werden, spritzt man dem Probanden bei der PET eine radioaktiv markierte Lösung in das Blut. Nur so lassen sich die Stoffwechselprozesse sichtbar machen. Die MRT kommt dagegen ebenfalls ohne solche Eingriffe aus. Hier wird die Funktionsweise des Gehirns anhand eines Magnetfeldes in statische oder auch dynamische Bilder übersetzt.
Der Aufbau des Gehirns
Die wichtigsten Bereiche des Gehirns, die sich mithilfe dieser Verfahren erkunden lassen, sind die linke und die rechte Großhirnrinde sowie die darunterliegenden Strukturen der Basalganglien, des Hippocampus, des limbischen Systems und der Amygdala. Die jüngste Entwicklung in der Evolution des Gehirns ist die Großhirnrinde, die kognitive Aufgaben wie Planung oder bewusstes Denken übernimmt, aber auch für höhere motorische und emotionale Fähigkeiten und Gedächtnisleistungen zuständig ist. Die evolutionsgeschichtlich älteren Hirnareale wie die Basalganglien und das limbische System steuern vor allem motorische Funktionen und emotionale Zustände sowie spezielle Erinnerungen. Die Fähigkeit des gesamten Gehirns besteht schließlich darin, die vielfältigen Aufgaben der einzelnen Teile zu einer einheitlichen Wahrnehmung zu verbinden.
„Bedeutung für Werbung und Produktdarbietung hat sowohl die bewusste als auch die unbewusste Informationsverarbeitung.“
Ein für die Neuroökonomie besonders wichtiger Teil ist das mesolimbische Belohnungssystem. Es umfasst die Amygdala, auch Mandelkern genannt, und den Hippocampus. Diese Gebiete spielen eine große Rolle bei der Frage, ob menschliches Verhalten sich wirklich zuallererst am Erzielen von Gewinn und am Vermeiden von Strafe bzw. Verlust orientiert. Darum ist auch die Absatzwirtschaft und hier vor allem das Marketing ein wichtiges Einsatzfeld für die Neuroökonomie: Zahlreiche Studien belegen, dass gezielte Werbemaßnahmen wie Logos, Produktdesign oder Spots unmittelbar die Emotionen der Konsumenten ansprechen und deren Kaufentscheidungen beeinflussen – nämlich dann, wenn das Marketing in genau denjenigen Hirnstrukturen die Aktivität steigert, die dem Belohnungssystem angehören.
Die Grenzen der Neuroökonomie
Die Verbindung von Hirnforschung und Wirtschaftswissenschaften trifft nicht überall auf Zustimmung. Ein Kritikpunkt sind die hohen Kosten, die der Einsatz aufwändiger Techniken wie MRT oder PET verursacht. Andere Einwände zielen darauf ab, dass die enge Zusammenarbeit der Hirnforscher mit Unternehmen und Marketingexperten die Unabhängigkeit der Forschung untergraben könnte. Außerdem gibt es Befürchtungen, dass die Konsumenten zunehmend durch Werbestrategien manipuliert werden – das könnte auch für politische Werbung gelten, wodurch das demokratische Prinzip gefährdet wäre. Dem halten die Neuroökonomen entgegen, dass man noch weit davon entfernt sei, durch den Blick in das menschliche Gehirn wirklich Gedanken zu lesen und bestimmtes Entscheidungsverhalten hervorzurufen. Und ob das jemals erreicht werden könne, stehe in den Sternen. Vielmehr leiste die Neuroökonomie einen wesentlichen Beitrag, um die Arbeit des Gehirns genauer zu beschreiben. Allerdings, so geben die Neuroökonomen zu, können Marketingexperten auf Basis der Lokalisierung von bestimmten Verhaltensweisen im Gehirn ihre Werbeanreize durchaus bereits präziser setzen als bisher.
„Homo oeconomicus, die klassische Akteurskonstruktion der Ökonomie, hat zwei Schwachpunkte: (1) Kein Mensch kann alle Folgen seiner Handlungen abschätzen, (2) Menschen sind stark auf Kooperation und Vertrauen zu anderen angewiesen.“
Befürchtungen über die Auswirkungen der Hirnforschung auf die Persönlichkeit des Einzelnen haben zur Entstehung des Fachgebiets der Neuroethik geführt. Sie beschäftigt sich mit den Grenzen der Hirnforschung und damit, wie Missbrauch der Forschungsergebnisse vermieden werden kann. So werden z. B. die gesellschaftlichen Folgen einer Beeinflussung der Wahrnehmung durch die Werbung diskutiert oder die Fragen erörtert, wie die Selbstbestimmung der Bürger gewahrt oder die Umwelt geschützt werden kann, wenn die Unternehmen ihre Kunden mit hirngerechter Marketingpropaganda zu immer mehr Konsum anhalten.
Die Bedeutung der Emotionen
Eine der größten Leistungen der Neuroökonomie ist es, die klassischen Annahmen der Wirtschaftswissenschaften hinterfragt zu haben. Bislang gingen Ökonomen in ihren Modellen oft davon aus, dass Marktteilnehmer über vollständige Information verfügen und nur danach streben, ihren eigenen Nutzen zu maximieren. Der so genannte Homo oeconomicus verhält sich dementsprechend immer rational. Der Blick ins menschliche Gehirn zeigt aber, dass die Wirklichkeit ganz anders aussieht: Die Emotionen spielen einen entscheidenden Part bei den Entscheidungen und Handlungen.
„Menschen handeln nicht nur aus Vorteilsabsicht, sondern auch aus Vorlieben.“
Ein Faktor, der in wirtschaftlichen Beziehungen, etwa beim Abschluss von Verträgen, eine große Rolle spielt, ist das Gefühl des Vertrauens, das in der Theorie vom Homo oeconomicus gar nicht vorkommt oder das in den neueren rationalen Modellen nur als eine Abwägung zwischen Kosten und Nutzen dargestellt wird. Die Neuroökonomie konnte dagegen in zahlreichen Experimenten belegen, dass Gefühle wie Vertrauen unmittelbar an Entscheidungen beteiligt sind. So hängen etwa die Präferenzen von Versuchspersonen von ihrem Hormonspiegel ab: Er beeinflusst die Emotionen. Auch verhalten sich Menschen mitunter altruistisch, ohne dadurch einen Vorteil zu erzielen.
„Welt selbst ist Deutung.“
Eine weitere von den klassischen Wirtschaftswissenschaften vernachlässigte Emotion ist die Angst. Studien belegen, dass dieses Gefühl z. B. Finanzentscheidungen wie die Wertpapieranlage entscheidend beeinflusst. So konnten Neuroökonomen zeigen, dass deutsche Anleger, vergleicht man ihr Verhalten mit einer optimalen Finanzstrategie, häufig einen zu großen Teil ihres Vermögens in heimische Titel investieren. Dadurch entgeht ihnen eine potenziell höhere Rendite. In den Untersuchungen wurde deutlich, dass bei einer Entscheidung zwischen in- und ausländischen Wertpapieren mit der Amygdala und dem Hippocampus genau die Hirnbereiche aktiviert werden, die mit dem Gefühl der Angst verbunden sind. Dreht sich die Wahl nur um heimische Wertpapiere, sind diese Areale nicht in gleichem Maße tätig. Die Forscher schlossen daraus, dass die Investition in ausländische Aktien für die Anleger ein größeres Risiko bedeutet, Verluste zu machen. Wenn also die Banken höhere Gewinne erzielen wollen, müssen sie die Angst der Anleger künftig ernst nehmen. So könnten Finanzberater etwa eine ausführlichere Information über ausländische Anlagen bieten und verstärkt positive Erfahrungen mit der Investition in diese Papiere aufzeigen.
Alles ist subjektiv
Indem die Rolle der Emotionen im wirtschaftlichen Alltag betont wird, macht die Neuroökonomie Schluss mit der Vorstellung, der Mensch sei in seinem Verhalten festgelegt. Davon ging zumindest der Ansatz des Homo oeconomicus aus. Die Verbindung von Wirtschaft und Hirnforschung rückt dagegen die sich ständig verändernde Beziehung zwischen den Marktteilnehmern stärker in den Fokus. Die treibende Kraft sind die Emotionen. Sie sind subjektiv und hängen von der Gesamtsituation ab, in der sich ein Mensch befindet. Die Neuroökonomie unterstreicht die Erkenntnis, dass Entscheidungen immer an einen Kontext gebunden sind. Der Akteur ist dabei das Gehirn, das es dem Einzelnen ermöglicht, eine Situation wahrzunehmen, sie gefühlsmäßig zu bewerten und dann zu handeln. Voraussetzung für Letzteres ist, dass die Person eine Belohnung erhält. Dies kann ein materieller Vorteil, aber auch die Bedienung einer Vorliebe sein. Das Gehirn schüttet in diesem Fall vermehrt Dopamin aus. Die Bewertung von Vorteil oder Vorliebe unterliegt allerdings einem ständigen Wandel. Was heute noch ein Vorteil ist, kann bereits morgen ein Nachteil sein. Darüber hinaus fließen in die Entscheidungen auch immer die eigenen Erwartungen bezüglich der Interessen der anderen Beteiligten mit ein. Die Neuroökonomen folgern daraus, dass es keine objektive Realität gibt. Die Wirklichkeit ist immer nur eine Deutung, die sich in jedem Einzelnen aufgrund seiner individuellen Erfahrungen vollzieht.