Angst = Schwäche?
Wir alle haben Angst – und gestehen uns das oft problemlos zu: Vor einem bissigen Hund oder am Rand eines Abgrunds Angst zu haben, ist gesellschaftlich akzeptiert. Doch oft genug heißt es auch „Stell Dich nicht so an“: Wer ungern in ein Flugzeug oder in einen Aufzug steigt, wird nur bedingt auf Verständnis treffen. Die Versuchung liegt nah, solche Ängste zu verdrängen und Situationen zu meiden, in denen sie auftreten können. Doch das ist genau der falsche Weg: Je länger die Angst verdrängt wird, desto stärker wird sie. Ein Teufelskreis.
„Mit Angst wird häufig Schwäche assoziiert.“
Wir sind tough, haben alles im Griff: So sehen wir uns gern. Den Mut allerdings, unseren Ängsten nicht auszuweichen, haben die wenigsten. Doch gerade diesen Mut brauchen wir. Das fällt vor allem im Beruf schwer. Häufig wird die Gleichung „Angst = Schwäche“ aufgestellt. Wer seine Ängste zugibt, läuft Gefahr, an Respekt zu verlieren. Neue Ängste tauchen auf: z. B. die, statt auf der Beförderungsliste plötzlich auf der Abschussliste zu stehen.
Das Barometer der Angst
Um Ihre Ängste kennen zu lernen und sie in den Griff zu bekommen, müssen Sie sich auf sie einlassen und herausfinden, woher sie kommen und wofür sie stehen. Der erste Schritt auf diesem Weg ist die Ist-Analyse. Legen Sie zu diesem Zweck ein persönliches Angstbarometer an, das von „angstfrei“ bis „Panik“ reicht. Darauf markieren Sie jeden Tag mit einem Stift oder Klebepunkt, wie ängstlich Sie heute sind. Bereits nach ein oder zwei Wochen lässt sich so das Ausmaß der Angst ziemlich genau bestimmen – das ist wesentlich genauer als die subjektive Erinnerung.
„Existenzängste sind die häufigsten Ängste in deutschen Büros.“
Ihr nächster Schritt ist ein Angsttagebuch. Darin beschreiben Sie, wann, wo und weshalb die Angst auftritt. Halten Sie Datum, Situation, körperliche Angstreaktion und Verhalten fest. So gewinnen Sie im Lauf der Wochen einen Überblick über Art und Ausmaß Ihrer Ängste. Am einfachsten festzumachen sind spezielle Phobien (z. B. Angst vor Spinnen, Höhenangst); sie führen bei den Betroffenen dazu, dass sie bestimmte Situationen vermeiden. Die Angst, von anderen Menschen beobachtet und negativ bewertet zu werden, führt zu sozialen Phobien – ein echter Karrierekiller. Generell gilt: Reden hilft. Wer über seine Ängste reden kann und Zuhörer findet, ist nicht so allein.
Angst bei Arbeitnehmern
Arbeitgeber sind schlecht beraten, diese Probleme als „Privatsache“ abzutun. Denn Angststörungen treiben den Krankenstand hoch, und nicht nur das: Selbst wenn sie anwesend sind, zeigen sich solche Mitarbeiter weniger einsatzbereit als andere und verschlechtern das Betriebsklima. Sie vermitteln Kunden dadurch indirekt, dass es um die Stimmung bei diesem Arbeitgeber nicht zum Besten stehen kann. All das fällt auf das Unternehmen zurück.
„Angst ist ein Energieräuber. Höchstleistungen sind da fast ausgeschlossen, Minderleistungen eher wahrscheinlich.“
Angst ist kein Randthema. Umfragen zeigen, dass rund zwei Drittel der Mitarbeiter Angst haben – vor Kündigung, vor ihrem Chef, vor einem überfordernden Arbeitspensum. Jeder zweite Unternehmer oder Selbstständige ängstigt sich vor der wirtschaftlichen Zukunft. Ein Drittel der Manager sorgt sich um die Zukunft ihres Arbeitgebers. Angst ist weit verbreitet im Berufsleben. Nur an einem angemessenen Umgang mit ihr hapert es. Nicht einmal jedes zehnte Unternehmen in Deutschland setzt sich mit der Problematik auseinander.
„Wer seine Angst in den Griff bekommen möchte, muss diese zunächst genau kennen lernen.“
Zu den häufigsten Ängsten im Arbeitsleben zählen die Ängste vor betriebsbedingter und selbst verschuldeter Kündigung. Die Angst vor Entlassung ist – zumindest in dieser Massivität – ein neues Phänomen. Für ihr Entstehen sind zum einen Zeit- und befristete Verträge verantwortlich, zum anderen die Erfahrung, dass gute Leistung den Arbeitsplatz keineswegs garantiert. Arbeitgeber forcieren diese Ängste zusätzlich, um die Zahl der Krankmeldungen zu senken und die Bereitschaft zu (auch unbezahlten) Überstunden zu erhöhen.
„Angstzustände und Depressionen sind bei Menschen, die Arbeit haben, die vierthäufigste Krankheit.“
Wer sich vor einer Kündigung fürchtet, sollte im ersten Schritt die Situation analysieren: Wie steht es um die Firma, sind Entlassungen geplant, und wenn ja, in welchem Bereich? Wie zufrieden sind Chefs und Mitarbeiter mit meinen Leistungen? Im nächsten Schritt heißt es: Augen auf! Welche Chancen gibt es – innerhalb und außerhalb der Firma? Es gilt, Einsatz zu zeigen und auf das Geleistete aufmerksam zu machen. Selbstbewusstsein schadet nie.
„Geholfen werden kann nur dem, der den Mund aufmacht.“
Je größer die persönliche Entscheidungsfreiheit ist, desto besser. Je machtloser sich Arbeiter und Angestellte fühlen, desto ausgeprägter sind ihre Ängste. Untersuchungen zeigen, dass fehlende zeitliche Flexibilität, unrealistische Vorgaben, unverständliche Ziele und eine als ungerecht erlebte Behandlung die Ängste der Mitarbeiter schüren.
Angst in den oberen Etagen
Auch Führungskräfte sind keineswegs vor Ängsten gefeit, wenngleich mit steigendem Einfluss der Angstpegel generell sinkt. Häufig müssen Manager ihr Privatleben hintanstellen, um den beruflichen Anforderungen zu genügen. Gleichzeitig kompensieren sie über ihr Gehalt ihr schlechtes Gewissen, weil die Familie zu kurz kommt. Der Betrieb als Ersatzfamilie – ein Trick vieler Angestellter und Arbeiter – ist für Führungskräfte keine Option. Jeder Chef muss ständig unpopuläre Entscheidungen treffen oder durchsetzen, er wird automatisch zum Einzelkämpfer. Darum sind Treffen außerhalb des Unternehmens zum Austausch mit Menschen in vergleichbaren Positionen beliebt.
„Denken Sie die Worst-Case-Szenarien zu Ende, um zu erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass auch nur eine Ihrer Befürchtungen Wirklichkeit wird.“
Unternehmer haben vergleichbare Existenzängste: Sie sind für alles selbst verantwortlich. Die Vielzahl der Aufgaben führt zu einem immensen Stress- und häufig auch Angstpegel. Wer an Niederlagen und Fehlschlägen lange knabbert, statt mit ständig neuem Elan nach vorne zu schauen, wird irgendwann davon zerfressen.
Regeln für ein angstfreies Klima
Seit Urzeiten reagieren die Menschen auf Angst mit Flucht, Kampf oder Tot-Stellen. Diese Muster sind der Karriere alles andere als förderlich. Die Flucht führt in die Krankheit und zur Kündigung, der Kampf zu erbitterten Diskussionen mit Kollegen und Chefs (was sich auf das Betriebsklima auswirkt), und Tot-Stellen entspricht dem Dienst nach Vorschrift.
„Nutzen Sie täglich die Gelegenheit, sich Ihrer Angst zu stellen.“
Sich aus diesen Mustern zu befreien, obliegt dem Einzelnen. In den meisten Unternehmen werden Konflikte eher verdrängt als gelöst. Ein Machtwort vom Chef nützt da gar nichts. Wenn Unternehmen sich des Problems annehmen wollen, bedarf es der Offenheit und des Vertrauens zwischen allen Beteiligten. Deshalb sind Chefs gefordert, möglichst transparent zu agieren und in Konfliktsituationen zu zeigen, dass es um die Sache geht, ohne dass im Hintergrund eine drohende Kündigung mitschwingt. Die zehn Chef-Regeln für ein angstfreies Klima lauten:
- Behandeln Sie die Mitarbeiter fair und freundlich.
- Respektieren Sie die Mitarbeiter als Menschen.
- Lassen Sie den Mitarbeitern so viel Verantwortung wie möglich.
- Seien Sie offen für konstruktive Kritik.
- Sagen Sie im Gespräch, wie Sie die Leistung des Mitarbeiters einschätzen.
- Verteilen Sie Aufgaben, Lob und Kritik nach einem nachvollziehbaren Maßstab.
- Führen Sie Protokoll über Ihre Entscheidungen und Ihre Arbeitsaufträge.
- Lassen Sie Ihre Mitarbeiter ihre Arbeit tun.
- Mitarbeiter müssen die Chance haben, Probleme und Fehler einzugestehen.
- Chefs auch.
„Lassen Sie nicht zu, dass die Angst Sie beherrscht. Beherrschen Sie die Angst!“
Um einen Austausch zu etablieren, der über „sich mal ordentlich die Meinung sagen“ hinausgeht, müssen Sie Feedback-Regeln einführen. Die lauten: Vorwürfe vermeiden, sachlich bleiben und Ich-Botschaften senden. Eingehen auf das Gegenüber ist ebenfalls sinnvoll („Sie wirken auf mich momentan ...“). Es geht darum, zu beschreiben und nicht zu bewerten. Wer solch ein Feedback erhält, sollte es annehmen und nicht anfangen, sich zu rechtfertigen. Diese Form des Austauschs bietet sich nicht nur zwischen Chef und Angestelltem an, sondern auch als Richtschnur für den Umgang unter Kollegen.
In 30 Tagen angstfrei
Flüchten oder Tot-Stellen hilft nicht, um die eigenen Ängste in den Griff zu bekommen. Der erste Schritt sollte sein, sich die Ängste einzugestehen und zu fragen: Was passiert da eigentlich? Wenn falsche Glaubenssätze die Angststörungen auslösen, sollten Sie das Gespräch mit Fachleuten suchen. Um eine über Jahre gewachsene Angststörung zu bewältigen, braucht es Monate, manchmal Jahre. Dabei gilt es, sich den eigenen Ängsten wieder und wieder zu stellen. Aber jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Hier das Trainingsprogramm, um sich innerhalb von 30 Tagen spürbar von der Last der eigenen Ängste zu erleichtern:
- Tag 1 bis 3: Holen Sie das Angsttagebuch hervor, um den Status der Angst festzustellen. Daraus leiten Sie ein positives und konkretes Ziel ab, das Sie zu einem festgelegten Zeitpunkt erreichen wollen. Zum Beispiel: „Ich werde beim nächsten Meeting eine Präsentation halten und mich gut dabei fühlen.“
- Ab Tag 4: Sport oder meditative Techniken wie Yoga oder autogenes Training helfen abzuschalten und gelassener zu werden. Gleichzeitig erlauben sie, Situationen im Job, die mit Stress verbunden sind, entspannter anzugehen.
- Ab Tag 6: Die Angst kennen lernen bedeutet, sie sich konkret vorzustellen: Wie fühlt sie sich an, was ist zu schmecken, zu riechen? Gefühle dürfen nicht verdrängt, sondern müssen zugelassen werden. Welche Einschränkungen haben die Ängste zur Folge? Gibt es auch Vorteile? Auch das sollten Sie notieren und reflektieren.
- Ab Tag 10: „Stopp!“ lautet das Zauberwort, um das Grübeln zu beenden. Nur wer eine angstbesetzte Situation nach der anderen angeht und versucht, das Positive daran zu entdecken, wird diesen Kreislauf durchbrechen können. Das Negative wird benannt – und ins Positive gewendet. Erst im Kopf, dann in der Tat.
- Ab Tag 12: Die Kopfarbeit läuft folgendermaßen ab: Sie spielen jede beängstigende Situation bis an ihr schlimmstes Ende durch. Wer beispielsweise Angst vor der Fahrt im Aufzug hat, soll sich die schlimmsten Folgen eines Unfalls in aller Konsequenz vorstellen – und sie dann mit der Realität abgleichen. Wie realistisch ist ein Absturz? Ein Steckenbleiben? Erst das Durchdenken bis zum Schluss sorgt dafür, dass sich das Angstszenario auflösen kann. Daran knüpft die konkrete Handlung an: Stellen Sie sich Orten und/oder Situationen, die Ängste auslösen. Mit dem scheinbar Leichtesten sollten Sie anfangen, vielleicht auch nicht übermäßig lange. Wichtig ist, sich schrittweise zu steigern.
- Ab Tag 28: Es wird Rückschläge geben. Deshalb ist es wichtig, dass Sie nicht kapitulieren. Damit das nicht passiert, helfen Übungen wie diese: Jeden Tag mit positiven Gedanken beginnen und eine aufrechte Körperhaltung einnehmen. Ähnlich wie das Angsttagebuch kann Ihnen ein Mutprotokoll helfen, die bisher verbuchten Erfolge nicht zu relativieren. Erfolg ist schließlich das Resultat vieler kleiner Schritte.