Die Großen fressen die Kleinen
Die Räuber fressen Beutetiere und die Rinder Gras. Dass die Großen die Kleinen fressen, die sich nicht wehren können, ist kein moralisches Urteil, sondern ein Naturgesetz, das auch in der Menschenwirtschaft gilt. Solange es reichlich Gras oder Beutetiere gibt, vermehren sich die Großen bzw. die Räuber. Weil dabei immer eine gewisse Zeitverzögerung mit im Spiel ist, geht das eine Weile gut.
„Die Räubergemeinschaft lebt über ihre Verhältnisse.“
Ökonomisch betrachtet ist dies der Aufschwung. Irgendwann werden die Beutefresser fettleibig, und schließlich nimmt ihre Zahl so sehr überhand, dass die Nahrung knapp wird. Damit beginnt der Abschwung. Meist wird jetzt der sprichwörtliche Gürtel enger geschnallt, es wird hektisch restrukturiert, gespart, man besinnt sich aufs Kerngeschäft. Wenn es ganz bitter kommt, wird das Beuteangebot so knapp, dass auch die Beutefresser dezimiert werden. Erst dann hat die Beutepopulation eine Chance, sich zu erholen. Manchmal kommt Rettung von außen: Eine neue Welt mit neuen Ressourcen wird entdeckt; neue Märkte, neue Produkte oder andere Innovationen eröffnen neue Jagdgründe.
Die klassischen Rezepte für das Gleichgewicht des Marktes
Verschiedene theoretische Modelle zeigen auf, wie man von diesem zyklischen Schema zu einem Gleichgewicht kommen kann:
- Die klassische Theorie von Adam Smith will alles der „unsichtbaren Hand“ überlassen, die das Marktgeschehen und seine Exzesse reguliert und so am schnellsten die Balance herstellt. Das egoistische Verhalten Einzelner führt demnach in seiner Gesamtheit zum Gemeinnutzen aller.
- Die Planwirtschaft sieht vor, dass der Staat die für alle notwendigen Gütermengen festlegt, produzieren lässt und verteilt. Dadurch sind unerwünschte Schwankungen ausgeschlossen. Dieses Modell hat sich historisch erledigt.
- Der Keynesianismus empfiehlt angesichts der Unvernunft der Wirtschaftssubjekte, dass wenigstens der Staat vernünftig sein und im Bedarfsfall eine antizyklische Nachfragepolitik verfolgen soll, um krasse ökonomische Ausschläge abzudämpfen. Der Staat spart also in der Zeit der Hochkonjunktur und verzichtet z. B. auf eine Vermehrung der Beamtenstellen und Autobahnprojekte, sodass er in der Not wieder investieren, dadurch die Folgen der Flaute abfangen und die Wirtschaft neu beleben kann. Manche Keynesianer verlangen vom Staat in solchen Situation sogar, notfalls Schulden zu machen („deficit spending“).
Woran die Rezepte scheitern: Phasic Instinct
Wenn die Wirtschaftsdynamik abflaut, besteht das Problem der Keynesianer darin, dass sie erst dann investieren wollen, wenn das Geld bereits knapp wird. Das führt schließlich zur Forderung nach „deficit spending“. Und die auf Adam Smith schwörenden Unternehmer drücken die Löhne und entlassen die Arbeiter, die nun erst recht nichts mehr zur Konjunktur beitragen können.
„Wir sehen zu, dass der Einzelne seinen Vorteil mitnimmt und mit den sofort folgenden Nachahmern zusammen alles in die Tiefe zieht.“
Sie alle folgen letztlich dem „Phasic Instinct“, dem in der jeweiligen Situation gerade vorherrschenden Trend: Geht es aufwärts, wollen alle mehr. Geht es abwärts, heißt es: Rette sich, wer kann! Den aus der Bibel bekannten Rat Josephs an den Pharao, in den sieben fetten Jahren maßzuhalten und Vorsorge für die sieben mageren Jahre zu treffen, beherzigt niemand. Das Lemming- oder Herdenverhalten der Menschen verstärkt zudem den jeweiligen Trend. Diesen kann keiner mehr bremsen, bis er sich im Extrem erschöpft hat und es zu einer Phasenumkehr kommt. Das Umschalten zwischen rationalem zu irrationalem Handeln berücksichtigt die akademische Lehre nicht. Sie geht immer vom rational handelnden Verbraucher aus.
Der Schweinezyklus
Das zyklische Auf und Ab der Konjunktur ist mittlerweile bestens bekannt und erforscht. Bahnbrechend war 1928 eine Dissertation von Arthur Hanau über die Schweinepreise: Sind diese hoch, züchten die schlauen Bauern noch mehr Schweine, verknappen aber gleichzeitig das Angebot, sodass die Schlachtpreise steigen. Für eine Weile profitieren sie extrem davon. Doch nach einer gewissen Zeit sind die Preise so arg gestiegen, dass die Verbraucher auf Hühnerfleisch ausweichen. Inzwischen sind die herangewachsenen Ferkel schlachtreif und kommen in Massen auf einen geschrumpften Markt. Um die Verbraucher überhaupt wieder zum Schweinefleischkonsum zu animieren, müssen nun die Schweinefleischpreise massiv gesenkt werden.
„Tatsächlich herrscht der Instinkt, die Gier und die Euphorie im Auf, der Verdrängungskampf im Ab. Phasic Instinct.“
Genauso verhält es sich mit Handys und Handyverträgen, mit der Bedarfsplanung für Lehrer usw. Ausschlaggebend ist immer das „schlaue“ Verhalten Einzelner, die von der bestehenden Situation besonders profitieren wollen. Und alle anderen machen es nach. So verläuft es auch bei Phänomenen wie Preiskämpfen oder Autobahndränglern: Einer pfeift auf die Mitverantwortung, die jeder für das Funktionieren des Systems trägt, er macht Stress, der sich auf andere überträgt, die dann ebenso handeln. Irgendwann kollabiert das System.
Der Zitronenmarkt
Ein weiteres klassisches Beispiel für „lokale Schläue“ ist der Handel mit aufgemotzten Gebrauchtwagen, die ihr Geld nicht wert sind, was der Laie aber nicht erkennt. Diese Autos werden im Amerikanischen „Zitronen“ („lemons“) genannt. Weitere Beispiele für „Zitronen“ sind nachgeahmte Markenprodukte (vor allem im Massenmarkt Bekleidung) sowie bewusst undurchsichtig gestaltete Handytarife, Bankkonditionen, Stromverträge usw.
„Der ganz freie Markt erzeugt Arm und Reich, oben und unten, Privatjets und Slums. Die klassische Wirtschaftstheorie ist in Herrenhäusern entstanden.“
Zurück zu den Gebrauchtwagen: Weil sich die Praktik der Händler doch irgendwann herumspricht, wird nun jeder Kaufinteressent beim Gebrauchtwagenkauf massiv feilschen und den Preis zu drücken versuchen – auch bei soliden Angeboten. Unter Umständen verdrängen dadurch wenige schlechte die Mehrzahl der guten Angebote. Was hier verloren gegangen ist, ist Vertrauen. Und dieser Schaden lässt sich noch viel schwieriger beheben als das schlechte Preisimage im Schweinebeispiel.
Körperzyklen ...
Stellen Sie sich die Gemütslage eines entspannt arbeitenden Pflichtmenschen vor, der ohne übermäßige Erregung seiner Arbeit nachgeht. Er verfolgt von außen vorgegebene Ziele, arbeitet seine Aufgaben ab und erfüllt sie. Dieser Typus ist „telic“ (zielgerichtet).
„Die Zyklen schaukeln sich schon dann auf, wenn nur einige ganz wenige Marktteilnehmer ‚sehr schlau‘ sind und Unruhe schaffen.“
Dem gegenüber steht der Hektische, der für das Arbeiten besonderen Druck (z. B. Termine), Anreize (z. B. Incentives, Prämien), „Fun“ und u. U. sogar Aufputschmittel braucht. Er arbeitet selbstmotiviert und selbstbestimmt, er steigert sich hinein, leistet Überdurchschnittliches und Kreatives, kurz: Er ist in einem Zustand, der als „paratelic“ (den Zustand genießend) bezeichnet wird.
„Wenn in einem Markt Unklarheit über die Qualität des Angebots herrscht, dann verlassen die guten Angebote den Markt.“
Bei den beschriebenen Körperzuständen sind verschiedene Hormone beteiligt wie Endorphine (Glückshormone), Serotonin (regelt den Schlaf-wach-Rhythmus), Adrenalin (setzt im Stressfall Notreserven frei) u. a. Messbar sind die Körperzyklen durch das Elektroenzephalogramm (EEG). Relevant sind vor allem die dabei gemessenen Alpha- und Betawellen. Betawellen gehen meist mit einem Adrenalinausstoß einher. Dieser Stresszustand ist als Ausnahme für Notsituationen willkommen und sinnvoll, aber nicht als Dauerzustand.
„Die Ökonomie versucht, alles in ihr strenges Angebots- und Nachfragekonzept zu pressen. Alles muss einen Preis haben. Das geht mit sittlichen oder ethischen Werten nicht! Weil diese also nicht gemessen werden können, haben sie in der modernen Ökonomie keinen Wert und bleiben außer Betracht.“
Solche physiologischen Untersuchungen zeigen, dass die körperliche Konstitution des Menschen sein Phasic-Instinct-Verhalten offenbar unterstützt. Auch das wirtschaftliche Denken und Handeln des Einzelnen ist von diesen physiologischen Vorgängen abhängig.
... und wirtschaftliche Zyklen
In wirtschaftlichen Abschwungphasen wird das gesamte System durch Gier und „lokale Schläue“, also unverantwortliches, egoistisches Handeln in Stress versetzt. Unter Stress reagieren auch die Telic-Typen wie Paratelics, und es kommt eine unaufhaltsame Aggressionsspirale in Gang.
„Abschwung ist stressig und voller erbitterter Energie, die sich gegen drohendes Verhängnis stemmt.“
Unternehmen funktionieren im Abschwung nur noch nach dem Prinzip von Command and Control und reagieren mit Maßnahmen wie Kosteneinsparungen, Downsizing, Benchmarking, Ranking, Scorecards, Outsourcing, Einschränkung von Sozialleistungen, Schließungen oder Entlassungen.
Dagegen gelten Innovation, Forschung und Entwicklung, Erfahrung und Qualität als Luxus. Die Individuen fühlen sich unter Stress gesetzt, gegängelt, ausgenutzt und übervorteilt, sie verzichten auf Selbstverwirklichung und höhere Interessen und fangen selbst an zu feilschen und nur noch den eigenen Vorteil zu verfolgen – jeder gegen jeden.
Kaizen
Ein vorbildhaftes Managementmodell, nicht nur für die klassische industrielle Fertigung, ist Kaizen von Toyota. Es ist als „Lean Management“ im Westen vielfach nachgeahmt, aber auch vielfach missverstanden worden.
„Auch heute noch geht man in der universitären Lehre vom ‚rationalen‘ Verbraucher oder Kunden aus. Der nimmt stets bei gleichem Nutzen den niedrigsten Preis.“
Letzteres hauptsächlich deshalb, weil es als repressives Stressinstrument missbraucht wurde und weil man das ursprünglich positive Menschenbild, das den einzelnen Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellt, außer Acht ließ. Kaizen hat eine langfristige Perspektive im Hinblick auf umfassende Qualitätsverbesserung, es ist kein kurzfristiges Kostensparprogramm. Nur so machen die drei wichtigen Kaizen-Faktoren Muda, Muri und Mura Sinn:
- Vermeide Verschwendung (Muda), also Überproduktion und unnötigen Aufwand, etwa hohe Lagerbestände.
- Vermeide Überlastung (Muri), von Maschinen, aber vor allem auch von Menschen. Diese sollen zwar diszipliniert, aber auch stressfrei und motiviert arbeiten können.
- Vermeide Unregelmäßigkeiten (Mura) von Abläufen, denn das sind Fehlerquellen.
Die Generaltugend: maßhalten
Um die fatalen Konjunkturzyklen nachhaltig zu durchbrechen, bedarf es der Einsicht in ihre anthropologischen Zusammenhänge (Stichwort: Phasic Instinct). Außerdem braucht es eine echte Führerschaft, die Vertrauen aufbaut, Verantwortung wahrnimmt und auf Kooperation setzt, die Menschen zu kreativer und innovativer Gestaltung mitnimmt und aufs Maßhalten achtet.
„Das Umschalten in der Natur des Menschen wird in der Wirtschaftstheorie nicht thematisiert.“
Ansätze dieser Art von Ökonomie lassen sich durchaus finden. Zum Beispiel in allen gut geführten Familienunternehmen, auch solchen großen Zuschnitts wie BMW oder Dr. Oetker. Oder in Internetunternehmen wie eBay (das nur organisiert, aber nicht besitzt) und Wikipedia. Und vor allem im Web 2.0 mit seinen Netzwerken.
„Shareholder-Value-Denken sahnt alles ab, nimmt alles mit und hinterlässt Misstrauen und verbrannte Erde.“
Die fast schon uralte Weisheit der praktischen Philosophie, das Maßhalten, das Einhalten der rechten Mitte, das Scheuen der Extreme, muss wiederbelebt werden. Diese Art von Management hat eine ganz andere Qualität als das herkömmliche ideenlose Managen, das Erfolgsmuster kopiert, antreibt, Druck macht, Controlling ausübt, ein Shareholder-Value-Denken pflegt und im Zweifelsfalle schreit: Rette sich, wer kann!
Prof. Dr. Gunter Dueck, studierter Betriebswirt und Mathematiker, war Professor für Mathematik an der Universität Bielefeld. Heute ist er Cheftechnologe bei IBM und führendes Mitglied einer Vielzahl akademischer Vereinigungen. Er hat eine Reihe von Büchern zu ökonomischen Themen verfasst, darunter Lean Brain Management (ausgezeichnet mit dem BooksInShort-Wirtschaftsbuchpreis 2006) oder Wild Duck.