Superkapitalismus

Buch Superkapitalismus

Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt

Campus,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Heerscharen von Wirtschaft­slob­by­is­ten ko­r­rumpieren die Politik, CEOs scheffeln Milliarden und Ar­beit­nehmer verlieren die Privilegien, die sie sich einst mühsam erkämpft haben – das übliche linke Wehklagen, mögen Sie denken. Fällt denen nichts Neues ein? Doch. Der Wirtschaftswis­senschaftler Robert Reich hat ein überraschen­des Buch geschrieben. Rück­sicht­sloser Jobabbau und sinkende Sozial­stan­dards sind für ihn nicht die Folge einer Verschwörung zwischen marktgläubigen Politikern und habgierigen Un­ternehmern. Wir alle haben als Verbraucher und Anleger in den vergangenen 30 Jahren vom Aufbruch in den Su­perkap­i­tal­is­mus profitiert – und zahlen nun als Bürger den Preis dafür. Anstatt mit dem Finger auf Unternehmen zu zeigen, könnten wir z. B. die Finger vom nächsten Schnäppchen lassen. Reich entlarvt viele linke und rechte Geschichten über Unternehmen als Mythen und provoziert mit konkreten Vorschlägen wie der Abschaffung der Un­ternehmenss­teuern. BooksInShort empfiehlt dieses wichtige Buch allen, die sich über die Demokratie im Würgegriff des Kap­i­tal­is­mus Sorgen machen und daran etwas ändern möchten.

Take-aways

  • Durch den gestiegenen Wettbewerb sind die Preise für Konsumgüter auf Reko­rdtiefstände gefallen.
  • Die Reallöhne sind gesunken, und die Einkom­menss­chere klafft immer weiter auseinander.
  • Die Erhöhung des Aktienwerts ist zum primären Un­ternehmen­sziel geworden.
  • Im „Su­perkap­i­tal­is­mus“ entscheiden Verbraucher und Anleger über das Schicksal der Bürger.
  • Unsere Interessen als Bürger sind aber nicht identisch mit denen als Verbraucher und Anleger.
  • Unser Verhalten ist oft paradox: Wir klagen z. B. über die Verödung der Innenstädte und kaufen in Billigmärkten auf der grünen Wiese ein.
  • Es ist naiv, einzelne Unternehmen hierfür ve­r­ant­wortlich zu machen. Deren Ziel ist nun mal die Gewin­n­max­imierung, nichts anderes.
  • Maßnahmen zum Wohl der Gesellschaft müssen durch entsprechende Gesetze erzwungen werden.
  • Unternehmen sind keine Personen. Ihnen gebührt kein Klagerecht, sie sollten aber auch nicht strafrechtlich belangt werden können und keine Steuern zahlen müssen.
  • Demokratis­che Rechte und Pflichten sollten allein den Bürgern vorbehalten sein.
 

Zusammenfassung

Das „beinahe goldene Zeitalter“

Lange Zeit galten Demokratie und Kap­i­tal­is­mus als un­trennbares Paar. Die USA machten der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg vor, wie ein Staat Wohlstand und Sicherheit für die große Mehrheit der Bevölkerung schaffen kann. Die Einkom­menss­chere schloss sich, und die Menschen hatten Vertrauen in ihren Staat. Zu Beginn der In­dus­triellen Revolution gegen Ende des 19. Jahrhun­derts sah es noch ganz anders aus. Eine priv­i­legierte Minderheit wurde immer reicher, während die große Mehrheit in den Städten im Elend lebte. Da die Löhne niedrig blieben und mo­nop­o­lis­tis­che Konzerne hohe Preise diktierten, konnten viele Menschen die Waren nicht konsumieren, die sie selbst pro­duzierten. Die politische Antwort darauf lag in der Schaffung von staatlichen Reg­ulierungs­behörden: Anstatt Monopole zu zerschlagen, setzten sie Standards, Löhne und Preise fest und sorgten für einen gewissen In­ter­esse­naus­gle­ich zwischen der Gesellschaft und den Kap­i­taleign­ern. Die Unternehmen jedoch wollten das nicht so einfach hinnehmen. Sie schafften es, die Behörden massiv zu bee­in­flussen und sich so vor „unfairem“ Wettbewerb zu schützen.

„Wir müssen den Su­perkap­i­tal­is­mus daran hindern, auf die Demokratie überzu­greifen. Alles andere ist Zeitver­schwen­dung.“

Derart gewappnet, schufen sie das Wirtschaftswun­der der Nachkriegszeit. Zwei oder drei Großkonzerne in jeder Branche teilten den Markt unter sich auf, ver­hin­derten jede Form von Wettbewerb und propagierten erfolgreich das Bild vom „staatsmännischen Unternehmer“. Die Interessen des Landes und jene der Großkonzerne schienen identisch. Von den Gew­erkschaften drohte keine Gefahr. Lohnerhöhungen und steigende Sozialleis­tun­gen verur­sachten kaum Wet­tbe­werb­snachteile, da sie ja für die gesamte Branche galten. Konkurrenz aus dem Ausland gab es kaum. Die Un­gle­ich­heit in der Gesellschaft nahm ab, eine breite, zufriedene Mit­telschicht entstand. Die USA erlebten ihr „beinahe goldenes Zeitalter“. Frauen und Min­der­heiten wurden zwar nach wie vor an den Rand gedrängt, und viele junge Leute erstickten im glattpolierten, kon­formistis­chen Mit­telk­las­sei­dyll. Alles in allem aber waren Wirtschaft und Politik eine harmonische Ehe eingegangen.

Unterwegs zum Su­perkap­i­tal­is­mus

Um 1975 begann es in dieser Ehe zu kriseln. Das Gle­ichgewicht der Partner verschob sich, und der Kap­i­tal­is­mus tri­um­phierte. Wie kam es dazu? Nach und nach verloren die Branchen­riesen ihre mark­t­be­herrschende Stellung. Ob Autos, Flugverkehr, Fernsehkanäle oder Tele­fonge­sellschaften: Verbraucher und Anleger hatten nun eine größere Auswahl und nutzten sie. Der Wettbewerb verschärfte sich, und die kap­i­tal­in­ten­sive Massen­pro­duk­tion wurde durch globale Liefer­ket­ten ersetzt. Heute können selbst Mark­t­neulinge Produkte günstig herstellen oder die komplette Produktion im billigeren Ausland einkaufen. Mit dem steigenden Wettbewerb wuchs auch der Druck der Neue­in­steiger, Reg­ulierun­gen abzuschaf­fen, die die Oligopole bis dahin geschützt hatten. Die Preis­spi­rale drehte sich nach unten, Löhne stagnierten oder fielen, Arbeitsplätze wurden gestrichen oder ausgelagert, und das sensible System des In­ter­esse­naus­gle­ichs zwischen Ar­beit­nehmern und -gebern fiel in sich zusammen. Über diese En­twick­lun­gen existieren einige Mythen:

  • Die Glob­al­isierung habe der amerikanis­chen Industrie geschadet: Tatsächlich profitierte sie davon, denn auch amerikanis­che Firmen sind global geworden. Verloren ging nicht ihre Wet­tbe­werbsfähigkeit, sondern die au­toma­tis­che Kopplung zwischen dem Wohl der amerikanis­chen Industrie und dem der Bürger des Landes.
  • Die Dereg­ulierung habe nur Sieger her­vorge­bracht: Tatsächlich wurde die Wirtschaft effizienter. Doch der Wegfall von Quer­sub­ven­tio­nen produzierte auch viele Verlierer. Ehemalige Staatsmo­nop­o­lis­ten etwa meldeten Konkurs an, und ihre vormals gew­erkschaftlich or­gan­isierten Mitarbeiter wurden anderswo zu schlechteren Bedingungen wieder eingestellt.
  • Die Exzesse an der Börse seien eine Folge der ausufernden Gier der Menschen: Verändert hat sich nicht die Sehnsucht nach dem schnellen Geld, sondern die Möglichkeit, sie auszuleben. Früher trugen die Menschen ihr Geld auf die Bank. Doch dann wurden aus Sparern Anleger. Unternehmen müssen die Steigerung des Share­holder-Value zum Primärziel erklären, damit ihnen die Investoren nicht in Scharen davonlaufen.
  • Präsident Reagan habe den Gew­erkschaften das Genick gebrochen: Tatsächlich begann ihr Niedergang schon Mitte der 70er Jahre. Die Unternehmen konnten wegen des steigenden Wettbewerbs höhere Lohnkosten nicht mehr durch Preis­steigerun­gen an die Verbraucher weitergeben. Sie waren bereit, Arbeitskämpfe auszufechten. Heute sitzen sie am längeren Hebel: Sperren sich die Gew­erkschaften gegen Lohnkürzungen, drohen CEOs kurzerhand mit Konkurs und einer Kündigung der Tarifverträge.

Was uns Schnäppchen wirklich kosten

Wal-Mart ist an allem schuld! Mit diesem Schlachtruf zogen Aktivisten in den Kampf gegen miese Sozial­stan­dards im Allgemeinen und die Glob­al­isierung im Besonderen. Doch die Kampagne gegen die Su­per­mark­tkette ist schein­heilig. Als Verbraucher haben wir uns längst an die günstigen Preise für Konsumgüter gewöhnt. Wenn Wal-Mart tatsächlich die Löhne anheben und seinen Zulieferern „faire“ Preise zahlen würde, würden seine Kunden eben zur billigeren Konkurrenz gehen. Auch die wachsende Gemeinde der Anleger hat von den wirtschaftlichen En­twick­lun­gen profitiert. Seit Anfang der 70er Jahre schoss der Dow-Jones-In­dex von unter 1000 auf 13 000 Punkte im April 2007.

„Kapitalmärkte sind das sensibelste Barometer dafür, wie erfolgreich Manager Wert aus ihren Unternehmen pressen, um uns als Anleger zu belohnen.“

Wir ergattern nun einmal gerne ein Schnäppchen und setzen darauf, dass unsere private Al­tersvor­sorge einmal eine großzügige Rente zahlen wird. Zugleich sind wir empört über die Erosion des Mit­tel­stands und die Tatsache, dass ein Vor­standsvor­sitzen­der heute durch­schnit­tlich 350 Mal so viel verdient wie ein Ar­beit­nehmer (im „beinahe goldenen Zeitalter“ war es noch 40 Mal so viel). Als Bürger jammern wir über die Verödung von Kleinstädten, die Zersiedlung der Landschaft und steigende Umweltzerstörung. Doch als Verbraucher fahren viele Amerikaner Sprit schluckende Gelände- und Lieferwagen, bewohnen riesige, voll kli­ma­tisierte Häuser und kaufen die Flach­bild­fernse­her und Whirlpools dafür in den Megamärkten ein. Unser Anleger- und Ver­braucher­herz schlägt zwangsläufig anders als unser Bürgerherz. Der Su­perkap­i­tal­is­mus hat unseren Wohlstand vermehrt, doch der Preis dafür liegt in steigender Un­gle­ichverteilung, un­sicher­eren Arbeitsplätzen, Umweltver­schmutzung und dem Aufbrechen tra­di­tioneller Sozial­struk­turen.

Die Lähmung der Demokratie

Ein Grund für diese Entwicklung ist der politische Machtgewinn der Wirtschaft. In den USA sind Wahlkampf­spenden in den vergangenen 20 Jahren geradezu explodiert, ebenso der Einfluss der Lobbyisten. Der Löwenanteil der Spenden geht auf das Konto von Unternehmen, während Gew­erkschaften und NGOs ein Schat­ten­da­sein fristen. Ein Drittel der Kon­gress­ab­ge­ord­neten aus beiden Parteien wechselt heute nach ihrer politischen Laufbahn in die Lobby. Der verschärfte Wettbewerb hat zu einem regel­rechten „Rüstungswet­t­lauf“ um politischen Einfluss geführt: Wer nicht mithält, riskiert, vernichtet zu werden. In­ter­es­san­ter­weise werden die Schlachten zwischen Unternehmen und Branchen oft unter dem Deckmantel des öffentlichen Interesses ausgetragen. Ein Beispiel ist das Gesetz, das 2006 das Bezahlen von On­line-Wet­ten per Kreditkarte verbot. Hinter der Initiative stand nicht etwa die Sorge um die Gefahren der Spielsucht, sondern der Verband amerikanis­cher Kasi­no­be­treiber, dem die On­line-Konkur­renz ein Dorn im Auge war.

„Vor­standsvor­sitzende sind heute keine leitenden Beamten mehr, sondern eher so etwas wie Hol­ly­wood­stars oder Spitzen­sportler, die ihren Anteil am Unternehmen bekommen.“

In­ter­essen­vertreter ko­r­rumpieren auch zunehmend die Wis­sens­ge­sellschaft. Bezahlte „Experten“ sagen vor politischen Ausschüssen oder vor Gericht im Sinne ihrer Auf­tragge­ber aus. Gegen entsprechende Summen gehen selbst Eliteschmieden dubiose Allianzen mit Unternehmen ein. Stel­lvertre­tend hierfür steht das 2002 beschlossene Forschung­spro­jekt der Stanford University mit Exxon und anderen En­ergie­un­ternehmen, das den men­schlichen Einfluss auf den Klimawandel infrage stellen soll. Die Stimme des Bürgers geht in dem ständigen Ringen der Firmen um Wet­tbe­werb­svorteile unter, denn mitzureden kostet Geld.

Mo­gel­pack­ung CSR

Viele suchen im Appell an die „Corporate Social Re­spon­si­bil­ity“ (CSR) einen Ausweg. Es ist jedoch ein gefährlicher Irrweg, der von den echten Her­aus­forderun­gen ablenkt. Die meisten CSR-Ak­tio­nen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als reine Win-win-Strate­gien: Wal-Mart etwa verwendet „grünes“, aus Maisethanol hergestelltes Ver­pack­ungs­ma­te­r­ial, das zufällig billiger ist als die Alternative. CSR steigert das Image und damit den Wert der Marke. Das ist keinesfalls verwerflich und manchmal sogar nützlich, aber es taugt nicht zur verbindlichen Umsetzung von besseren Sozial- und Umwelt­stan­dards. CSR-Maßnahmen, die sich negativ auf die Bilanz auswirken würden, hätten keine Aussicht auf Erfolg. Zu Recht, denn die Aufgabe eines Un­ternehmens ist es, das Vermögen seiner Anleger zu vermehren und seine Verbraucher zufrieden­zustellen, nicht mehr und nicht weniger.

„Wenn es so etwas wie Un­ternehmensver­ant­wor­tung gibt, dann besteht sie darin, die Demokratie nicht zu ko­r­rumpieren.“

Öffentliche De­nun­zi­a­tions- und Boykot­tkam­pag­nen beruhen oft auf einem ähnlichen Denkfehler. Einzelne Unternehmen werden für fragwürdige Ver­hal­tensweisen angeprangert, obwohl sie sich durchaus an die Spielregeln halten. Besser würde man diese Spielregeln ändern, und zwar für alle Unternehmen. Auf der anderen Seite werden besonders wohltätige Unternehmen für ihr Engagement gelobt. Doch wenn ein CEO Geld für die Opfer des Tsunami bere­it­stellt, dann verschenkt er nicht sein eigenes, sondern das der Aktionäre, und er tut dies auf Basis einer simplen Kosten-Nutzen-Rech­nung. Die Praxis von Lob und Anklage verhindert, dass vernünftige neue Gesetze für alle durchge­setzt werden. Es handelt sich um eine Schein­poli­tik, die letztlich die demokratis­che Wil­lens­bil­dung untergräbt. Unternehmen müssen durch verbindliche Vorschriften gezwungen werden, Dinge zu tun, die ihren Bilanzen schaden können. Alles andere ist Au­gen­wis­cherei.

Politik und Wirtschaft trennen

Der Bürger sollte sich wieder Gehör verschaffen, und er muss selbst dafür kämpfen. Denn bisher sind alle Versuche der Politiker gescheitert, den Einfluss der Wirtschaft auf das Geset­zge­bungsver­fahren zu begrenzen. Kein Wunder, schließlich kann niemand erwarten, dass sie sich eigenhändig den Geldhahn abdrehen. Wirkliche Chancen haben Reformen nur, wenn eine aufgeklärte Öffentlichkeit diese verlangt. Zuerst müssen dafür die vielen Mythen und Halb­wahrheiten über die Funktion von Unternehmen aus der Welt geschafft werden:

  • Unternehmen agieren weder für noch gegen das Wohl der Öffentlichkeit. Sie sind keine Personen, sondern juristische Konstrukte, die weder als Bösewichte abgestem­pelt noch als Heilige verehrt werden sollten.
  • Es ist unsinnig, ein Unternehmen strafrechtlich zu belangen oder ihm im Namen des nationalen Interesses wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Anstatt Unternehmen zu sub­ven­tion­ieren, sollte der Staat in die darin arbeitenden Bürger investieren.
  • Ebenfalls unsinnig ist es, Unternehmen als solche zu besteuern. Sinnvoller und logischer wäre es, auf das Einkommen der Aktionäre Steuern zu erheben.
  • Unternehmen sollten auch keine Gesetze vor Gericht anfechten dürfen. Diese Praxis führt u. a. dazu, dass in­ter­na­tionale Anleger Vorschriften aushebeln können, die von den Staatsbürgern eines Landes in einem demokratis­chen Prozess entschieden wurden.
„Eine lebendige Demokratie und ein lebendiger Kap­i­tal­is­mus können durchaus nebeneinan­der existieren. Um dies zu erreichen, müssen wir diese beiden Sphären jedoch streng au­seinan­der­hal­ten.“

Die Unternehmen müssen sich aus dem demokratis­chen Prozess zurückziehen. Nur so können Demokratie und Kap­i­tal­is­mus nebeneinan­der existieren und gedeihen.

Über den Autor

Robert Reich ist Professor für Wirtschaftswis­senschaften an der University of California. Von 1993 bis 1997 war er Ar­beitsmin­is­ter unter Bill Clinton.