Das „beinahe goldene Zeitalter“
Lange Zeit galten Demokratie und Kapitalismus als untrennbares Paar. Die USA machten der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg vor, wie ein Staat Wohlstand und Sicherheit für die große Mehrheit der Bevölkerung schaffen kann. Die Einkommensschere schloss sich, und die Menschen hatten Vertrauen in ihren Staat. Zu Beginn der Industriellen Revolution gegen Ende des 19. Jahrhunderts sah es noch ganz anders aus. Eine privilegierte Minderheit wurde immer reicher, während die große Mehrheit in den Städten im Elend lebte. Da die Löhne niedrig blieben und monopolistische Konzerne hohe Preise diktierten, konnten viele Menschen die Waren nicht konsumieren, die sie selbst produzierten. Die politische Antwort darauf lag in der Schaffung von staatlichen Regulierungsbehörden: Anstatt Monopole zu zerschlagen, setzten sie Standards, Löhne und Preise fest und sorgten für einen gewissen Interessenausgleich zwischen der Gesellschaft und den Kapitaleignern. Die Unternehmen jedoch wollten das nicht so einfach hinnehmen. Sie schafften es, die Behörden massiv zu beeinflussen und sich so vor „unfairem“ Wettbewerb zu schützen.
„Wir müssen den Superkapitalismus daran hindern, auf die Demokratie überzugreifen. Alles andere ist Zeitverschwendung.“
Derart gewappnet, schufen sie das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Zwei oder drei Großkonzerne in jeder Branche teilten den Markt unter sich auf, verhinderten jede Form von Wettbewerb und propagierten erfolgreich das Bild vom „staatsmännischen Unternehmer“. Die Interessen des Landes und jene der Großkonzerne schienen identisch. Von den Gewerkschaften drohte keine Gefahr. Lohnerhöhungen und steigende Sozialleistungen verursachten kaum Wettbewerbsnachteile, da sie ja für die gesamte Branche galten. Konkurrenz aus dem Ausland gab es kaum. Die Ungleichheit in der Gesellschaft nahm ab, eine breite, zufriedene Mittelschicht entstand. Die USA erlebten ihr „beinahe goldenes Zeitalter“. Frauen und Minderheiten wurden zwar nach wie vor an den Rand gedrängt, und viele junge Leute erstickten im glattpolierten, konformistischen Mittelklasseidyll. Alles in allem aber waren Wirtschaft und Politik eine harmonische Ehe eingegangen.
Unterwegs zum Superkapitalismus
Um 1975 begann es in dieser Ehe zu kriseln. Das Gleichgewicht der Partner verschob sich, und der Kapitalismus triumphierte. Wie kam es dazu? Nach und nach verloren die Branchenriesen ihre marktbeherrschende Stellung. Ob Autos, Flugverkehr, Fernsehkanäle oder Telefongesellschaften: Verbraucher und Anleger hatten nun eine größere Auswahl und nutzten sie. Der Wettbewerb verschärfte sich, und die kapitalintensive Massenproduktion wurde durch globale Lieferketten ersetzt. Heute können selbst Marktneulinge Produkte günstig herstellen oder die komplette Produktion im billigeren Ausland einkaufen. Mit dem steigenden Wettbewerb wuchs auch der Druck der Neueinsteiger, Regulierungen abzuschaffen, die die Oligopole bis dahin geschützt hatten. Die Preisspirale drehte sich nach unten, Löhne stagnierten oder fielen, Arbeitsplätze wurden gestrichen oder ausgelagert, und das sensible System des Interessenausgleichs zwischen Arbeitnehmern und -gebern fiel in sich zusammen. Über diese Entwicklungen existieren einige Mythen:
- Die Globalisierung habe der amerikanischen Industrie geschadet: Tatsächlich profitierte sie davon, denn auch amerikanische Firmen sind global geworden. Verloren ging nicht ihre Wettbewerbsfähigkeit, sondern die automatische Kopplung zwischen dem Wohl der amerikanischen Industrie und dem der Bürger des Landes.
- Die Deregulierung habe nur Sieger hervorgebracht: Tatsächlich wurde die Wirtschaft effizienter. Doch der Wegfall von Quersubventionen produzierte auch viele Verlierer. Ehemalige Staatsmonopolisten etwa meldeten Konkurs an, und ihre vormals gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter wurden anderswo zu schlechteren Bedingungen wieder eingestellt.
- Die Exzesse an der Börse seien eine Folge der ausufernden Gier der Menschen: Verändert hat sich nicht die Sehnsucht nach dem schnellen Geld, sondern die Möglichkeit, sie auszuleben. Früher trugen die Menschen ihr Geld auf die Bank. Doch dann wurden aus Sparern Anleger. Unternehmen müssen die Steigerung des Shareholder-Value zum Primärziel erklären, damit ihnen die Investoren nicht in Scharen davonlaufen.
- Präsident Reagan habe den Gewerkschaften das Genick gebrochen: Tatsächlich begann ihr Niedergang schon Mitte der 70er Jahre. Die Unternehmen konnten wegen des steigenden Wettbewerbs höhere Lohnkosten nicht mehr durch Preissteigerungen an die Verbraucher weitergeben. Sie waren bereit, Arbeitskämpfe auszufechten. Heute sitzen sie am längeren Hebel: Sperren sich die Gewerkschaften gegen Lohnkürzungen, drohen CEOs kurzerhand mit Konkurs und einer Kündigung der Tarifverträge.
Was uns Schnäppchen wirklich kosten
Wal-Mart ist an allem schuld! Mit diesem Schlachtruf zogen Aktivisten in den Kampf gegen miese Sozialstandards im Allgemeinen und die Globalisierung im Besonderen. Doch die Kampagne gegen die Supermarktkette ist scheinheilig. Als Verbraucher haben wir uns längst an die günstigen Preise für Konsumgüter gewöhnt. Wenn Wal-Mart tatsächlich die Löhne anheben und seinen Zulieferern „faire“ Preise zahlen würde, würden seine Kunden eben zur billigeren Konkurrenz gehen. Auch die wachsende Gemeinde der Anleger hat von den wirtschaftlichen Entwicklungen profitiert. Seit Anfang der 70er Jahre schoss der Dow-Jones-Index von unter 1000 auf 13 000 Punkte im April 2007.
„Kapitalmärkte sind das sensibelste Barometer dafür, wie erfolgreich Manager Wert aus ihren Unternehmen pressen, um uns als Anleger zu belohnen.“
Wir ergattern nun einmal gerne ein Schnäppchen und setzen darauf, dass unsere private Altersvorsorge einmal eine großzügige Rente zahlen wird. Zugleich sind wir empört über die Erosion des Mittelstands und die Tatsache, dass ein Vorstandsvorsitzender heute durchschnittlich 350 Mal so viel verdient wie ein Arbeitnehmer (im „beinahe goldenen Zeitalter“ war es noch 40 Mal so viel). Als Bürger jammern wir über die Verödung von Kleinstädten, die Zersiedlung der Landschaft und steigende Umweltzerstörung. Doch als Verbraucher fahren viele Amerikaner Sprit schluckende Gelände- und Lieferwagen, bewohnen riesige, voll klimatisierte Häuser und kaufen die Flachbildfernseher und Whirlpools dafür in den Megamärkten ein. Unser Anleger- und Verbraucherherz schlägt zwangsläufig anders als unser Bürgerherz. Der Superkapitalismus hat unseren Wohlstand vermehrt, doch der Preis dafür liegt in steigender Ungleichverteilung, unsichereren Arbeitsplätzen, Umweltverschmutzung und dem Aufbrechen traditioneller Sozialstrukturen.
Die Lähmung der Demokratie
Ein Grund für diese Entwicklung ist der politische Machtgewinn der Wirtschaft. In den USA sind Wahlkampfspenden in den vergangenen 20 Jahren geradezu explodiert, ebenso der Einfluss der Lobbyisten. Der Löwenanteil der Spenden geht auf das Konto von Unternehmen, während Gewerkschaften und NGOs ein Schattendasein fristen. Ein Drittel der Kongressabgeordneten aus beiden Parteien wechselt heute nach ihrer politischen Laufbahn in die Lobby. Der verschärfte Wettbewerb hat zu einem regelrechten „Rüstungswettlauf“ um politischen Einfluss geführt: Wer nicht mithält, riskiert, vernichtet zu werden. Interessanterweise werden die Schlachten zwischen Unternehmen und Branchen oft unter dem Deckmantel des öffentlichen Interesses ausgetragen. Ein Beispiel ist das Gesetz, das 2006 das Bezahlen von Online-Wetten per Kreditkarte verbot. Hinter der Initiative stand nicht etwa die Sorge um die Gefahren der Spielsucht, sondern der Verband amerikanischer Kasinobetreiber, dem die Online-Konkurrenz ein Dorn im Auge war.
„Vorstandsvorsitzende sind heute keine leitenden Beamten mehr, sondern eher so etwas wie Hollywoodstars oder Spitzensportler, die ihren Anteil am Unternehmen bekommen.“
Interessenvertreter korrumpieren auch zunehmend die Wissensgesellschaft. Bezahlte „Experten“ sagen vor politischen Ausschüssen oder vor Gericht im Sinne ihrer Auftraggeber aus. Gegen entsprechende Summen gehen selbst Eliteschmieden dubiose Allianzen mit Unternehmen ein. Stellvertretend hierfür steht das 2002 beschlossene Forschungsprojekt der Stanford University mit Exxon und anderen Energieunternehmen, das den menschlichen Einfluss auf den Klimawandel infrage stellen soll. Die Stimme des Bürgers geht in dem ständigen Ringen der Firmen um Wettbewerbsvorteile unter, denn mitzureden kostet Geld.
Mogelpackung CSR
Viele suchen im Appell an die „Corporate Social Responsibility“ (CSR) einen Ausweg. Es ist jedoch ein gefährlicher Irrweg, der von den echten Herausforderungen ablenkt. Die meisten CSR-Aktionen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als reine Win-win-Strategien: Wal-Mart etwa verwendet „grünes“, aus Maisethanol hergestelltes Verpackungsmaterial, das zufällig billiger ist als die Alternative. CSR steigert das Image und damit den Wert der Marke. Das ist keinesfalls verwerflich und manchmal sogar nützlich, aber es taugt nicht zur verbindlichen Umsetzung von besseren Sozial- und Umweltstandards. CSR-Maßnahmen, die sich negativ auf die Bilanz auswirken würden, hätten keine Aussicht auf Erfolg. Zu Recht, denn die Aufgabe eines Unternehmens ist es, das Vermögen seiner Anleger zu vermehren und seine Verbraucher zufriedenzustellen, nicht mehr und nicht weniger.
„Wenn es so etwas wie Unternehmensverantwortung gibt, dann besteht sie darin, die Demokratie nicht zu korrumpieren.“
Öffentliche Denunziations- und Boykottkampagnen beruhen oft auf einem ähnlichen Denkfehler. Einzelne Unternehmen werden für fragwürdige Verhaltensweisen angeprangert, obwohl sie sich durchaus an die Spielregeln halten. Besser würde man diese Spielregeln ändern, und zwar für alle Unternehmen. Auf der anderen Seite werden besonders wohltätige Unternehmen für ihr Engagement gelobt. Doch wenn ein CEO Geld für die Opfer des Tsunami bereitstellt, dann verschenkt er nicht sein eigenes, sondern das der Aktionäre, und er tut dies auf Basis einer simplen Kosten-Nutzen-Rechnung. Die Praxis von Lob und Anklage verhindert, dass vernünftige neue Gesetze für alle durchgesetzt werden. Es handelt sich um eine Scheinpolitik, die letztlich die demokratische Willensbildung untergräbt. Unternehmen müssen durch verbindliche Vorschriften gezwungen werden, Dinge zu tun, die ihren Bilanzen schaden können. Alles andere ist Augenwischerei.
Politik und Wirtschaft trennen
Der Bürger sollte sich wieder Gehör verschaffen, und er muss selbst dafür kämpfen. Denn bisher sind alle Versuche der Politiker gescheitert, den Einfluss der Wirtschaft auf das Gesetzgebungsverfahren zu begrenzen. Kein Wunder, schließlich kann niemand erwarten, dass sie sich eigenhändig den Geldhahn abdrehen. Wirkliche Chancen haben Reformen nur, wenn eine aufgeklärte Öffentlichkeit diese verlangt. Zuerst müssen dafür die vielen Mythen und Halbwahrheiten über die Funktion von Unternehmen aus der Welt geschafft werden:
- Unternehmen agieren weder für noch gegen das Wohl der Öffentlichkeit. Sie sind keine Personen, sondern juristische Konstrukte, die weder als Bösewichte abgestempelt noch als Heilige verehrt werden sollten.
- Es ist unsinnig, ein Unternehmen strafrechtlich zu belangen oder ihm im Namen des nationalen Interesses wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Anstatt Unternehmen zu subventionieren, sollte der Staat in die darin arbeitenden Bürger investieren.
- Ebenfalls unsinnig ist es, Unternehmen als solche zu besteuern. Sinnvoller und logischer wäre es, auf das Einkommen der Aktionäre Steuern zu erheben.
- Unternehmen sollten auch keine Gesetze vor Gericht anfechten dürfen. Diese Praxis führt u. a. dazu, dass internationale Anleger Vorschriften aushebeln können, die von den Staatsbürgern eines Landes in einem demokratischen Prozess entschieden wurden.
„Eine lebendige Demokratie und ein lebendiger Kapitalismus können durchaus nebeneinander existieren. Um dies zu erreichen, müssen wir diese beiden Sphären jedoch streng auseinanderhalten.“
Die Unternehmen müssen sich aus dem demokratischen Prozess zurückziehen. Nur so können Demokratie und Kapitalismus nebeneinander existieren und gedeihen.