Woran die Gegenwart krankt
Reizüberflutung, Termindruck, Events, Stress, Drogenkonsum einschließlich Medikamenten und Alkohol, Fastfood, Karrieregeilheit, Egoismus, Besitzgier nach schickeren Kleidern, schöneren Häusern und größeren Autos – es liegt auf der Hand, dass weniger manchmal mehr wäre. Klöster und Klosterkulturen weltweit bieten seit jeher eine Alternative zum gängigen Lebensstil: Verzicht, Maßhalten, Stille, Gemeinschaft. In jüngster Zeit hat der Begriff „Kloster“ für viele seinen verstaubt-frömmelnden Beigeschmack verloren. Der – wenigstens zeitweise – Rückzug in die abgeschlossene Welt des Klosters (lat. claustrum = abgeschlossen) und die damit verbundene Erfahrung klösterlicher Werte werden vermehrt gesucht.
„Wir haben in fast allem das Maß verloren und ständig das Gefühl, die Zeit renne uns davon.“
Die verschiedenen Aspekte klösterlicher Werte wie Demut, Maß, Gehorsam, Arbeit, Rituale, Gebet u. a. stehen in Wechselwirkung zueinander. Sie finden ihren gemeinsamen Nenner aber in den Grundmaximen Maßhalten und Zeiterleben.
Die innere Einstellung finden: Demut – Gehorsam – Gemeinschaft
Der klösterliche Begriff der Demut stammt aus dem Althochdeutschen und bedeutet ursprünglich „dienstwillig“. Dazu gesellen sich die Begriffe „Gehorsam“ und „Gemeinschaft“: Die Bereitschaft, etwas für die Gemeinschaft zu tun, schließt die Bereitschaft ein, als gering geachtete Dienste auszuführen und darin Freude und Erfüllung zu finden. So kann es einem Hotelbesitzer Spaß machen, in einer Situation der Personalknappheit bei einer großen Gästegesellschaft selbst Hand anzulegen und beim Servieren zu helfen. Demut bedeutet Einordnung in die Gemeinschaft durch Rücksichtnahme, Respekt, Freundlichkeit oder auch Gastfreundschaft. Wenn Sie sich Ihren Mitmenschen gegenüber als dankbar erweisen und Interesse an ihnen zeigen, wenn Sie erkennen, dass Sie von anderen lernen können, wenn Sie Vorurteile abbauen, dann ist das Demut. Das Gegenteil davon ist Hochmut, die selbstbezogene Überheblichkeit rücksichtsloser Machtmenschen und Besserwisser. Ikarus, der zu hoch hinaus wollte, zerstörte seine Flügel an der Sonne. Er hatte das rechte Maß verloren.
„Nicht in anpasserischem oder feigem Verhalten äußert sich Demut, vielmehr in der Achtung dessen, was andere leisten, in Rücksichtnahme, Freundlichkeit und Dankbarkeit.“
Gehorsam hat, wie das Wort schon sagt, mit Zuhören zu tun. Jemand ist gehorsam, wenn er auf das hört, was ihm gesagt wird. Die Bereitschaft, den Willen des Klostervorstands im Sinne des Besten der Gemeinschaft anzuerkennen, gehört ebenso dazu, wie einen Schicksalsschlag als Chance zu begreifen. Ärgern Sie sich nicht über verlorenes Geld, das wäre Zeitverschwendung. Nicht einmal ein Unfall, eine Krankheit oder der Tod geliebter Menschen sollten Anlass zur Verzweiflung oder Resignation sein. Der Gehorsam gegenüber Gott drückt sich auch darin aus, die Gegebenheiten anzunehmen, wie sie sind. Der Preis des Gehorsams kann sein, den eigenen Verstand auszuschalten und abzuwarten, was geschieht. Gehorsam führt dann auch zu einem veränderten Zeiterleben. Er findet allerdings dort seine Grenze, wo er zu unethischem Verhalten führen würde, als so genannter blinder Gehorsam.
„Der Übertreibung entgegenzuwirken, hat Oscar Wilde gesagt, sei die Basis des guten Stils; es ist auch die Basis richtig verstandener Askese.“
Gemeinschaften können nur mit Demut und Gehorsam funktionieren. Einordung und ein gewisses Maß an Unterordnung sind im asiatischen Kulturkreis in Familie, Wirtschaft und Staat viel ausgeprägter als bei uns. Aber auch das viel beschworene Team ist eine Gemeinschaft, die zumindest Einordnung verlangt. Sinnstiftend für Gemeinschaften sind gemeinsame Aufgaben, sei es das Gebet, die Krankenpflege oder das Erreichen eines Firmenziels. Mitgefühl und gemeinsame Rituale sind Grundelemente einer Gemeinschaft. Wird z. B. das gemeinsame Essen in der Familie nicht mehr gepflegt, geht ein Teil des Gemeinschaftsgefühls verloren. Klöster stärken dieses durch die Vereinheitlichung der Ordenstracht.
Das richtige Maß finden: Askese – Maßhalten – Bedürfnislosigkeit
Das griechische Wort „askesis“ bedeutet ursprünglich das permanente Üben der Geschicklichkeit des Handwerkers, das Trainieren, den ökonomischen Umgang mit Kraft und Fähigkeit. Bergsteiger bezwingen einen Gipfel leichter mit Geschicklichkeit als mit reiner Muskelkraft, und der Buddha ist ein Symbol heiterer Askese eher im Sinne des Loslassens als des radikalen Verzichts, der eine Maßlosigkeit wäre. Weder die schlaffe noch die zu hart gespannte Violinsaite erzeugen einen wohlklingenden Ton. Es geht darum, die goldene Mitte zu finden, auch im Leben. Die ständig vorm Fernseher hängende Couch-Potato und der verbissene Sportwettkämpfer sind von einer sinnvollen Mitte des Lebens gleich weit entfernt. Wohlverstandene Askese bedeutet, der Übertreibung entgegenzuwirken. Sie ist eine Ausdauerübung, die auch die mentale Stärke und das Sinn- und Glückserleben fördert. Beim selbstversunkenen Spielen eines Instruments z. B., wie bei vielen anderen Tätigkeiten, die man mit Hingabe betreibt, hat man ein ganz anderes Zeiterlebnis: Man vergisst die Zeit einfach.
„Geduld, jene Tugend aus Maß und Zeit, die gerade in buddhistischen Klöstern geübt wird, hilft auch im Alltag, das rechte Maß zu finden.“
Zum Maßhalten gehören Geduld und Gleichgewicht. Mit der Klosterregel der „temperantia“ ist gemeint, die Dinge ins richtige Mischungsverhältnis zu bringen, zu harmonischer Ausgeglichenheit. In erster Linie sollten Sie alle Übertreibungen vermeiden, modern gesprochen: zu einer Work-Life-Balance finden. Das gilt auch für maßvolles, langsames, sorgfältig zubereitetes Essen und für gemäßigtes Konsumieren. Die immer kürzeren Produktzyklen von Mode und technischen Geräten führen zu einem Übermaß an Arbeitszeit, die Sie investieren müssen, wenn Sie sich all das leisten wollen. Workaholics und Burnout-Geplagte offenbaren den Verlust des inneren Maßes, sie zeugen von Selbstentfremdung und Entfremdung von Familie und Freunden.
„Seine Bedürfnisse einzuschränken bedeutet einen enormen Gewinn an Zeit.“
Klassische Beispiele von Bedürfnislosigkeit sind Menschen, die ihre Besitztümer wegschenken, um ganz einfach zu leben, wie Buddha, der heilige Franziskus oder der Philosoph Wittgenstein im 20. Jahrhundert. Auch der berühmte Zeichner Janosch hat sich bewusst für ein ganz bescheidenes Leben entschieden. Das Kleben am Besitz, die Orientierung an In-und Out-Listen, das Überangebot an Waren und das Rasen auf der Autobahn – dies alles macht tendenziell unfrei. Wer seine Bedürfnisse einschränkt, gewinnt Zeit. Sie müssen nicht wie Diogenes in einem Fass leben, aber zur Fortbewegung genügt vielleicht ein kleineres Auto oder ein Fahrrad, und ein mit einfachen Mitteln liebevoll arrangiertes Fest ist netter als eine von einem Service perfekt geplante Party.
Die innere Ruhe finden: Stille – Schweigen – Wachsamkeit
Die klösterliche Stille ist sprichwörtlich, die Schweigegebote sind mitunter sehr streng. Sie sind das Gegenbild zur lärmenden Betriebsamkeit der Welt mit ihren Handy-Klingeltönen, piependen Laptops und aufheulenden Porschemotoren. Dabei ist Stille keineswegs eintönig, man kann sie unter besonderen Umständen reich nuanciert erleben. Wenn Sie diese Stille bewusst suchen, z. B. auf einem einsamen Waldspaziergang, wird auch das mit einer anderen Zeiterfahrung verknüpft sein. Selbst eine eintaktige Pause in einem Musikstück entfaltet eine erlebbare Wirkung von Stille.
„Wer diese Art des Gehorsams gelernt hat, gewinnt an innerer Freiheit, weil er sich nicht im Mittelpunkt der Welt, seiner Welt sieht, vielmehr als Diener einer großen Ordnung.“
Heutzutage leben wir nicht nur in einer Zeit der permanenten Musik- und Geräuschberieselung, sondern auch des überbordenden Mitteilungsbedürfnisses. Alles rauszulassen und mitzuteilen, führt oft genug dazu, dass Gefühle und Probleme regelrecht zerredet werden; ein typisches Anzeichen des Übermaßes. In berühmten Mythen wie dem von Orpheus oder Lohengrin und in vielen Märchen spielt das unbedingte Schweigegebot eine zentrale Rolle. Wie die Stille kann Schweigen auch bedrückend sein, und verordnetes Schweigen wird daher oft genug gebrochen. Um eine Bereicherung zu erfahren, muss man freiwillig schweigen können. In diesem Sinn unterbindet das Kloster die Geschwätzigkeit, Singen und Beten sind aber erlaubt.
„Anteilnahme beginnt, wie der Begriff sagt, mit dem Teilen, ob es um Essen, Besitz, Erfahrungen oder Empfindungen geht.“
Die Ablenkung durch eine permanente Geräuschkulisse und sonstige Reize erschwert die Konzentration. Die Arbeitsweise moderner Multitasker, die gleichzeitig bügeln, fernsehen, telefonieren usw., führt zu Symptomen, die alle mit „Über“ beginnen: Übermüdung, Überforderung, Übergewicht. Bei gehetzten Büromenschen, Vielfliegern und Schichtarbeitern nimmt die Wachsamkeit zwangsläufig ab. Subtile Körpersignale – Vorzeichen von Gesundheitsgefährdung – werden ignoriert, von Konzentrationsschwächen ganz zu schweigen. Meditation, die vor allem in fernöstlichen Klöstern praktiziert wird, hilft, die ungeteilte, unabgelenkte Aufmerksamkeit zu erlangen. Dazu bedarf es asketischer Übung. Der Erfolg der Meditation ist mittlerweile auch durch neuronale Untersuchungen nachgewiesen.
Verankerung in der Wirklichkeit: Arbeit und Rituale
Eine Arbeit, die konzentriert, hingebungsvoll und ökonomisch „im Flow“ ausgeführt wird, ermöglicht Ihnen ein ganz anderes Zeiterlebnis als gleichgültig ausgeführte, langweilige Arbeit. Es gibt Länder, in denen ein weit größerer Prozentsatz der Menschen mit ihrer Arbeit zufrieden ist als in Deutschland, obwohl die Tätigkeiten identisch sind. Der Unterschied liegt offensichtlich auf der Ebene der inneren Einstellung. Selbst einfache Tätigkeiten wie Busfahren oder Briefzustellung lassen sich subjektiv verbessern, wenn Sie Wege finden, sie kreativ besser zu gestalten, statt sich mit vielerlei Ablenkungsmanövern davor zu drücken. In Klöstern gilt die Regel, keine Arbeit gering zu achten.
„Rituale, die sich über Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende wiederholen, beziehen uns ein in ein zyklisches Geschehen: Wir gehören zu einer großen, langen Geschichte, zu einer Gemeinschaft, die überlebt, die nicht mit dem Tod des Einzelnen endet.“
Rituale wie Taufe, Hochzeit, Geburtstag, gemeinsames Essen oder Trauerfeier sind wichtige Zeiterlebnisse, denn sie gliedern unseren Lebenslauf. Außerdem bewirken sie in hohem Maß eine Identifikation mit der Gemeinschaft. Auch religiöse Feste wie Weihnachten oder Ostern sind besondere Zeiterlebnisse, denn sie verbinden uns über Jahrhunderte hinweg mit der Vergangenheit. Alle Religionen und besonders die klösterlichen Gemeinschaften kennen Rituale und Feste in diesem Sinn des Zeiterlebens und der Identifikation.
Transzendenz: Gebet und Entscheidungsfähigkeit
Eine gesteigerte, stark verinnerlichte Form religiöser Erfahrung ist das mystische Erlebnis. Hier liegt der eigentliche Kern des Gebets – nicht im Gesundbeten, im Beten zur persönlichen Wunscherfüllung oder in den Beschwörungsformeln der Naturreligionen. Für den Weg zum mystischen Erlebnis haben die verschiedenen Religionen unterschiedliche Formen entwickelt. Das reicht von Ekstase bis zu tiefer Meditation. Bei allen mystischen Erlebnissen geht es letztlich um die Vereinigung mit Gott. Es wird eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gesucht. Viele Zeitgenossen spüren, dass die moderne, wissenschaftliche Rationalität diese Antwort nicht geben kann. Die Sinnfrage ist eine Entscheidung über Werte und daher durchaus praxisrelevant.
„Alle diese klösterlichen Werte können sich als sinnvoll in unserem Alltag erweisen, gerade in Situationen am Scheideweg, denen wir täglich ausgesetzt werden.“
Manche neurowissenschaftlichen Forscher postulieren, dass es keinen freien Willen gibt, sondern nur determinierte Handlungen. Dies berührt den Kern der Persönlichkeit, denn es würde bedeuten, dass wir weder frei entscheiden noch Gut und Böse unterscheiden können, und damit keine wirkliche Freiheit besäßen. Die meisten unserer Entscheidungen beruhen auf Werten und orientieren sich an einem Normensystem, das nicht in uns liegt. Entscheidungen über wesentlich oder unwesentlich, richtig oder falsch treffen wir überwiegend aus Erfahrung, weniger durch Wissen. Besonders komplexe Entscheidungen, die unser Denkvermögen überfordern, kann man nur intuitiv, aus dem Bauch heraus treffen und liegt damit sogar meistens richtig. Wer im klösterlichen Wertesystem verankert ist, kann in dieser Hinsicht nicht viel falsch machen.
Dr. med. Wilhelm Schmid-Bode ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Experte für Stressforschung und Traditionelle Chinesische Medizin in München. Er gibt Seminare zu Selbstmanagement und Stressbewältigung.