Das Ende des Homo oeconomicus
Das Wirtschaftsleben und unser Wissen darüber verändern sich rasant. Manche Werbetreibende machen sich die neuen Erkenntnisse bereits zunutze und berücksichtigen u. a. die Hirn- und die Glücksforschung, um unser Verhalten in die gewünschte Richtung zu steuern. Es wird Zeit, dass wir als Arbeitnehmer, Verbraucher, Eltern oder Erben diesen Wissensvorsprung der Werber zunichtemachen. Die Verhaltensökonomie hat der klassischen Wirtschaftswissenschaft ihr Fundament entzogen. Sie gründet auf der simplen Beobachtung, dass der Mensch in wirtschaftlichen Fragen nicht immer rational handelt. Dies belegen u. a. die folgenden Beispiele aus der verhaltensökonomischen Forschung:
- Eine Gruppe soll die Wahrscheinlichkeit einschätzen, dass der Dax sich im kommenden Jahr halbiert. Eine zweite soll sagen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein neuer Krieg im Nahen Osten zu einer Explosion des Ölpreises führt und sich daraufhin der Dax halbiert. Das zweite, viel weniger allgemein gehaltene Szenario wird fälschlicherweise als wahrscheinlicher eingeschätzt, weil man es sich im Moment der Fragestellung besser vorstellen kann.
- Im so genannten Ultimatumspiel darf ein Spieler entscheiden, wie viel Geld von einem fixen Betrag er seinem Mitspieler abgibt. Nimmt dieser das Angebot an, erhalten beide den vereinbarten Betrag. Lehnt er aber ab, gehen beide leer aus. Das Ergebnis des Experiments in verschiedenen Varianten: Gerechtigkeitsempfinden, Fairness und Kooperation schlagen egoistisches Verhalten um Längen.
- In Kernspintomografen wird untersucht, welche Hirnregionen z. B. beim Kauf eines Produkts aktiv sind. Es zeigt sich, dass jede Entscheidung auf einem Wechselspiel zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen dem erwarteten Konsumgenuss und dem Schmerz der Bezahlung beruht.
„Die Einsichten der neuen Ökonomie sind mehr als bloß der Einzug des so genannten gesunden Menschenverstandes. Manchmal sind sie sogar das Gegenteil.“
Wir benutzen so genannte Heuristiken (Erkenntnismethoden), um die Informationsflut zu verarbeiten. Diese mentalen Abkürzungen sind lebensnotwendig, aber auch die Quelle vieler Fehler. So neigen wir z. B. dazu, den Wert von Informationen zu überschätzen, die uns Recht geben. Oder wir gehen viel größere Risiken ein, um einen Verlust abzuwenden, als um einen Gewinn zu erlangen. Solche Verhaltensmuster mögen im Einzelfall belanglos sein. Addiert man sie aber, können sie Märkte bewegen.
Die Wissenschaft vom Glück
Wer ist glücklicher: der gut aussehende Porschefahrer oder die alleinerziehende Mutter auf dem Fahrrad? Die Antwort hängt vor allem vom Ausgangspunkt ab. Denn mit dem ökonomischen Erfolg verhält es sich ähnlich wie mit dem Badewasser, das sich nach einer kalten Dusche wärmer anfühlt: Unser subjektives Glücksgefühl wird von der Abweichung eines akzeptierten Normalwerts geprägt. Langzeitstudien haben ergeben, dass die Bewohner der Industrieländer trotz der enormen Wohlstandsvermehrung heute nicht glücklicher sind als vor 50 Jahren. Aktivitäten und die Einbindung in soziale Netze scheinen wichtiger zu sein als materieller Reichtum. Bei der Interpretation der Daten muss man aber berücksichtigen, dass zwischen unseren allgemeinen Vorstellungen und dem tatsächlichen Glückserleben oft Welten liegen. Eltern halten sich z. B. oft für glücklicher als Kinderlose. Fragten die Forscher aber berufstätige Frauen mehrmals am Tag nach ihrer Befindlichkeit, so empfanden diese die Betreuung ihrer Kinder als extrem anstrengend, schlimmer noch als die Hausarbeit.
„Viele Anleger verhalten sich eher herdenhaft als heldenhaft.“
Die „Tretmühle des Glücks“, die Diskrepanz zwischen der Erwartung und der wahrgenommenen Wirklichkeit, ist genau das, was die Werbeindustrie nutzt, indem sie immer neue Glücksversprechen macht. Tatsächlich kommt es aber weniger darauf an, was wir in Zukunft erwerben oder gewinnen möchten, sondern vielmehr wie und mit wem wir unsere Zeit auf dem Weg dorthin verbringen. Und dann gibt es auch noch die Möglichkeit, statt der Einflüsse die emotionale Reaktion darauf zu verändern, beispielsweise durch Meditation. Das Fazit: Glücklichsein ist erlernbar!
Vom Glück der Nationen
Für eine Gesellschaft ist es sinnvoll, die Rahmenbedingungen für die Zufriedenheit ihrer Mitglieder zu erforschen. Denn glückliche Menschen sind produktiver, sparen mehr, engagieren sich eher ehrenamtlich und verhalten sich ökologisch verantwortungsvoller. Es überrascht kaum, dass der Faktor Arbeitslosigkeit am wichtigsten ist. Selbst bei hohen Ersatzleistungen macht der Verlust des Jobs extrem unglücklich – vor allem in Gegenden, in denen nur wenige Menschen arbeitslos sind und der soziale Druck zu arbeiten stark ist. Eine hohe Inflationsrate wirkt ebenfalls glücksmindernd, selbst wenn sie kurzfristig Arbeitsplätze schaffen kann. Sie lässt das Vertrauen in die Zukunft schwinden und schürt Verlustängste. Dagegen sind ein gutes Gesundheitswesen, eine saubere Umwelt, weit verbreitetes gemeinschaftliches Engagement und geringe Korruptionswerte gute Rahmenbedingungen für große Zufriedenheit.
„Die Analyse des Wirtschaftlichen bringt die menschliche Natur des Einzelnen wieder zusammen mit der sozialen Natur der Ökonomie.“
Angesichts dieser Ergebnisse werden schnell Rufe nach staatlichem Handeln laut: Die Menschen wüssten nicht, was gut für sie sei, also müsse der Staat einspringen. Die Gegner der „Glückstechnokraten“ kontern, dass ein nebulöses Konzept von allgemeiner Zufriedenheit nicht zum alleinigen Wert einer Gesellschaft erhoben werden dürfe. Fest steht, dass alle Wirtschaftssysteme historisch gewachsen sind und Glücksrezepte in Form von Wirtschaftsreformen sich nicht von einem auf das andere Land übertragen lassen. Bürger von Ländern, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, sind jedoch im Allgemeinen zufriedener. Ihre Wirtschaftssysteme sind flexibel und marktorientiert, sie profitieren von der Globalisierung, anstatt von ihr getrieben zu werden. Vor allem aber berücksichtigen sie die Vorstellungen der Menschen von Fairness. Den Schwachen wird Hilfe zur Selbsthilfe angeboten und das Leben auf Kosten der Allgemeinheit wird erschwert.
Der neue Paternalismus
Aus neurologischer Sicht putscht der Gedanke an Geld auf wie Sex oder Drogen, konkret heißt das, dass im Hirn Dopamin produziert wird. Geldverluste verarbeitet das Gehirn auf dieselbe Weise wie Schmerzen. Rationale Überlegungen kommen nur schwer gegen diese Mechanismen an, die sich in der Evolution vor Jahrtausenden gebildet haben. Weil wir besonders stark auf unmittelbare Reize reagieren, nehmen wir lieber heute zehn als morgen elf Euro oder konsumieren hemmungslos auf Kredit. Zwingt man uns aber, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, werden wir schnell vernünftig. In den USA waren z. B. Versuche mit betrieblich geförderter, privater Altersvorsorge äußerst erfolgreich: Anstatt direkt vom gegenwärtigen Gehalt einzuzahlen, was für viele einen unerwünschten Konsumverzicht bedeutete, bekamen Mitarbeiter die Option, nur künftige Lohnerhöhungen für das Vorsorgesparen zu berücksichtigen. Das Ergebnis: Die Sparquote in dem Betrieb vervierfachte sich. Die neuen Paternalisten schlussfolgern daraus: Da der Mensch von Natur aus irrational handelt, sollte man ihn zu seinem Glück zwingen. Doch die Gefahr eines Missbrauchs ist nicht zu unterschätzen. Politiker könnten etwa auf diese Weise ihre eigenen oder die Interessen von Lobbygruppen bedienen.
Der Kunde: hilfloses Opfer oder aufgeklärter Bürger?
Wir neigen von Natur aus dazu, mental nach „Ankern“ zu suchen und uns an ihnen festzuhalten. Um Entwicklungen zu erklären oder vorauszusagen, denken wir uns passende Geschichten aus, unabhängig davon, ob sie der Wirklichkeit standhalten. Das zeigt sich auch beim Geldanlegen. Die meisten Investoren, vor allem Männer, überschätzen sich. Darum schneiden passive Aktienfonds im Durchschnitt besser ab als aktiv gemanagte. Ein starker Verzerrungsfaktor ist z. B. die Verlustangst: Viele Privatanleger verkaufen nur, wenn ihre Aktien im Wert gestiegen sind, und bleiben viel zu lange auf ihnen sitzen, wenn die Kurse fallen. Das mentale Ankerprinzip funktioniert auch beim Konsum. In dem Moment, da der Kunde sich für ein Produkt entscheiden will, ist er stark beeinflussbar. Viele Anbieter versuchen, den „Schmerz des Bezahlens“ zu lindern. Beispiele hierfür sind Flatrates, d. h. man bezahlt einmal und bekommt alles Weitere „umsonst“, oder Angebotspakete mit vermeintlich kostenlosen Zugaben. Marketingstrategen setzen ganz bewusst beim Belohnungssystem des menschlichen Gehirns an. Einige Marken lösen bei ihrer Zielgruppe so starke emotionale Reaktionen aus, dass sie praktisch unschlagbar sind. Machen Sie sich die instinktiven Grundlagen der Beeinflussung bewusst:
- Wir fühlen uns verpflichtet, einen Gefallen zu erwidern: Der Verkäufer bietet ein kleines Geschenk an und wir „bedanken“ uns mit dem Kauf.
- Wir legen uns einmal fest und bleiben standhaft: Von bereits unterschriebenen Verträgen treten wir nur sehr ungern zurück.
- Wir imitieren das Verhalten anderer: Die Kraft des „sozialen Beweises“ bewirkt, dass mehr Trinkgeld fließt, wenn der Barkeeper ein paar Euro auf der Theke liegen lässt.
„Man weiß, dass Märkte nicht bloß überreguliert sein können, was oft genug der Fall ist. Sie können sich auch in aller Freiheit fehlentwickeln und sich die Grundlage entziehen: das Vertrauen der Teilnehmer.“
Diese Prinzipien können auch für ganz andere als kommerzielle Ziele genutzt werden, z. B. für den Klimaschutz. Wenn zunächst wenige Menschen mit Vorbildfunktion und dann immer größere Gruppen energiesparende Autos fahren, wird daraus möglicherweise eine Bewegung.
Der Homo reciprocans
Der Mensch ist nicht nur seinem Ego verpflichtet. Ohne den Willen zur Kooperation und den Hang zum Altruismus gäbe es weder Wikipedia noch eine funktionierende Marktwirtschaft. Opfer zu bringen, ist allerdings nur so lange in Ordnung, wie man nicht als der Dumme dasteht. Berechtigte Gehaltsunterschiede werden akzeptiert, unbegründete Ungleichbehandlung aber nicht. In der Gemeinschaft ist vor allem das Gefühl wichtig, dass alle ihren Beitrag leisten und Trittbrettfahrer bestraft werden. Die meisten empfinden es z. B. als fair, wenn der Staat in Arbeitsuchende investiert, die sich wirklich anstrengen. Oder wenn er Kindertagesstätten finanziert, damit Mütter arbeiten können. Wann immer möglich, fordern die Menschen Reziprozität, Wechselseitigkeit. Denn nur wenn sie einander und ihren Institutionen vertrauen, entsteht Sozialkapital, die Grundvoraussetzung für steigenden Wohlstand.
„Wo Menschen agieren und reagieren, wird die Sache schnell mehrdeutig. Da bleibt immer Platz für Weltanschauung und Werturteile.“
Vor diesem Hintergrund bietet die globalisierte Arbeitswelt neue Möglichkeiten. Mit dem Integrationsgrad der Wirtschaft nimmt auch die Kooperationsbereitschaft zu. Marktteilnehmer auf allen Ebenen erkennen, dass ein Miteinander profitabler sein kann als ein Gegeneinander. So arbeiten Konkurrenzunternehmen in wichtigen Forschungsprojekten zusammen, wenn sie diese nicht aus eigener Kraft stemmen können. In Experimenten wurde außerdem gezeigt, dass Menschen sich für eine als sinnvoll wahrgenommene Sache mehr anstrengen, wenn sie für ihre Arbeit nicht bezahlt werden. Monetäre Anreize im Job können also sogar kontraproduktiv sein, wenn die soziale Motivation stärker ist als die Gier nach Geld.
Die Rückkehr des Individuums
Auch die neue Ökonomie mit ihrem gewandelten Menschenbild bringt keine maßgeschneiderten Reformkonzepte für Politik und Wirtschaft hervor. Letztendlich bietet die Nähe der Forscher zum beobachtbaren menschlichen Verhalten den besten Schutz gegen eine Ideologisierung. Unser Verhalten folgt zwar bestimmten Mustern, lässt sich aber niemals genau vorhersagen. Das Individuum kommt wieder zu seinem Recht: nicht als egoistischer Einzelkämpfer, sondern als Mitglied einer Gesellschaft, die es verändern kann.