Wucherzins und Höllenqualen

Buch Wucherzins und Höllenqualen

Ökonomie und Religion im Mittelalter

Klett-Cotta,
Erstausgabe:1986


Rezension

Nie hatte die Fi­nanzbranche einen so schlechten Ruf wie heute. Könnte man zumindest denken. Doch verglichen mit dem, was die Wechsler und Geld­ver­lei­her im Mittelalter zu erdulden hatten, nehmen sich die aktuellen Vorwürfe gegen die Banker geradezu harmlos aus. Der renommierte Historiker Jacques Le Goff stellt in diesem Buch die Kämpfe vor, die damals zwischen kirchlicher Lehre und wirtschaftlichen Notwendigkeiten aus­ge­fochten wurden. Er zitiert ausgiebig Schauergeschichten, mit denen man den Wucherern im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle heiß machte, verliert aber dabei nie die Relevanz des Themas für die heutige Zeit aus den Augen. Es wird klar, dass die mit­te­lal­ter­liche Debatte über den Zins ein Meilenstein auf dem Weg zum Bankwesen und letztlich zum Kap­i­tal­is­mus war. getAbstract empfiehlt das spannende Buch allen, die sich für die Urzeit unseres Fi­nanzsys­tems in­ter­essieren.

Take-aways

  • Der Vorwurf des Wuchers zeigt, wie sich Religion und Wirtschaft im Mittelalter vermischt haben.
  • Im 13. Jahrhundert führten der gesellschaftliche Wandel und der Aufschwung der Wirtschaft zu einem erhöhten Bedarf an Krediten.
  • Die Kirche wandte sich mit scharfer Polemik gegen die aufk­om­menden Finanzgeschäfte und die neuen Berufe.
  • Zinsen galten als widernatürliches Einkommen von Müßiggängern.
  • Unter den Wechslern und Geld­ver­lei­h­ern gab es viele Juden, denen die meisten anderen Berufe verboten waren.
  • An­ti­semi­tis­che Ressen­ti­ments trugen zur Ablehnung des Berufs bei.
  • Das biblische Zinsverbot wurde mit vielen Tricks umgangen.
  • Die Idee vom reinigenden Fegefeuer und eine in­di­vidu­elle Bußpraxis ermöglichten es schließlich auch Christen, ohne Glauben­skon­flikte Zinsgeschäfte zu betreiben.
  • Letztlich ging es bei den Debatten im Mittelalter bereits um die Frage, wo angemessener Gewinn aufhört und unmäßige Profitgier anfängt.
  • Die Au­seinan­der­set­zun­gen rund um den Wucher waren wichtige Schritte hin zum Kap­i­tal­is­mus.
 

Zusammenfassung

Zinsgeschäfte als gesellschaftlicher Makel

„Wucher“ war im Mittelalter ein Kernbegriff, der damit verbundene Vorwurf war in ganz Europa weit verbreitet. Der Ausdruck steht für eine Vermischung von Religion und Ökonomie und ist ein bleibendes Symbol für das mit­te­lal­ter­liche Denken. Vor allem im 13. Jahrhundert war der Begriff gang und gäbe – eine Reaktion auf die Ausbreitung der Geld­wirtschaft. Al­therge­brachte christliche Werte gerieten in Gefahr. Entsprechend vehement widersetzte sich die Kirche den Methoden der neuen Wirtschaft­sor­d­nung und geißelte den Wucher. Dieser wurde mit dem kat­e­gorischen Verbot von Zinsen bekämpft: Man sollte nicht mehr nehmen dürfen, als man zu geben bereit war. Prediger ar­gu­men­tierten mit Bibelz­i­taten wie „Wer Geld lieb hat, der bleibt nicht ohne Sünde“ oder „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“. Wucherer galten als Zeitdiebe: Die Zeit gehörte Gott, und trotzdem handelten sie genau damit. Das war übrigens ein Vorwurf, der in ähnlicher Form an Lehrkräfte gerichtet wurde, die damals begannen, außerhalb von Kloster­schulen zu un­ter­richten. Sie wurden als „Wortdiebe“ diffamiert. Das Zerrbild des gierigen Geld­ver­lei­hers rückte den Fortschritt der Geld­wirtschaft in den christlichen Ländern in ein schlechtes Licht – und bediente gesellschaftliche Vorurteile. Oft warf man den Juden die Todsünde der Habsucht vor und stellte sie damit Kindsmördern und Hostienschändern gleich.

Die Bibel und der Wucher

Im Unterschied zu vielen anderen Aspekten des Lebens äußert sich die Bibel zum Thema Wucher relativ eindeutig. In fünf Texten, davon vier im Alten Testament, wird der Wucher explizit verurteilt. So heißt es beispiel­sweise in einem auch für die jüdische Religion gültigen Verbot: „Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volk, an einen Armen neben dir, so sollst du nicht wie ein Wucherer handeln; du sollst keinerlei Zinsen von ihm nehmen“ (Exodus 22,24). Dieser Regel fühlten sich die mit­te­lal­ter­lichen Christen verpflichtet, denn sie fürchteten um den Eintritt ins Paradies. An einer anderen Bibelstelle heißt es, das Zinsverbot betreffe nur Ein­heimis­che, worunter Christen sowohl ihres­gle­ichen als auch Juden verstanden. Von Fremden dagegen durften Zinsen verlangt werden – was im Kriegsfall neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnete. Personen aus dem Feindesland kamen dadurch als Partner für Zinsgeschäfte infrage. „Wo Kriegsrecht gilt, da gilt das Recht zum Wucher“, lautete eine Aussage im kanonischen Recht. Auch im Neuen Testament wird gegen den Wucher und die Zinsen gepredigt: „Vielmehr liebt eure Feinde, tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft“ (Lukas 6,35).

Der Wucher­be­griff im Mittelalter

Das Wort „Wucher“ (lat. „usurae“) wird in den mit­te­lal­ter­lichen Quellen meist im Plural benutzt – stel­lvertre­tend für die vielen Formen des Wuchers. Grundsätzlich verstand man unter Wucher die Gewohnheit, bei Geschäften Zins zu verlangen, bei denen keiner verlangt werden durfte. Bestimmte Gewinne wurden als anstößig betrachtet. Aber auch das Übermaß galt als Frevel. Das Gebot zinslosen Leihens spiegelt ein Schlüsselprinzip der ökonomischen Beziehungen zwischen Menschen in christlichen Ländern wider: die Gegen­seit­igkeit, der Tausch von etwas gegen etwas anderes, Gle­ich­w­er­tiges. Der Zins verletzte diese Gle­ich­w­er­tigkeit nach damaliger Ansicht und war von kirchlicher Seite – später auch von Karl dem Großen – untersagt. Den Geistlichen war der Wucher schon seit dem Jahr 300 verboten, seit dem siebten Jahrhundert auch den Laien.

Eine neue Be­icht­praxis und Predigtkul­tur

Mit einer neuen Predigtkul­tur versuchte die Kirche, dem wachsenden Wohlstand und damit der zunehmend weltlichen Ori­en­tierung etwas ent­ge­gen­zuset­zen. Der ökonomische Alltag der Menschen geriet ins Blickfeld. Die asketischen Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner haben ihre Wurzeln in dieser Zeit, als persönlicher Reichtum zur Zielscheibe religiöser Predigten wurde. Als Quellen für die Hintergründe der damaligen Wucherde­bat­ten kommen vor allem zwei Schrift­gat­tun­gen infrage: die Summae und die Exempla. Summae waren Handbücher für Beichtväter, die damit je nach Schwere und Art des Vergehens Bußübungen verhängen konnten. Diese Leitfäden wurden nötig, weil die Kirchen­vertreter zu Beginn des 13. Jahrhun­derts mit einer neuen Be­icht­praxis kon­fron­tiert wurden: Die kollektive, öffentliche und nur gele­gentliche Beichte wurde von der in­di­vidu­ellen und häufigen Beichte abgelöst; im Jahr 1215 wurde es sogar zur Pflicht, mindestens einmal jährlich die Beichte abzulegen. Dadurch wandelte sich der Charakter dieser Buße. Die Schwere einer Untat sollte nun daran bemessen werden, welche Absicht hinter ihr stand. Das setzte beim Beichtenden die Fähigkeit zur Selb­st­be­tra­ch­tung und eine Gewissensprüfung voraus, während der Beichtvater psy­chol­o­gis­ches Urteilsvermögen benötigte. Ohne das Regelbuch wären damit viele überfordert gewesen. In diesen Beichtbüchern ist denn auch oft vom Wucher die Rede, nicht aber vom Wucherer. Jemanden in diese Kategorie einzustufen, war Sache des Be­icht­vaters. Der Wucherer als handelnde Person stand im Mittelpunkt der Exempla, kurzer belehrender Erzählungen von Predigern. Diese ausgeschmückten Geschichten waren allgegenwärtig. Die Predigt war das wichtigste Medium der Zeit und der Wucherer ein beliebtes Motiv von Bildhauern und Dichtern.

Gewinn durch Müßiggang

Auf einem der mit­te­lal­ter­lichen Konzile befasste sich die Geistlichkeit mit dem Thema, Christen zu exkom­mu­nizieren, die weder geistig noch körperlich arbeiteten – eine Maßnahme, die in erster Linie Wucherern galt. Die aufkommende Geld­wirtschaft bot vielen Menschen die Chance auf einen neuen Beruf, was aus Sicht der Kirche die alte Ordnung gefährdete: Geld hatte dem Tausch zu dienen und nicht der Vermehrung durch Verleihen. Wer aus dem Zinsgeschäft sein als unnatürlich angesehenes Einkommen bezog, galt als Müßiggänger oder Dieb. Als Geistliche schließlich erkannten, dass verliehenes Geld keineswegs untätig und unfruchtbar ist, sondern in ein Geschäft investiert eine Rendite abwirft, bemäkelten sie, dass der Wucher die Son­ntagsruhe verletze. Die Begründung: Geld erzeuge pausenlos Zinsen.

Juden und Christen als Wucherer

Freilich betrieben auch einige Klöster Kreditgeschäfte. Ende des zwölften Jahrhun­derts wurde ihnen aber die „zinslose Pfandleihe“ untersagt. Zinsgeschäfte wurden bis zum zwölften Jahrhundert vor allem von Juden betrieben. Dabei ging es nicht um große Kredite und Zinsen, beide wurden meist in Form von Naturalien – z. B. Getreide – gezahlt. Schritt für Schritt waren den Juden viele Berufe in Land­wirtschaft und Handwerk untersagt worden. Lediglich in freien Branchen wie der Medizin fanden sie Beschäftigung – und eben im Geldgewerbe. Wenn sie Christen Geld liehen, übertraten sie ihr biblisches Zinsverbot nicht: Sie verliehen es an Menschen außerhalb ihrer Gemein­schaft. Gegen hohe Abgaben erließen manche Herrscher Wucher­rechte an Juden und nahmen Kredite auf – teilweise, um sich später durch Pogrome der Rückzahlung zu entziehen. Der ökonomische Aufschwung verlangte nach mehr Krediten. Einige Dar­lehens­for­men wurden daraufhin gestattet. Ausgehend vom Norden Italiens breiteten sich christliche Geld­ver­lei­her aus. Gegen das verzinste Darlehen ging die Kirche aber immer schärfer vor. Die Lage und das Ansehen der Juden ver­schlechterten sich drastisch. Während christliche Wucherer vor kirchlichen Gerichten leicht davonkamen, mussten sich Juden und Ausländer vor strengeren weltlichen Gerichten ve­r­ant­worten. Anders als christliche Kreditgeber ver­schleierten jüdische ihre Zinshöhe nicht mit ein­fall­sre­ichen Scheingeschäften – vermutlich ein Grund für die Ressen­ti­ments gegen sie. Für christliche Geld­ver­lei­her waren die jüdischen Kreditgeber Konkur­renten, weswegen sie gerne Vorurteile schürten. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie aus Sicht ihrer Kirche eine größere Sünde begingen: Anders als die Juden verlangten sie Zinsen mit­tler­weile auch von ihren Glaubensbrüdern.

Wuchern unter Ausnahmen

Im Gegensatz zu anderen Berufen, deren Ausübung zwar geächtet, aber u. U. toleriert wurde, gab es für Wucherer lange Zeit nur einen Weg ins Himmelreich: Erst wenn sie ihre Gewinne zurückzahlten – so predigte es die Kirche –, würden Wucherer gen Himmel fahren. Wie viele auf dem Sterbebett tatsächlich eine Verteilung ihres Vermögens verfügten, ist nicht geklärt. Genau wie Pros­ti­tu­ierten war reuelosen Wucherern ein christliches Begräbnis versagt. Die Propaganda gegen Wucherer hielt Bischöfe und Fürsten allerdings nicht davon ab, selbst Geschäfte mit ihnen zu treiben. Die Prediger un­ter­schieden zwischen Händlern und Wucherern, wenn auch nicht immer strikt. Allerdings waren auch Händler und Bankiers im 13. Jahrhundert noch keine angesehenen Leute. Das änderte sich erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung.

Der Wucherer wird zum Bankier

Mit dem Aufkommen des Feudalismus um das Jahr 1000 ergab sich für viele ein geord­neteres Leben und damit ein relativer Wohlstand. Mit neuen An­baumeth­o­den, neuen Werkzeugen und der Entwicklung der Arithmetik änderte sich das Wirtschaften und führte Ende des 13. Jahrhun­derts zu den Anfängen einer kap­i­tal­is­tis­chen Wirtschaft­sor­d­nung. Langsam wandelte sich auch das Bild des Wucherers. Die schrit­tweise Anerkennung der Zinsleihe hatte zwei Gründe. Zum einen konnten sich Geld­ver­lei­her durch Mäßigung vor allzu strenger Verfolgung schützen. Das Verhalten der Obrigkeit orientierte sich nämlich auch an der Zinshöhe. Es gab z. B. Höchstsätze, die Könige den Wucherern auferlegten. Der Marktzins in en­twick­el­ten Gebieten – etwa in Venedig – lag niedriger als in un­ter­en­twick­el­ten wie Österreich. An den meisten großen Handelsplätzen lag er bei 12–30 %. Zum anderen führte die Ausbreitung der Geld­wirtschaft zu einer schärferen Eingrenzung des Wucher­be­griffs – und sorgte damit in vielen Fällen für Entschuldigun­gen. Wenn der Zins beispiel­sweise als Lohn für Arbeit betrachtet werden konnte, etwa für Reisetätigkeit oder für die Buchführung, war er gestattet. Auch die Abwägung des Aus­fall­risikos und der Un­sicher­heit bezüglich der Rückzahlung fand Beachtung in der the­ol­o­gis­chen Neube­w­er­tung des Wuchers.

Das Fegefeuer als Zuflucht für Wucherer

Die Kirche widmete sich in dieser Zeit der Aufgabe, das Leben der Bevölkerung völlig zu chris­tian­isieren. Das Böse in Form des Teufels wurde zum beliebten Predigt­thema, während das Fegefeuer einen Ausweg für Angehörige geächteter Berufe darstellte – auch für den Wucherer. Für die Toten gab es also nicht mehr nur Himmel und Hölle, sondern auch das Purgatorium, das Fegefeuer. Es wurde als Ort verstanden, an dem diejenigen Toten warteten, die nur geringe Schuld auf sich geladen hatten, bis sie von ihren Sünden gereinigt wurden. Die Lebenden konnten die Leidenszeit der Toten mithilfe von Gebeten verkürzen, die Sterbenden ihre erwartete Strafe durch Buße mildern. In den Exempla wird häufig die Rolle der Ehefrauen von Wucherern betont, die ihre Gatten zugunsten des Seelenheils zur Mäßigung des Zinses drängen sollten. In the­ol­o­gis­chem Sinn wurde damit die Rolle der Frau in der Ehe gestärkt. Die neue Betrachtung des Wuchererberufs hatte Folgen: Das Streben nach Reichtum war nun ein Lebensen­twurf, der einen nicht die Hoffnung aufs Paradies kostete. Diese Neube­w­er­tung der Geldberufe war ein Meilenstein auf dem Weg zum Kap­i­tal­is­mus.

Geld als Wirtschaftsmo­tor

Wucher ist heute noch immer ein Straftatbe­stand. Er spielt aber – verglichen mit der mit­te­lal­ter­lichen Debatte – de facto kaum noch eine Rolle. Als die Bedeutung des Kred­itwe­sens im 13. Jahrhundert in ungekannte Höhen stieg, lag das u. a. am zunehmenden Geldbedarf der Höfe und am Wachstum der Städte. Die einst regionalen Han­delsmessen wuchsen zu einem europäischen Messesystem zusammen. Die Kred­itwirtschaft wurde damit zu einem un­verzicht­baren Element der wirtschaftlichen Entwicklung Europas. Aus den Geld­wech­seltischen wurden schließlich Banken mit eu­ropaweiten Nieder­las­sun­gen.

Über den Autor

Jacques Le Goff ist Historiker und Experte für das europäische Mittelalter. Seit 1967 ist er Mither­aus­ge­ber der Zeitschrift Annales, des Sprachrohrs der so genannten „nouvelle histoire“, einer Strömung französischer Geschichtss­chrei­bung, die wirtschaftliche En­twick­lun­gen besonders berücksichtigt.