Maß und Zeit

Buch Maß und Zeit

Entdecken Sie die neue Kraft der klösterlichen Werte und Rituale

Campus,


Rezension

Das rechte Maß, die goldene Mitte sind die Ideale, die der Autor dieses Buches propagiert, und er findet dafür das an­schauliche Bild der Violinsaite: Ist sie zu schlaff, kann man sie nicht spielen, ist sie zu straff gespannt, klingt sie hart und unschön. Das Bild lässt sich auf viele Aspekte des modernen, oftmals gehetzten Alltags übertragen. Klösterliche Werte und Rituale lehren, die Mitte zu finden, und vermitteln darüber hinaus ein anderes Zeiterleben. Der Autor Wilhelm Schmid-Bode, von Beruf Arzt und Psy­chother­a­peut, will niemanden zu einem religiösen Bekenntnis bekehren. Sein Anliegen ist, die Werte einer altehrwürdigen Ex­is­ten­z­form wiederzuent­decken. Dabei schweift er zwar manchmal von den klösterlichen Themen ab und zitiert vieles, was so im Lauf der Zeit an al­ter­na­tiver Besin­nungslit­er­atur auf den Markt gekommen ist. Trotzdem empfiehlt BooksInShort das Buch allen Gehetzten, Gestressten und vom Burnout Bedrohten als Ermunterung zur Kon­tem­pla­tion.

Take-aways

  • Klösterliche Werte gelten universal. Sie sind nicht an ein religiöses Bekenntnis gebunden.
  • Die Grund­kom­po­nen­ten der klösterlichen Werte sind das richtige Maß und das bewusste Zeiterleben.
  • Die klösterliche Tradition bietet eine Alternative zu den Überreizun­gen und Exzessen der modernen Gesellschaft.
  • Klöster sind Gemein­schaften, in die sich der Einzelne einordnet.
  • Diese Einordnung verlangt Demut und Gehorsam im Sinne des freudigen Dienstes an der gemeinsamen Sache.
  • Klösterliches Leben lehrt auf jede Form von Übertreibung und auf überflüssige Bedürfnisse zu verzichten.
  • Klösterliche Stille fördert die Wachsamkeit, die man braucht, um zu kon­tem­pla­tiver Ruhe und innerer Aus­geglichen­heit zu finden.
  • Die Hingabe, mit der Arbeit und Gemein­schafts­di­enst im Kloster verrichtet werden, verankert den Menschen sinnvoll im Leben.
  • Auch Rituale wirken sinn- und gemein­schaftss­tif­tend und gliedern das Zeiterleben.
  • Das Gebet als tran­szen­dente Erfahrung ermöglicht es, an einer überpersönlichen Wer­te­ord­nung teilzuhaben.
 

Zusammenfassung

Woran die Gegenwart krankt

Reizüberflutung, Termindruck, Events, Stress, Dro­genkon­sum einschließlich Medika­menten und Alkohol, Fastfood, Kar­ri­eregeil­heit, Egoismus, Besitzgier nach schickeren Kleidern, schöneren Häusern und größeren Autos – es liegt auf der Hand, dass weniger manchmal mehr wäre. Klöster und Klosterkul­turen weltweit bieten seit jeher eine Alternative zum gängigen Lebensstil: Verzicht, Maßhalten, Stille, Gemein­schaft. In jüngster Zeit hat der Begriff „Kloster“ für viele seinen ver­staubt-frömmelnden Beigeschmack verloren. Der – wenigstens zeitweise – Rückzug in die abgeschlossene Welt des Klosters (lat. claustrum = abgeschlossen) und die damit verbundene Erfahrung klösterlicher Werte werden vermehrt gesucht.

„Wir haben in fast allem das Maß verloren und ständig das Gefühl, die Zeit renne uns davon.“

Die ver­schiede­nen Aspekte klösterlicher Werte wie Demut, Maß, Gehorsam, Arbeit, Rituale, Gebet u. a. stehen in Wech­sel­wirkung zueinander. Sie finden ihren gemeinsamen Nenner aber in den Grund­maxi­men Maßhalten und Zeiterleben.

Die innere Einstellung finden: Demut – Gehorsam – Gemein­schaft

Der klösterliche Begriff der Demut stammt aus dem Al­thochdeutschen und bedeutet ursprünglich „di­enst­willig“. Dazu gesellen sich die Begriffe „Gehorsam“ und „Gemein­schaft“: Die Bere­itschaft, etwas für die Gemein­schaft zu tun, schließt die Bere­itschaft ein, als gering geachtete Dienste auszuführen und darin Freude und Erfüllung zu finden. So kann es einem Hotelbe­sitzer Spaß machen, in einer Situation der Per­son­alk­nap­pheit bei einer großen Gästege­sellschaft selbst Hand anzulegen und beim Servieren zu helfen. Demut bedeutet Einordnung in die Gemein­schaft durch Rück­sicht­nahme, Respekt, Fre­undlichkeit oder auch Gast­fre­und­schaft. Wenn Sie sich Ihren Mitmenschen gegenüber als dankbar erweisen und Interesse an ihnen zeigen, wenn Sie erkennen, dass Sie von anderen lernen können, wenn Sie Vorurteile abbauen, dann ist das Demut. Das Gegenteil davon ist Hochmut, die selb­st­be­zo­gene Überhe­blichkeit rück­sicht­sloser Macht­men­schen und Besser­wisser. Ikarus, der zu hoch hinaus wollte, zerstörte seine Flügel an der Sonne. Er hatte das rechte Maß verloren.

„Nicht in an­passerischem oder feigem Verhalten äußert sich Demut, vielmehr in der Achtung dessen, was andere leisten, in Rück­sicht­nahme, Fre­undlichkeit und Dankbarkeit.“

Gehorsam hat, wie das Wort schon sagt, mit Zuhören zu tun. Jemand ist gehorsam, wenn er auf das hört, was ihm gesagt wird. Die Bere­itschaft, den Willen des Kloster­vor­stands im Sinne des Besten der Gemein­schaft anzuerken­nen, gehört ebenso dazu, wie einen Schick­salss­chlag als Chance zu begreifen. Ärgern Sie sich nicht über verlorenes Geld, das wäre Zeitver­schwen­dung. Nicht einmal ein Unfall, eine Krankheit oder der Tod geliebter Menschen sollten Anlass zur Verzwei­flung oder Resignation sein. Der Gehorsam gegenüber Gott drückt sich auch darin aus, die Gegeben­heiten anzunehmen, wie sie sind. Der Preis des Gehorsams kann sein, den eigenen Verstand auszuschal­ten und abzuwarten, was geschieht. Gehorsam führt dann auch zu einem veränderten Zeiterleben. Er findet allerdings dort seine Grenze, wo er zu unethischem Verhalten führen würde, als so genannter blinder Gehorsam.

„Der Übertreibung ent­ge­gen­zuwirken, hat Oscar Wilde gesagt, sei die Basis des guten Stils; es ist auch die Basis richtig ver­standener Askese.“

Gemein­schaften können nur mit Demut und Gehorsam funk­tion­ieren. Einordung und ein gewisses Maß an Un­terord­nung sind im asiatischen Kulturkreis in Familie, Wirtschaft und Staat viel ausgeprägter als bei uns. Aber auch das viel beschworene Team ist eine Gemein­schaft, die zumindest Einordnung verlangt. Sinns­tif­tend für Gemein­schaften sind gemeinsame Aufgaben, sei es das Gebet, die Krankenpflege oder das Erreichen eines Firmenziels. Mitgefühl und gemeinsame Rituale sind Grun­dele­mente einer Gemein­schaft. Wird z. B. das gemeinsame Essen in der Familie nicht mehr gepflegt, geht ein Teil des Gemein­schafts­gefühls verloren. Klöster stärken dieses durch die Vere­in­heitlichung der Or­den­stra­cht.

Das richtige Maß finden: Askese – Maßhalten – Bedürfnis­losigkeit

Das griechische Wort „askesis“ bedeutet ursprünglich das permanente Üben der Geschick­lichkeit des Handwerkers, das Trainieren, den ökonomischen Umgang mit Kraft und Fähigkeit. Bergsteiger bezwingen einen Gipfel leichter mit Geschick­lichkeit als mit reiner Muskelkraft, und der Buddha ist ein Symbol heiterer Askese eher im Sinne des Loslassens als des radikalen Verzichts, der eine Maßlosigkeit wäre. Weder die schlaffe noch die zu hart gespannte Violinsaite erzeugen einen wohlk­lin­gen­den Ton. Es geht darum, die goldene Mitte zu finden, auch im Leben. Die ständig vorm Fernseher hängende Couch-Potato und der verbissene Sportwettkämpfer sind von einer sinnvollen Mitte des Lebens gleich weit entfernt. Wohlver­standene Askese bedeutet, der Übertreibung ent­ge­gen­zuwirken. Sie ist eine Ausdauerübung, die auch die mentale Stärke und das Sinn- und Glückserleben fördert. Beim selb­stver­sunke­nen Spielen eines Instruments z. B., wie bei vielen anderen Tätigkeiten, die man mit Hingabe betreibt, hat man ein ganz anderes Zeit­er­leb­nis: Man vergisst die Zeit einfach.

„Geduld, jene Tugend aus Maß und Zeit, die gerade in bud­dhis­tis­chen Klöstern geübt wird, hilft auch im Alltag, das rechte Maß zu finden.“

Zum Maßhalten gehören Geduld und Gle­ichgewicht. Mit der Kloster­regel der „temperantia“ ist gemeint, die Dinge ins richtige Mis­chungsverhältnis zu bringen, zu har­monis­cher Aus­geglichen­heit. In erster Linie sollten Sie alle Übertrei­bun­gen vermeiden, modern gesprochen: zu einer Work-Life-Bal­ance finden. Das gilt auch für maßvolles, langsames, sorgfältig zu­bere­it­etes Essen und für gemäßigtes Konsumieren. Die immer kürzeren Pro­duk­tzyklen von Mode und technischen Geräten führen zu einem Übermaß an Arbeitszeit, die Sie investieren müssen, wenn Sie sich all das leisten wollen. Workaholics und Burnout-Geplagte offenbaren den Verlust des inneren Maßes, sie zeugen von Selb­stent­frem­dung und Entfremdung von Familie und Freunden.

„Seine Bedürfnisse einzuschränken bedeutet einen enormen Gewinn an Zeit.“

Klassische Beispiele von Bedürfnis­losigkeit sind Menschen, die ihre Besitztümer wegschenken, um ganz einfach zu leben, wie Buddha, der heilige Franziskus oder der Philosoph Wittgen­stein im 20. Jahrhundert. Auch der berühmte Zeichner Janosch hat sich bewusst für ein ganz beschei­denes Leben entschieden. Das Kleben am Besitz, die Ori­en­tierung an In-und Out-Listen, das Überangebot an Waren und das Rasen auf der Autobahn – dies alles macht tendenziell unfrei. Wer seine Bedürfnisse einschränkt, gewinnt Zeit. Sie müssen nicht wie Diogenes in einem Fass leben, aber zur Fort­be­we­gung genügt vielleicht ein kleineres Auto oder ein Fahrrad, und ein mit einfachen Mitteln liebevoll ar­rang­iertes Fest ist netter als eine von einem Service perfekt geplante Party.

Die innere Ruhe finden: Stille – Schweigen – Wachsamkeit

Die klösterliche Stille ist sprichwörtlich, die Schweigege­bote sind mitunter sehr streng. Sie sind das Gegenbild zur lärmenden Be­trieb­samkeit der Welt mit ihren Handy-Klin­geltönen, piependen Laptops und aufheulen­den Porschemo­toren. Dabei ist Stille keineswegs eintönig, man kann sie unter besonderen Umständen reich nuanciert erleben. Wenn Sie diese Stille bewusst suchen, z. B. auf einem einsamen Waldspazier­gang, wird auch das mit einer anderen Zeit­er­fahrung verknüpft sein. Selbst eine eintaktige Pause in einem Musikstück entfaltet eine erlebbare Wirkung von Stille.

„Wer diese Art des Gehorsams gelernt hat, gewinnt an innerer Freiheit, weil er sich nicht im Mittelpunkt der Welt, seiner Welt sieht, vielmehr als Diener einer großen Ordnung.“

Heutzutage leben wir nicht nur in einer Zeit der permanenten Musik- und Geräuschberieselung, sondern auch des überbor­den­den Mit­teilungs­bedürfnisses. Alles rauszu­lassen und mitzuteilen, führt oft genug dazu, dass Gefühle und Probleme regelrecht zerredet werden; ein typisches Anzeichen des Übermaßes. In berühmten Mythen wie dem von Orpheus oder Lohengrin und in vielen Märchen spielt das unbedingte Schweigege­bot eine zentrale Rolle. Wie die Stille kann Schweigen auch bedrückend sein, und verordnetes Schweigen wird daher oft genug gebrochen. Um eine Bere­icherung zu erfahren, muss man freiwillig schweigen können. In diesem Sinn unterbindet das Kloster die Geschwätzigkeit, Singen und Beten sind aber erlaubt.

„Anteilnahme beginnt, wie der Begriff sagt, mit dem Teilen, ob es um Essen, Besitz, Erfahrungen oder Empfind­un­gen geht.“

Die Ablenkung durch eine permanente Geräuschkulisse und sonstige Reize erschwert die Konzen­tra­tion. Die Ar­beitsweise moderner Multitasker, die gle­ichzeitig bügeln, fernsehen, tele­fonieren usw., führt zu Symptomen, die alle mit „Über“ beginnen: Übermüdung, Überforderung, Übergewicht. Bei gehetzten Büromenschen, Vielfliegern und Schichtar­beit­ern nimmt die Wachsamkeit zwangsläufig ab. Subtile Körpersignale – Vorzeichen von Gesund­heits­gefährdung – werden ignoriert, von Konzen­tra­tionss­chwächen ganz zu schweigen. Meditation, die vor allem in fernöstlichen Klöstern praktiziert wird, hilft, die ungeteilte, un­abge­lenkte Aufmerk­samkeit zu erlangen. Dazu bedarf es asketischer Übung. Der Erfolg der Meditation ist mit­tler­weile auch durch neuronale Un­ter­suchun­gen nachgewiesen.

Verankerung in der Wirk­lichkeit: Arbeit und Rituale

Eine Arbeit, die konzen­tri­ert, hinge­bungsvoll und ökonomisch „im Flow“ ausgeführt wird, ermöglicht Ihnen ein ganz anderes Zeit­er­leb­nis als gleichgültig ausgeführte, langweilige Arbeit. Es gibt Länder, in denen ein weit größerer Prozentsatz der Menschen mit ihrer Arbeit zufrieden ist als in Deutschland, obwohl die Tätigkeiten identisch sind. Der Unterschied liegt of­fen­sichtlich auf der Ebene der inneren Einstellung. Selbst einfache Tätigkeiten wie Busfahren oder Briefzustel­lung lassen sich subjektiv verbessern, wenn Sie Wege finden, sie kreativ besser zu gestalten, statt sich mit vielerlei Ablenkungs­manövern davor zu drücken. In Klöstern gilt die Regel, keine Arbeit gering zu achten.

„Rituale, die sich über Jahre, Jahrzehnte, Jahrhun­derte oder sogar Jahrtausende wiederholen, beziehen uns ein in ein zyklisches Geschehen: Wir gehören zu einer großen, langen Geschichte, zu einer Gemein­schaft, die überlebt, die nicht mit dem Tod des Einzelnen endet.“

Rituale wie Taufe, Hochzeit, Geburtstag, gemeinsames Essen oder Trauerfeier sind wichtige Zeit­er­leb­nisse, denn sie gliedern unseren Lebenslauf. Außerdem bewirken sie in hohem Maß eine Iden­ti­fika­tion mit der Gemein­schaft. Auch religiöse Feste wie Weihnachten oder Ostern sind besondere Zeit­er­leb­nisse, denn sie verbinden uns über Jahrhun­derte hinweg mit der Ver­gan­gen­heit. Alle Religionen und besonders die klösterlichen Gemein­schaften kennen Rituale und Feste in diesem Sinn des Zeit­er­lebens und der Iden­ti­fika­tion.

Tran­szen­denz: Gebet und Entschei­dungsfähigkeit

Eine gesteigerte, stark verin­ner­lichte Form religiöser Erfahrung ist das mystische Erlebnis. Hier liegt der eigentliche Kern des Gebets – nicht im Gesundbeten, im Beten zur persönlichen Wunscherfüllung oder in den Beschwörungs­formeln der Natur­re­li­gio­nen. Für den Weg zum mystischen Erlebnis haben die ver­schiede­nen Religionen un­ter­schiedliche Formen entwickelt. Das reicht von Ekstase bis zu tiefer Meditation. Bei allen mystischen Erlebnissen geht es letztlich um die Vereinigung mit Gott. Es wird eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gesucht. Viele Zeitgenossen spüren, dass die moderne, wis­senschaftliche Rationalität diese Antwort nicht geben kann. Die Sinnfrage ist eine Entschei­dung über Werte und daher durchaus prax­is­rel­e­vant.

„Alle diese klösterlichen Werte können sich als sinnvoll in unserem Alltag erweisen, gerade in Situationen am Scheideweg, denen wir täglich ausgesetzt werden.“

Manche neu­rowis­senschaftlichen Forscher postulieren, dass es keinen freien Willen gibt, sondern nur de­ter­minierte Handlungen. Dies berührt den Kern der Persönlichkeit, denn es würde bedeuten, dass wir weder frei entscheiden noch Gut und Böse un­ter­schei­den können, und damit keine wirkliche Freiheit besäßen. Die meisten unserer Entschei­dun­gen beruhen auf Werten und orientieren sich an einem Nor­men­sys­tem, das nicht in uns liegt. Entschei­dun­gen über wesentlich oder un­wesentlich, richtig oder falsch treffen wir überwiegend aus Erfahrung, weniger durch Wissen. Besonders komplexe Entschei­dun­gen, die unser Denkvermögen überfordern, kann man nur intuitiv, aus dem Bauch heraus treffen und liegt damit sogar meistens richtig. Wer im klösterlichen Wertesystem verankert ist, kann in dieser Hinsicht nicht viel falsch machen.

Über den Autor

Dr. med. Wilhelm Schmid-Bode ist Facharzt für psy­cho­so­ma­tis­che Medizin und Psy­chother­a­pie sowie Experte für Stress­forschung und Tra­di­tionelle Chinesische Medizin in München. Er gibt Seminare zu Selb­st­man­age­ment und Stressbewältigung.