Chinesische Weihnachten
Man könnte meinen, Weihnachten sei ein Fest der westlichen Christenheit. Weit gefehlt. Ohne das weitgehend unchristliche Asien wäre der Weihnachtsmann nur ein Angeber, und der Gabentisch würde seinen Namen nicht verdienen. Die meisten Geschenke, zumindest in Amerika, sind aus China – dem immer noch kommunistischen Rot-China. Diese Erkenntnis gewinnt Sara Bongiorni aus Baton Rouge, im US-Staat Louisiana, zu Weihnachten 2004. Nach der Bescherung zieht sie Bilanz und stellt fest: 25 Artikel unter dem Weihnachtsbaum stammen aus dem Reich der Mitte, nur 14 aus dem gesamten Rest der Welt.
„Machen Sie sich jemals Sorgen darüber, dass Sie eines Morgens aufwachen mit einem Kleiderschrank voller preisreduzierter Designerklamotten und mit hundert Paaren chinesischer Schuhe, aber keinen Job mehr haben, keine Zukunft, keine Perspektive?“
In objektiven Zahlen bedeutet das ein immenses Handelsbilanzdefizit der USA gegenüber China. 2005 stieg es um ein Viertel an und betrug über 200 Milliarden US-Dollar. 2006 waren es bereits über 232, 2007 schon 237 Milliarden. Die Folgen sind bekannt: Einheimische Fabriken können dem Preisdruck aus Fernost nicht mehr standhalten und müssen ihre Pforten schließen oder die Fabrikation ins Ausland verlagern. Jobs gehen verloren. Durch die neue wirtschaftliche Orientierung, die die Parteileitung angeordnet hat, ist China Stück für Stück zum größten Produzenten von Fernsehgeräten, Handys, DVD-Playern, Textilien, Lampen und Schuhen geworden. Der größte Teil der amerikanischen Sportgeräte stammt aus dem Reich der Mitte, Dekorationsmaterial, Nippes aller Art, 95 % aller Videospiele und nahezu das gesamte Kinderspielzeug. Der Aufdruck „Made in USA“ findet sich so gut wie nicht mehr auf den Produkten des täglichen Bedarfs.
Die Boykott-Idee
Angesichts der chinesischen Übermacht reifte in Bongiorni die Idee eines Experiments: Wäre es möglich, China aus dem Haus zu halten? Dabei geht es ihr nicht in erster Linie um eine politische Aktion oder um eine nationalistische Kampagne im Stil von „Buy American!“; was ihr vorschwebt, ist vielmehr ein nüchterner, quasi-wissenschaftlicher Versuch. Sara stellt klare Regeln auf: Produkte, die aus China stammen und schon im Haushalt sind, dürfen bleiben. Geschenke anderer Leute, die in China produziert wurden, dürfen angenommen werden. Ansonsten aber gilt: Jede Ware, die mit einem Etikett „Made in China“ versehen ist, wird ab dem 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2005 nicht mehr gekauft. Bei Artikeln, deren Herkunft nicht sofort identifizierbar ist, wird nachgefragt. Und wenn sich die chinesische Herkunft erst im Nachhinein herausstellen sollte, wird die Ware zurückgebracht. Der Boykott gilt für die ganze Familie: Sara, Gatte Kevin, den vierjährigen Sohn, die einjährige Tochter. Das Töchterchen ist noch so klein, dass es kaum merken wird, was ihm in diesem Jahr alles fehlen wird. Doch Saras Mann und ihr Sohn Wes werden unter dem Boykott zu leiden haben.
Erste Mangelerscheinungen
Die Kaffeemaschine ist kaputt. Beim Versuch, eine neue zu kaufen, stellt die Familie fest, dass es nur chinesische oder aber sehr teure Maschinen im Angebot hat. Das ist nicht weiter schlimm; ab jetzt wird der Kaffee eben von Hand aufgebrüht. Wes, dem Sohn, werden die Turnschuhe zu eng. Seine Mutter versucht, ihm neue zu kaufen. Ein Abenteuer, das sie viel Zeit und Geld kostet. Obwohl Sara in verschiedenen Schuhgeschäften die Regale durchstöbert und mit mehreren Versandhäusern E-Mails austauscht, findet sie nur unter größten Anstrengungen passende Schuhe für ihren Sohn – ein italienisches Designer-Modell für 68 Dollar, mehr als eine afghanische Familie pro Monat zur Verfügung hat. Bei ihren Bemühungen lernt sie einiges über die Schuhindustrie und kommt zu dem deprimierenden Schluss, dass der Schuhsektor komplett in chinesischer Hand ist. Sie erkennt darin eine Gefahr für die Nation.
„Ich kann kaum erwarten, dass es losgeht. Man entscheidet sich nicht jeden Tag dafür, sich mit der zukünftigen Supermacht der Welt anzulegen.“
Diese Erfahrung macht sie freilich nicht nur bei den Schuhen. Ihr Mann Kevin hat lichtempfindliche Augen und benötigt eine Sonnenbrille. Man ahnt es schon: Es gibt nur billige chinesische oder dann teure italienische Designerbrillen. Für die durchschnittliche amerikanische Familie aus Baton Rouge ist das ein Problem der Political Correctness. Das Drama um die Sonnenbrille beendet schließlich eine Kollegin von Kevin: Sie legt ihm zwei billige chinesische Brillen auf den Schreibtisch. Geschenke, so die Regel, dürfen ja angenommen werden.
„‚In jedem Fall können wir im nächsten Jahr zu unseren alten Gewohnheiten zurückkehren‘, sagte ich. ‚China wird auf uns warten. China wird immer da sein, um uns zurückzunehmen.‘“
Weniger glimpflich gehen die Einkaufskonflikte mit den Kindern aus. Da beinahe sämtliches Spielzeug – auf jeden Fall aber das, was gerade angesagt ist, Lichtschwerter z. B. oder Monsterfiguren – aus China stammt, beginnt für Wes und Tochter Sofie eine harte Zeit. Kinder wollen nicht nur immer neue Spielsachen, sondern sie haben auch Geburtstage und werden zu denen ihrer Freunde eingeladen, wo sie natürlich Geschenke mitbringen sollen. Außerdem steht Fasching vor der Tür, später im Jahr Halloween, wo man sich verkleidet, und zudem wartet eine ganze Reihe von Feiertagen. Da wird es schwer für die Erwachsenen, ohne chinesische Hilfe ein Lächeln auf die Kindergesichter zu zaubern. „Mami, was haben wir gegen China?“, fragt einmal der kleine Wes, und seine Mutter weiß nicht, was sie ihm antworten soll. Die kleine Sofie wird im Supermarkt beobachtet, wie sie, kaum dass sie laufen kann, das Regal entlangschreitet, Produkte in die Hand nimmt, umdreht und vermeintlich nachsieht, wo das Etikett mit dem Liefernachweis angebracht sein könnte, und dann verächtlich „China“ sagt, bevor sie das Ding wieder zurückstellt.
Selbstbetrug
So kommt es, dass die besorgte Großmutter anfängt, Sara Vorwürfe zu machen. Was denn die unschuldigen Kinder mit dem China-Boykott zu tun hätten? Auch der Ehemann wird zum unzuverlässigen Mitstreiter. Er kauft einfach einen Satz billiger Pinsel, die er zum Heimwerken braucht, und tut so, als habe er das „Made in China“ nicht gesehen. Außerdem verkündet er, dass im Sommer ein größeres Planschbecken für die Kinder in den Garten gestellt werde. Vater und Mutter wissen genau, dass ein solcher Plastik-Pool nicht in den USA hergestellt wird und auch das industrialisierte Europa Derartiges nicht liefern kann. Um einen Eklat zu vermeiden, gibt Sara ihrer Schwägerin einen Tipp: Gott sei Dank hat Kevin im Frühsommer Geburtstag und bekommt von seiner Schwester ein Planschbecken für die Kinder geschenkt. Der Familienfrieden scheint vorläufig gerettet.
„Nicht, dass wir italienische Sonnenbrillen nicht mehr toll finden, aber was wir uns leisten können, sind chinesische.“
Doch es stellt sich bald heraus, dass sich der Boykott ohne ein wenig Selbstbetrug nicht durchhalten lässt. Taiwan gilt deshalb nicht als China, und bei Hongkong (der kleine Wes sagt „Kingkong“) tut man so, als sei es noch britisch. Die Großmutter nimmt den Filzstift zu Hilfe, um das Etikett eines Schlafsacks von „Made in China“ in „Made in Chile“ umzugestalten.
„Wenn ich mich in diesen Tagen im Haus umsehe, erblicke ich eine Reihe von Problemen, und fast alle wären nur mit China zu lösen.“
Trotzdem werden die Verwerfungen in der Familie immer größer. Kevin kann die ramponierte Küchenschublade nicht reparieren, weil die benötigten Teile aus China stammen. Auch Handwerkszeug, das er dringend bräuchte, kann er sich – wenn es denn nicht aus Fernost stammen soll – nicht leisten. Der Fernseher zeigt bisweilen Ausfallerscheinungen, hält aber das Jahr zum Glück durch. Dafür gibt der CD-Player seinen Geist auf, und die Tinte im Drucker versiegt. Die Druckerpatrone lässt sich nicht auffüllen, und ein neuer Drucker käme – wie die Ersatzpatrone auch – natürlich aus China. Also werden Ausdrucke in Kevins Büro gemacht. Nachzuschauen, woher das Papier, die Tinte und das Gerät dort stammen, verbietet sich von selbst.
China im Detail
Auch vor Überraschungen ist man nicht gefeit. So scheinen die gelben Schachteln für Fotofilme ein und desselben Herstellers auf den ersten Blick identisch zu sein. Bei näherem Hinsehen aber stellt man fest, dass nur jene Schachtel, deren Ablaufdatum bereits naht, amerikanischen Ursprungs ist. Bei sämtlichen Schachteln neueren Datums ist China als Produktionsland angegeben. Ein ähnliches Problem taucht auf mit den dänischen Legosteinen, die zunächst einen Ausweg aus der Spielzeugmisere versprechen: Auch sie sind nicht astrein, steht doch auf manchen Schachteln bereits „Parts made in Denmark and China“.
„Einerseits fühle ich mich schuldig, wenn ich chinesische Sachen kaufe, andererseits komme ich mir vor, als würde ich auf China herumhacken, wenn ich chinesische Dinge vermeide.“ (Kevin)
Man muss viele Kataloge und Webseiten durchstöbern, um eine Lampe zu finden, die nicht „imported“, das heißt chinesischen Ursprungs, ist. Als dann der Karton mit dem guten Stück eintrifft, steht außen „Made in USA“ drauf, beim Auspacken fällt jedoch ein kleiner, extra abgepackter Metallstift auf, der natürlich aus China stammt. Die Enttäuschung ist groß und beinahe hätte unsere Boykotteurin das Ding zurückgeschickt. Zuvor aber ruft sie die Firma an, um sich zu beschweren. Am anderen Ende der Leitung sitzt ein Angestellter einer kleinen Firma, die sich noch in Familienbesitz befindet. Vor zehn Jahren, erzählt ihr der Mann, habe es noch hunderte von amerikanischen Lampenherstellern gegeben, heute nicht einmal mehr eine Handvoll. Die Folge dieser De-Industrialisierung sei, dass manche Komponenten nicht mehr zu bekommen seien. Lichtschalter z. B. würden in den USA nicht mehr hergestellt. Nach dieser Lektion in Sachen Lampen-Business liegt der Gedanke nicht mehr fern, dass auch in den vielen anderen, scheinbar noch einheimischen Produkten eine Vielzahl von Komponenten stecken, deren Herkunft erst gar nicht mehr ausgewiesen wird. Die meisten davon werden wohl von fleißigen Chinesen gefertigt.
Zweifelhaftes politisches Umfeld
Die Reaktionen auf den China-Boykott sind unterschiedlich. Die Nachbarn halten die Familie für schrullig und sorgen sich um die Kinder. Immerhin gibt es ein Mädchen im Teenageralter, das offene Bewunderung für den Mut und die Konsequenz der Bongiornis zeigt. Für einen Kontrast zu den verhaltenen Reaktionen sorgt ein Blick ins Internet. Hier zeigt sich, dass es eine regelrechte China-Boykott-Szene gibt. Manchen ihrer Anhänger geht es um Tibet und die Menschenrechte, doch viele sehen in den Chinesen offenbar nur Abschaum und elende Kommunisten, die Amerika erobern wollen. Dass die US-Fähnchen, die Aufkleber und der ganze übrige rechtspopulistische Klimbim preiswert in China hergestellt werden, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Der Boykott und die Maus
Die Stimmung bei Familie Bongiorni ist schlecht, und eine Maus trägt ihren Teil dazu bei: Ausgerechnet als die Großmutter zu Besuch und Kevin auf Dienstreise ist, macht sich das Nagetier unter der Küchenspüle bemerkbar. Gift kommt nicht in Frage, wegen der Kinder und wegen des altersschwachen Hundes. Nun gibt es zwei Alternativen: die humane Falle, mit der die Maus in einen Plastikbehälter gelockt wird und dann nicht wieder herauskommt. Die Kinder könnten sie dann irgendwo hinter den Hügeln freilassen. Oder die brutale Möglichkeit, die übliche Mausefalle, die dem Nager mittels eines gespannten Metallbügels das Genick bricht. Diese Mörderfalle wird noch in den USA hergestellt. Die humane Variante verbietet sich wegen des Boykotts, zur brutalen kann sich Sara nicht durchringen. Als Kevin von seiner 14-tägigen Reise heimkommt, muss er sich einer ganzen Mäuseherde stellen. Der Mann im Haus geht amerikanisch gegen die Plage vor.
„Es ging ja gar nicht darum, China zu schlagen oder über irgendetwas zu triumphieren. Worum es ging, war, unseren Platz in der Welt zu finden, und Chinas Platz in unserer.“
Bald steht Weihnachten wieder vor der Tür, mit den bekannten Geschenkschwierigkeiten – und die Aussicht auf das Jahresende, das Ende des Boykotts. Die Bescherungsbilanz fällt diesmal pro „Rest der Welt“ und gegen China aus, mit zweiundvierzig zu elf. Ganz kurz wird die Verlängerung des Boykotts erwogen – und einstimmig abgelehnt.