Humanomics

Buch Humanomics

Die Entdeckung des Menschen in der Wirtschaft

Campus,


Rezension

Warum machen auch ausgekochte In­vest­ment­profis immer wieder die Fehler blutiger Anfänger? Und weshalb schaffen es nur wenige Bürger, ihre private Al­tersver­sorgung auf ein solides Fundament zu stellen? Die Antwort, die Uwe Jean Heuser auf diese und ähnliche Fragen gibt, ist bestechend einfach: Unsere Gefühle sind schuld. Sie bewirken, dass wir in Gelddingen ungefähr so vernünftig handeln wie frisch verliebte Teenager. Gefühle sind aber auch der Grund dafür, dass unsere Gesellschaft sich nicht vollends in ein kap­i­tal­is­tis­ches Haifis­chbecken verwandelt. Anhand neuester Forschungsergeb­nisse und vieler Beispiele zeichnet Heuser den langen Weg nach, den die Ökonomie in ihrer Annäherung an den Menschen zurückgelegt hat. Dabei spannt er einen Bogen von Wirtschafts­geschichte über Glücks- und Ver­hal­tens­forschung bis hin zu möglichen politischen Kon­se­quen­zen. Mitunter will der Zeit-Journalist allzu viele Aspekte auf einmal behandeln und kriegt nicht ganz die Kurve. Trotzdem ein sehr in­for­ma­tives Buch über den Par­a­dig­men­wech­sel in der Ökonomie, findet BooksInShort und empfiehlt es allen Wirtschaftsin­ter­essierten.

Take-aways

  • Der rationale, stets seinen Nutzen max­imierende Homo oeconomicus ist Geschichte – ebenso die sich auf ihn berufende Wirtschaftswis­senschaft.
  • Die Verhaltensökonomie zeigt, dass der Mensch im Wirtschaft­sleben oft intuitiv handelt.
  • Das Bedürfnis nach Fairness und sozialer Anerkennung überwiegt die Gier nach Geld.
  • Die ver­gle­ichende Glücks­forschung legt nahe: Wirtschaftliche Freiheit unter fairen Bedingungen schafft die größtmögliche Zufrieden­heit.
  • Anleger und Konsumenten werden von ihren Emotionen oft in die Irre geführt.
  • Starke Ver­lus­tangst verleitet Pri­vatan­leger zu dem Kar­di­nalfehler, nicht rechtzeitig aus ruinösen Geschäften auszusteigen.
  • Die Macht des un­mit­tel­baren Eindrucks verführt zu unvernünftigen Spontankäufen auf Kredit.
  • Die neuen Pa­ter­nal­is­ten fordern deshalb, die Menschen durch staatliche Eingriffe zu ihrem Glück zu zwingen.
  • Doch Vorsicht: Eine Politik der Bevor­mundung kann schnell zu Macht­miss­brauch führen.
  • Der Homo reciprocans ist von Natur aus kooperativ, solange andere es auch sind. Das ist die Grundlage für die Schaffung von Sozialka­p­i­tal.
 

Zusammenfassung

Das Ende des Homo oeconomicus

Das Wirtschaft­sleben und unser Wissen darüber verändern sich rasant. Manche Wer­be­treibende machen sich die neuen Erken­nt­nisse bereits zunutze und berücksichtigen u. a. die Hirn- und die Glücks­forschung, um unser Verhalten in die gewünschte Richtung zu steuern. Es wird Zeit, dass wir als Ar­beit­nehmer, Verbraucher, Eltern oder Erben diesen Wis­sensvor­sprung der Werber zu­nichtemachen. Die Verhaltensökonomie hat der klassischen Wirtschaftswis­senschaft ihr Fundament entzogen. Sie gründet auf der simplen Beobachtung, dass der Mensch in wirtschaftlichen Fragen nicht immer rational handelt. Dies belegen u. a. die folgenden Beispiele aus der verhaltensökonomischen Forschung:

  • Eine Gruppe soll die Wahrschein­lichkeit einschätzen, dass der Dax sich im kommenden Jahr halbiert. Eine zweite soll sagen, wie wahrschein­lich es ist, dass ein neuer Krieg im Nahen Osten zu einer Explosion des Ölpreises führt und sich daraufhin der Dax halbiert. Das zweite, viel weniger allgemein gehaltene Szenario wird fälschlicher­weise als wahrschein­licher eingeschätzt, weil man es sich im Moment der Fragestel­lung besser vorstellen kann.
  • Im so genannten Ul­ti­ma­tum­spiel darf ein Spieler entscheiden, wie viel Geld von einem fixen Betrag er seinem Mitspieler abgibt. Nimmt dieser das Angebot an, erhalten beide den vere­in­barten Betrag. Lehnt er aber ab, gehen beide leer aus. Das Ergebnis des Experiments in ver­schiede­nen Varianten: Gerechtigkeit­sempfinden, Fairness und Kooperation schlagen ego­is­tis­ches Verhalten um Längen.
  • In Kern­spin­to­mo­grafen wird untersucht, welche Hirn­re­gio­nen z. B. beim Kauf eines Produkts aktiv sind. Es zeigt sich, dass jede Entschei­dung auf einem Wech­sel­spiel zwischen Gefühl und Vernunft, zwischen dem erwarteten Kon­sum­genuss und dem Schmerz der Bezahlung beruht.
„Die Einsichten der neuen Ökonomie sind mehr als bloß der Einzug des so genannten gesunden Men­schen­ver­standes. Manchmal sind sie sogar das Gegenteil.“

Wir benutzen so genannte Heuristiken (Erken­nt­nis­meth­o­den), um die In­for­ma­tions­flut zu verarbeiten. Diese mentalen Abkürzungen sind leben­snotwendig, aber auch die Quelle vieler Fehler. So neigen wir z. B. dazu, den Wert von In­for­ma­tio­nen zu überschätzen, die uns Recht geben. Oder wir gehen viel größere Risiken ein, um einen Verlust abzuwenden, als um einen Gewinn zu erlangen. Solche Ver­hal­tens­muster mögen im Einzelfall belanglos sein. Addiert man sie aber, können sie Märkte bewegen.

Die Wis­senschaft vom Glück

Wer ist glücklicher: der gut aussehende Porschefahrer oder die allein­erziehende Mutter auf dem Fahrrad? Die Antwort hängt vor allem vom Aus­gangspunkt ab. Denn mit dem ökonomischen Erfolg verhält es sich ähnlich wie mit dem Badewasser, das sich nach einer kalten Dusche wärmer anfühlt: Unser subjektives Glücksgefühl wird von der Abweichung eines akzep­tierten Normalwerts geprägt. Langzeit­stu­dien haben ergeben, dass die Bewohner der Industrieländer trotz der enormen Wohl­standsver­mehrung heute nicht glücklicher sind als vor 50 Jahren. Aktivitäten und die Einbindung in soziale Netze scheinen wichtiger zu sein als materieller Reichtum. Bei der In­ter­pre­ta­tion der Daten muss man aber berücksichtigen, dass zwischen unseren allgemeinen Vorstel­lun­gen und dem tatsächlichen Glückserleben oft Welten liegen. Eltern halten sich z. B. oft für glücklicher als Kinderlose. Fragten die Forscher aber berufstätige Frauen mehrmals am Tag nach ihrer Befind­lichkeit, so empfanden diese die Betreuung ihrer Kinder als extrem anstrengend, schlimmer noch als die Hausarbeit.

„Viele Anleger verhalten sich eher herdenhaft als heldenhaft.“

Die „Tretmühle des Glücks“, die Diskrepanz zwischen der Erwartung und der wahrgenomme­nen Wirk­lichkeit, ist genau das, was die Wer­bein­dus­trie nutzt, indem sie immer neue Glücksver­sprechen macht. Tatsächlich kommt es aber weniger darauf an, was wir in Zukunft erwerben oder gewinnen möchten, sondern vielmehr wie und mit wem wir unsere Zeit auf dem Weg dorthin verbringen. Und dann gibt es auch noch die Möglichkeit, statt der Einflüsse die emotionale Reaktion darauf zu verändern, beispiel­sweise durch Meditation. Das Fazit: Glücklichsein ist erlernbar!

Vom Glück der Nationen

Für eine Gesellschaft ist es sinnvoll, die Rah­menbe­din­gun­gen für die Zufrieden­heit ihrer Mitglieder zu erforschen. Denn glückliche Menschen sind produktiver, sparen mehr, engagieren sich eher ehre­namtlich und verhalten sich ökologisch ve­r­ant­wor­tungsvoller. Es überrascht kaum, dass der Faktor Ar­beit­slosigkeit am wichtigsten ist. Selbst bei hohen Er­sat­zleis­tun­gen macht der Verlust des Jobs extrem unglücklich – vor allem in Gegenden, in denen nur wenige Menschen arbeitslos sind und der soziale Druck zu arbeiten stark ist. Eine hohe In­fla­tion­srate wirkt ebenfalls glücksmindernd, selbst wenn sie kurzfristig Arbeitsplätze schaffen kann. Sie lässt das Vertrauen in die Zukunft schwinden und schürt Verlustängste. Dagegen sind ein gutes Gesund­heitswe­sen, eine saubere Umwelt, weit ver­bre­it­etes gemein­schaftliches Engagement und geringe Ko­r­rup­tion­swerte gute Rah­menbe­din­gun­gen für große Zufrieden­heit.

„Die Analyse des Wirtschaftlichen bringt die menschliche Natur des Einzelnen wieder zusammen mit der sozialen Natur der Ökonomie.“

Angesichts dieser Ergebnisse werden schnell Rufe nach staatlichem Handeln laut: Die Menschen wüssten nicht, was gut für sie sei, also müsse der Staat einspringen. Die Gegner der „Glück­stech­nokraten“ kontern, dass ein nebulöses Konzept von allgemeiner Zufrieden­heit nicht zum alleinigen Wert einer Gesellschaft erhoben werden dürfe. Fest steht, dass alle Wirtschaftssys­teme historisch gewachsen sind und Glücksrezepte in Form von Wirtschaft­sre­for­men sich nicht von einem auf das andere Land übertragen lassen. Bürger von Ländern, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, sind jedoch im Allgemeinen zufriedener. Ihre Wirtschaftssys­teme sind flexibel und mark­to­ri­en­tiert, sie profitieren von der Glob­al­isierung, anstatt von ihr getrieben zu werden. Vor allem aber berücksichtigen sie die Vorstel­lun­gen der Menschen von Fairness. Den Schwachen wird Hilfe zur Selbsthilfe angeboten und das Leben auf Kosten der All­ge­mein­heit wird erschwert.

Der neue Pa­ter­nal­is­mus

Aus neu­rol­o­gis­cher Sicht putscht der Gedanke an Geld auf wie Sex oder Drogen, konkret heißt das, dass im Hirn Dopamin produziert wird. Geld­ver­luste verarbeitet das Gehirn auf dieselbe Weise wie Schmerzen. Rationale Überlegungen kommen nur schwer gegen diese Mechanismen an, die sich in der Evolution vor Jahrtausenden gebildet haben. Weil wir besonders stark auf un­mit­tel­bare Reize reagieren, nehmen wir lieber heute zehn als morgen elf Euro oder konsumieren hemmungslos auf Kredit. Zwingt man uns aber, Entschei­dun­gen für die Zukunft zu treffen, werden wir schnell vernünftig. In den USA waren z. B. Versuche mit betrieblich geförderter, privater Al­tersvor­sorge äußerst erfolgreich: Anstatt direkt vom gegenwärtigen Gehalt einzuzahlen, was für viele einen unerwünschten Kon­sumverzicht bedeutete, bekamen Mitarbeiter die Option, nur künftige Lohnerhöhungen für das Vor­sorges­paren zu berücksichtigen. Das Ergebnis: Die Sparquote in dem Betrieb vervier­fachte sich. Die neuen Pa­ter­nal­is­ten schlussfol­gern daraus: Da der Mensch von Natur aus irrational handelt, sollte man ihn zu seinem Glück zwingen. Doch die Gefahr eines Missbrauchs ist nicht zu unterschätzen. Politiker könnten etwa auf diese Weise ihre eigenen oder die Interessen von Lob­by­grup­pen bedienen.

Der Kunde: hilfloses Opfer oder aufgeklärter Bürger?

Wir neigen von Natur aus dazu, mental nach „Ankern“ zu suchen und uns an ihnen festzuhal­ten. Um En­twick­lun­gen zu erklären oder vo­rauszusagen, denken wir uns passende Geschichten aus, unabhängig davon, ob sie der Wirk­lichkeit standhalten. Das zeigt sich auch beim Geldanlegen. Die meisten Investoren, vor allem Männer, überschätzen sich. Darum schneiden passive Aktienfonds im Durch­schnitt besser ab als aktiv gemanagte. Ein starker Verz­er­rungs­fak­tor ist z. B. die Ver­lus­tangst: Viele Pri­vatan­leger verkaufen nur, wenn ihre Aktien im Wert gestiegen sind, und bleiben viel zu lange auf ihnen sitzen, wenn die Kurse fallen. Das mentale Anker­prinzip funk­tion­iert auch beim Konsum. In dem Moment, da der Kunde sich für ein Produkt entscheiden will, ist er stark bee­in­fluss­bar. Viele Anbieter versuchen, den „Schmerz des Bezahlens“ zu lindern. Beispiele hierfür sind Flatrates, d. h. man bezahlt einmal und bekommt alles Weitere „umsonst“, oder Ange­botspakete mit ver­meintlich kostenlosen Zugaben. Mar­ket­ingstrate­gen setzen ganz bewusst beim Be­loh­nungssys­tem des men­schlichen Gehirns an. Einige Marken lösen bei ihrer Zielgruppe so starke emotionale Reaktionen aus, dass sie praktisch unschlagbar sind. Machen Sie sich die in­stink­tiven Grundlagen der Bee­in­flus­sung bewusst:

  • Wir fühlen uns verpflichtet, einen Gefallen zu erwidern: Der Verkäufer bietet ein kleines Geschenk an und wir „bedanken“ uns mit dem Kauf.
  • Wir legen uns einmal fest und bleiben standhaft: Von bereits un­ter­schriebe­nen Verträgen treten wir nur sehr ungern zurück.
  • Wir imitieren das Verhalten anderer: Die Kraft des „sozialen Beweises“ bewirkt, dass mehr Trinkgeld fließt, wenn der Barkeeper ein paar Euro auf der Theke liegen lässt.
„Man weiß, dass Märkte nicht bloß überreg­uliert sein können, was oft genug der Fall ist. Sie können sich auch in aller Freiheit fehlen­twick­eln und sich die Grundlage entziehen: das Vertrauen der Teilnehmer.“

Diese Prinzipien können auch für ganz andere als kom­merzielle Ziele genutzt werden, z. B. für den Klimaschutz. Wenn zunächst wenige Menschen mit Vor­bild­funk­tion und dann immer größere Gruppen en­ergies­parende Autos fahren, wird daraus möglicher­weise eine Bewegung.

Der Homo reciprocans

Der Mensch ist nicht nur seinem Ego verpflichtet. Ohne den Willen zur Kooperation und den Hang zum Altruismus gäbe es weder Wikipedia noch eine funk­tion­ierende Mark­twirtschaft. Opfer zu bringen, ist allerdings nur so lange in Ordnung, wie man nicht als der Dumme dasteht. Berechtigte Gehalt­sun­ter­schiede werden akzeptiert, unbegründete Un­gle­ich­be­hand­lung aber nicht. In der Gemein­schaft ist vor allem das Gefühl wichtig, dass alle ihren Beitrag leisten und Trit­tbret­tfahrer bestraft werden. Die meisten empfinden es z. B. als fair, wenn der Staat in Ar­beit­suchende investiert, die sich wirklich anstrengen. Oder wenn er Kindertagesstätten finanziert, damit Mütter arbeiten können. Wann immer möglich, fordern die Menschen Reziprozität, Wech­sel­seit­igkeit. Denn nur wenn sie einander und ihren In­sti­tu­tio­nen vertrauen, entsteht Sozialka­p­i­tal, die Grund­vo­raus­set­zung für steigenden Wohlstand.

„Wo Menschen agieren und reagieren, wird die Sache schnell mehrdeutig. Da bleibt immer Platz für Weltan­schau­ung und Werturteile.“

Vor diesem Hintergrund bietet die glob­al­isierte Arbeitswelt neue Möglichkeiten. Mit dem In­te­gra­tions­grad der Wirtschaft nimmt auch die Ko­op­er­a­tions­bere­itschaft zu. Mark­t­teil­nehmer auf allen Ebenen erkennen, dass ein Miteinander profitabler sein kann als ein Gegeneinan­der. So arbeiten Konkur­ren­zun­ternehmen in wichtigen Forschung­spro­jek­ten zusammen, wenn sie diese nicht aus eigener Kraft stemmen können. In Ex­per­i­menten wurde außerdem gezeigt, dass Menschen sich für eine als sinnvoll wahrgenommene Sache mehr anstrengen, wenn sie für ihre Arbeit nicht bezahlt werden. Monetäre Anreize im Job können also sogar kon­trapro­duk­tiv sein, wenn die soziale Motivation stärker ist als die Gier nach Geld.

Die Rückkehr des Individuums

Auch die neue Ökonomie mit ihrem gewandelten Men­schen­bild bringt keine maßgeschnei­derten Re­formkonzepte für Politik und Wirtschaft hervor. Let­z­tendlich bietet die Nähe der Forscher zum beobacht­baren men­schlichen Verhalten den besten Schutz gegen eine Ide­ol­o­gisierung. Unser Verhalten folgt zwar bestimmten Mustern, lässt sich aber niemals genau vorhersagen. Das Individuum kommt wieder zu seinem Recht: nicht als ego­is­tis­cher Einzelkämpfer, sondern als Mitglied einer Gesellschaft, die es verändern kann.

Über den Autor

Uwe Jean Heuser leitet die Wirtschaft­sredak­tion der Wochen­zeitung Die Zeit und schreibt die Ökonomiekolumne der Zeitschrift Merkur. Zudem ist der promovierte Volk­swirtschaftler und mehrfache Buchautor als Gastdozent an der Universität St. Gallen tätig.