Abschied vom Homo oeconomicus

Buch Abschied vom Homo oeconomicus

Warum wir eine neue ökonomische Vernunft brauchen

Eichborn,


Rezension

Gunter Dueck hat wieder zugeschla­gen. Und lässt im ehrwürdigen Tempel der Ökonomie kaum einen Stein auf dem anderen. Da ist zunächst der Homo oeconomicus, der stets rational handelnde Mensch: Bei gle­ich­w­er­ti­gen Angeboten entscheidet er sich angeblich immer für das mit dem günstigeren Preis. Gegen solche mech­a­nis­tis­chen, vere­in­fachen­den Vorstel­lun­gen schreibt Dueck lei­den­schaftlich an. In Wirk­lichkeit verhalten sich die Wirtschaftssub­jekte nämlich wie Herdenvieh und laufen den angesagten Konsum- und Man­age­ment­trends hinterher. Dadurch kommt es auch makroökonomisch zu kon­junk­turellen Pendelschwüngen. Trotz aller Lei­den­schaft ar­gu­men­tiert der Autor kühl und logisch. Man denkt: Hier hat einer wirklich mal klare Vorstel­lun­gen. Dueck schildert das ewige Auf und Ab der Wirtschaft, die Schweinezyklen, die Kon­drati­eff-Zyklen – und wird dabei selbst ein bisschen zyklisch: Die eine oder andere Wieder­hol­ung weniger wäre auch okay gewesen. Aber Duecks Vision eines re­al­is­tis­chen und humanen Bildes vom Homo oeconomicus ist sehr überzeugend, findet BooksInShort und empfiehlt das Buch nachdrücklich allen Managern, Politikern, Jour­nal­is­ten und Studenten.

Take-aways

  • Das Modell vom jederzeit rational handelnden, ökonomischen Menschen ist überholt.
  • Es vernachlässigt die Dynamik, die sich aus dem men­schlichen In­stink­tver­hal­ten ergibt.
  • Im kon­junk­turellen Aufschwung mangelt es in der Regel an ökonomischer Vernunft, an Maßhalten und an Vorsorge.
  • Im Abschwung kann sich niemand mehr den Stress­fak­toren entziehen, oft bis zum bitteren Ende, an dem sich sogar die Starken gegenseitig auffressen.
  • Durch Nachahmung des in­stink­t­getriebe­nen Handelns entstehen Trends und kon­junk­turelle Zyklen.
  • Weder Lib­er­al­is­mus noch Kommunismus noch Key­ne­sian­is­mus bieten Rezepte gegen das ewige Auf und Ab der Kon­junk­turzyklen.
  • Viele Man­age­men­tkonzepte laufen auf ein mehr oder weniger verhülltes Com­mand-and-Con­trol-Sys­tem hinaus, um Krisen zu steuern.
  • Die klassische praktische Weisheit des Maßhaltens, des Wahrens der rechten Mitte wird außer Acht gelassen.
  • Wahre Führung muss nach den Stärken und der Optimierung jedes Einzelnen fragen und zu ve­r­ant­wor­tungsvollem und diszi­plin­iertem Handeln anleiten.
  • Ein Vorbild ist das japanische Kaizen, das im Westen meistens als „Lean Management“ missver­standen wird.
 

Zusammenfassung

Die Großen fressen die Kleinen

Die Räuber fressen Beutetiere und die Rinder Gras. Dass die Großen die Kleinen fressen, die sich nicht wehren können, ist kein moralisches Urteil, sondern ein Naturgesetz, das auch in der Men­schen­wirtschaft gilt. Solange es reichlich Gras oder Beutetiere gibt, vermehren sich die Großen bzw. die Räuber. Weil dabei immer eine gewisse Zeitverzögerung mit im Spiel ist, geht das eine Weile gut.

„Die Räuberge­mein­schaft lebt über ihre Verhältnisse.“

Ökonomisch betrachtet ist dies der Aufschwung. Irgendwann werden die Beutefresser fettleibig, und schließlich nimmt ihre Zahl so sehr überhand, dass die Nahrung knapp wird. Damit beginnt der Abschwung. Meist wird jetzt der sprichwörtliche Gürtel enger geschnallt, es wird hektisch re­struk­turi­ert, gespart, man besinnt sich aufs Kerngeschäft. Wenn es ganz bitter kommt, wird das Beuteange­bot so knapp, dass auch die Beutefresser dezimiert werden. Erst dann hat die Beutepop­u­la­tion eine Chance, sich zu erholen. Manchmal kommt Rettung von außen: Eine neue Welt mit neuen Ressourcen wird entdeckt; neue Märkte, neue Produkte oder andere In­no­va­tio­nen eröffnen neue Jagdgründe.

Die klassischen Rezepte für das Gle­ichgewicht des Marktes

Ver­schiedene the­o­retis­che Modelle zeigen auf, wie man von diesem zyklischen Schema zu einem Gle­ichgewicht kommen kann:

  • Die klassische Theorie von Adam Smith will alles der „un­sicht­baren Hand“ überlassen, die das Mark­t­geschehen und seine Exzesse reguliert und so am schnellsten die Balance herstellt. Das egoistische Verhalten Einzelner führt demnach in seiner Gesamtheit zum Gemein­nutzen aller.
  • Die Plan­wirtschaft sieht vor, dass der Staat die für alle notwendigen Gütermengen festlegt, produzieren lässt und verteilt. Dadurch sind unerwünschte Schwankun­gen aus­geschlossen. Dieses Modell hat sich historisch erledigt.
  • Der Key­ne­sian­is­mus empfiehlt angesichts der Unvernunft der Wirtschaftssub­jekte, dass wenigstens der Staat vernünftig sein und im Bedarfsfall eine an­tizyk­lis­che Nach­frage­poli­tik verfolgen soll, um krasse ökonomische Ausschläge abzudämpfen. Der Staat spart also in der Zeit der Hochkon­junk­tur und verzichtet z. B. auf eine Vermehrung der Beamten­stellen und Au­to­bah­n­pro­jekte, sodass er in der Not wieder investieren, dadurch die Folgen der Flaute abfangen und die Wirtschaft neu beleben kann. Manche Keynesianer verlangen vom Staat in solchen Situation sogar, notfalls Schulden zu machen („deficit spending“).

Woran die Rezepte scheitern: Phasic Instinct

Wenn die Wirtschafts­dy­namik abflaut, besteht das Problem der Keynesianer darin, dass sie erst dann investieren wollen, wenn das Geld bereits knapp wird. Das führt schließlich zur Forderung nach „deficit spending“. Und die auf Adam Smith schwörenden Unternehmer drücken die Löhne und entlassen die Arbeiter, die nun erst recht nichts mehr zur Konjunktur beitragen können.

„Wir sehen zu, dass der Einzelne seinen Vorteil mitnimmt und mit den sofort folgenden Nachahmern zusammen alles in die Tiefe zieht.“

Sie alle folgen letztlich dem „Phasic Instinct“, dem in der jeweiligen Situation gerade vorherrschen­den Trend: Geht es aufwärts, wollen alle mehr. Geht es abwärts, heißt es: Rette sich, wer kann! Den aus der Bibel bekannten Rat Josephs an den Pharao, in den sieben fetten Jahren maßzuhalten und Vorsorge für die sieben mageren Jahre zu treffen, beherzigt niemand. Das Lemming- oder Her­den­ver­hal­ten der Menschen verstärkt zudem den jeweiligen Trend. Diesen kann keiner mehr bremsen, bis er sich im Extrem erschöpft hat und es zu einer Phasenumkehr kommt. Das Umschalten zwischen rationalem zu ir­ra­tionalem Handeln berücksichtigt die akademische Lehre nicht. Sie geht immer vom rational handelnden Verbraucher aus.

Der Schweinezyk­lus

Das zyklische Auf und Ab der Konjunktur ist mit­tler­weile bestens bekannt und erforscht. Bahn­brechend war 1928 eine Dis­ser­ta­tion von Arthur Hanau über die Schweinepreise: Sind diese hoch, züchten die schlauen Bauern noch mehr Schweine, verknappen aber gle­ichzeitig das Angebot, sodass die Schlacht­preise steigen. Für eine Weile profitieren sie extrem davon. Doch nach einer gewissen Zeit sind die Preise so arg gestiegen, dass die Verbraucher auf Hühnerfleisch ausweichen. Inzwischen sind die herangewach­se­nen Ferkel schlachtreif und kommen in Massen auf einen geschrumpften Markt. Um die Verbraucher überhaupt wieder zum Schweine­fleis­chkon­sum zu animieren, müssen nun die Schweine­fleis­ch­preise massiv gesenkt werden.

„Tatsächlich herrscht der Instinkt, die Gier und die Euphorie im Auf, der Verdrängungskampf im Ab. Phasic Instinct.“

Genauso verhält es sich mit Handys und Handyverträgen, mit der Be­darf­s­pla­nung für Lehrer usw. Auss­chlaggebend ist immer das „schlaue“ Verhalten Einzelner, die von der bestehenden Situation besonders profitieren wollen. Und alle anderen machen es nach. So verläuft es auch bei Phänomenen wie Preiskämpfen oder Autobahndränglern: Einer pfeift auf die Mitver­ant­wor­tung, die jeder für das Funk­tion­ieren des Systems trägt, er macht Stress, der sich auf andere überträgt, die dann ebenso handeln. Irgendwann kollabiert das System.

Der Zitro­nen­markt

Ein weiteres klassisches Beispiel für „lokale Schläue“ ist der Handel mit aufge­motzten Ge­braucht­wa­gen, die ihr Geld nicht wert sind, was der Laie aber nicht erkennt. Diese Autos werden im Amerikanis­chen „Zitronen“ („lemons“) genannt. Weitere Beispiele für „Zitronen“ sind nachgeahmte Marken­pro­dukte (vor allem im Massenmarkt Bekleidung) sowie bewusst un­durch­sichtig gestaltete Handytarife, Bankkon­di­tio­nen, Stromverträge usw.

„Der ganz freie Markt erzeugt Arm und Reich, oben und unten, Privatjets und Slums. Die klassische Wirtschaft­s­the­o­rie ist in Herrenhäusern entstanden.“

Zurück zu den Ge­braucht­wa­gen: Weil sich die Praktik der Händler doch irgendwann herum­spricht, wird nun jeder Kaufin­ter­essent beim Ge­braucht­wa­genkauf massiv feilschen und den Preis zu drücken versuchen – auch bei soliden Angeboten. Unter Umständen verdrängen dadurch wenige schlechte die Mehrzahl der guten Angebote. Was hier verloren gegangen ist, ist Vertrauen. Und dieser Schaden lässt sich noch viel schwieriger beheben als das schlechte Preisimage im Schweinebeispiel.

Körperzyklen ...

Stellen Sie sich die Gemütslage eines entspannt arbeitenden Pflicht­men­schen vor, der ohne übermäßige Erregung seiner Arbeit nachgeht. Er verfolgt von außen vorgegebene Ziele, arbeitet seine Aufgaben ab und erfüllt sie. Dieser Typus ist „telic“ (ziel­gerichtet).

„Die Zyklen schaukeln sich schon dann auf, wenn nur einige ganz wenige Mark­t­teil­nehmer ‚sehr schlau‘ sind und Unruhe schaffen.“

Dem gegenüber steht der Hektische, der für das Arbeiten besonderen Druck (z. B. Termine), Anreize (z. B. Incentives, Prämien), „Fun“ und u. U. sogar Auf­putschmit­tel braucht. Er arbeitet selb­st­mo­tiviert und selb­st­bes­timmt, er steigert sich hinein, leistet Überdurch­schnit­tliches und Kreatives, kurz: Er ist in einem Zustand, der als „paratelic“ (den Zustand genießend) bezeichnet wird.

„Wenn in einem Markt Unklarheit über die Qualität des Angebots herrscht, dann verlassen die guten Angebote den Markt.“

Bei den beschriebe­nen Körperzuständen sind ver­schiedene Hormone beteiligt wie Endorphine (Glückshormone), Serotonin (regelt den Schlaf-wach-Rhyth­mus), Adrenalin (setzt im Stressfall Notreserven frei) u. a. Messbar sind die Körperzyklen durch das Elek­troen­zephalo­gramm (EEG). Relevant sind vor allem die dabei gemessenen Alpha- und Betawellen. Betawellen gehen meist mit einem Adren­a­lin­ausstoß einher. Dieser Stresszu­s­tand ist als Ausnahme für Not­si­t­u­a­tio­nen willkommen und sinnvoll, aber nicht als Dauerzu­s­tand.

„Die Ökonomie versucht, alles in ihr strenges Angebots- und Nach­fragekonzept zu pressen. Alles muss einen Preis haben. Das geht mit sittlichen oder ethischen Werten nicht! Weil diese also nicht gemessen werden können, haben sie in der modernen Ökonomie keinen Wert und bleiben außer Betracht.“

Solche phys­i­ol­o­gis­chen Un­ter­suchun­gen zeigen, dass die körperliche Kon­sti­tu­tion des Menschen sein Pha­sic-In­stinct-Ver­hal­ten offenbar unterstützt. Auch das wirtschaftliche Denken und Handeln des Einzelnen ist von diesen phys­i­ol­o­gis­chen Vorgängen abhängig.

... und wirtschaftliche Zyklen

In wirtschaftlichen Ab­schwung­phasen wird das gesamte System durch Gier und „lokale Schläue“, also un­ver­ant­wortliches, ego­is­tis­ches Handeln in Stress versetzt. Unter Stress reagieren auch die Telic-Typen wie Paratelics, und es kommt eine unaufhalt­same Ag­gres­sion­sspi­rale in Gang.

„Abschwung ist stressig und voller erbitterter Energie, die sich gegen drohendes Verhängnis stemmt.“

Unternehmen funk­tion­ieren im Abschwung nur noch nach dem Prinzip von Command and Control und reagieren mit Maßnahmen wie Kosteneinsparun­gen, Downsizing, Bench­mark­ing, Ranking, Scorecards, Outsourcing, Einschränkung von Sozialleis­tun­gen, Schließungen oder Ent­las­sun­gen.

Dagegen gelten Innovation, Forschung und Entwicklung, Erfahrung und Qualität als Luxus. Die Individuen fühlen sich unter Stress gesetzt, gegängelt, ausgenutzt und übervorteilt, sie verzichten auf Selb­stver­wirk­lichung und höhere Interessen und fangen selbst an zu feilschen und nur noch den eigenen Vorteil zu verfolgen – jeder gegen jeden.

Kaizen

Ein vor­bild­haftes Man­age­ment­mod­ell, nicht nur für die klassische in­dus­trielle Fertigung, ist Kaizen von Toyota. Es ist als „Lean Management“ im Westen vielfach nachgeahmt, aber auch vielfach missver­standen worden.

„Auch heute noch geht man in der universitären Lehre vom ‚rationalen‘ Verbraucher oder Kunden aus. Der nimmt stets bei gleichem Nutzen den niedrigsten Preis.“

Letzteres hauptsächlich deshalb, weil es als repressives Stressin­stru­ment missbraucht wurde und weil man das ursprünglich positive Men­schen­bild, das den einzelnen Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellt, außer Acht ließ. Kaizen hat eine langfristige Perspektive im Hinblick auf umfassende Qualitätsverbesserung, es ist kein kurzfristiges Kostensparpro­gramm. Nur so machen die drei wichtigen Kaizen-Fak­toren Muda, Muri und Mura Sinn:

  • Vermeide Ver­schwen­dung (Muda), also Überpro­duk­tion und unnötigen Aufwand, etwa hohe Lagerbestände.
  • Vermeide Überlastung (Muri), von Maschinen, aber vor allem auch von Menschen. Diese sollen zwar diszi­plin­iert, aber auch stressfrei und motiviert arbeiten können.
  • Vermeide Unregelmäßigkeiten (Mura) von Abläufen, denn das sind Fehlerquellen.

Die Gen­er­al­tugend: maßhalten

Um die fatalen Kon­junk­turzyklen nachhaltig zu durch­brechen, bedarf es der Einsicht in ihre an­thro­pol­o­gis­chen Zusammenhänge (Stichwort: Phasic Instinct). Außerdem braucht es eine echte Führerschaft, die Vertrauen aufbaut, Ve­r­ant­wor­tung wahrnimmt und auf Kooperation setzt, die Menschen zu kreativer und innovativer Gestaltung mitnimmt und aufs Maßhalten achtet.

„Das Umschalten in der Natur des Menschen wird in der Wirtschaft­s­the­o­rie nicht the­ma­tisiert.“

Ansätze dieser Art von Ökonomie lassen sich durchaus finden. Zum Beispiel in allen gut geführten Fam­i­lienun­ternehmen, auch solchen großen Zuschnitts wie BMW oder Dr. Oetker. Oder in In­ter­ne­tun­ternehmen wie eBay (das nur organisiert, aber nicht besitzt) und Wikipedia. Und vor allem im Web 2.0 mit seinen Netzwerken.

„Share­holder-Value-Denken sahnt alles ab, nimmt alles mit und hinterlässt Misstrauen und verbrannte Erde.“

Die fast schon uralte Weisheit der praktischen Philosophie, das Maßhalten, das Einhalten der rechten Mitte, das Scheuen der Extreme, muss wieder­belebt werden. Diese Art von Management hat eine ganz andere Qualität als das herkömmliche ideenlose Managen, das Er­fol­gsmuster kopiert, antreibt, Druck macht, Controlling ausübt, ein Share­holder-Value-Denken pflegt und im Zweifels­falle schreit: Rette sich, wer kann!

Über den Autor

Prof. Dr. Gunter Dueck, studierter Be­trieb­swirt und Math­e­matiker, war Professor für Mathematik an der Universität Bielefeld. Heute ist er Cheftech­nologe bei IBM und führendes Mitglied einer Vielzahl akademis­cher Vere­ini­gun­gen. Er hat eine Reihe von Büchern zu ökonomischen Themen verfasst, darunter Lean Brain Management (aus­geze­ich­net mit dem BooksInShort-Wirtschafts­buch­preis 2006) oder Wild Duck.