Zinsgeschäfte als gesellschaftlicher Makel
„Wucher“ war im Mittelalter ein Kernbegriff, der damit verbundene Vorwurf war in ganz Europa weit verbreitet. Der Ausdruck steht für eine Vermischung von Religion und Ökonomie und ist ein bleibendes Symbol für das mittelalterliche Denken. Vor allem im 13. Jahrhundert war der Begriff gang und gäbe – eine Reaktion auf die Ausbreitung der Geldwirtschaft. Althergebrachte christliche Werte gerieten in Gefahr. Entsprechend vehement widersetzte sich die Kirche den Methoden der neuen Wirtschaftsordnung und geißelte den Wucher. Dieser wurde mit dem kategorischen Verbot von Zinsen bekämpft: Man sollte nicht mehr nehmen dürfen, als man zu geben bereit war. Prediger argumentierten mit Bibelzitaten wie „Wer Geld lieb hat, der bleibt nicht ohne Sünde“ oder „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“. Wucherer galten als Zeitdiebe: Die Zeit gehörte Gott, und trotzdem handelten sie genau damit. Das war übrigens ein Vorwurf, der in ähnlicher Form an Lehrkräfte gerichtet wurde, die damals begannen, außerhalb von Klosterschulen zu unterrichten. Sie wurden als „Wortdiebe“ diffamiert. Das Zerrbild des gierigen Geldverleihers rückte den Fortschritt der Geldwirtschaft in den christlichen Ländern in ein schlechtes Licht – und bediente gesellschaftliche Vorurteile. Oft warf man den Juden die Todsünde der Habsucht vor und stellte sie damit Kindsmördern und Hostienschändern gleich.
Die Bibel und der Wucher
Im Unterschied zu vielen anderen Aspekten des Lebens äußert sich die Bibel zum Thema Wucher relativ eindeutig. In fünf Texten, davon vier im Alten Testament, wird der Wucher explizit verurteilt. So heißt es beispielsweise in einem auch für die jüdische Religion gültigen Verbot: „Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volk, an einen Armen neben dir, so sollst du nicht wie ein Wucherer handeln; du sollst keinerlei Zinsen von ihm nehmen“ (Exodus 22,24). Dieser Regel fühlten sich die mittelalterlichen Christen verpflichtet, denn sie fürchteten um den Eintritt ins Paradies. An einer anderen Bibelstelle heißt es, das Zinsverbot betreffe nur Einheimische, worunter Christen sowohl ihresgleichen als auch Juden verstanden. Von Fremden dagegen durften Zinsen verlangt werden – was im Kriegsfall neue Geschäftsmöglichkeiten eröffnete. Personen aus dem Feindesland kamen dadurch als Partner für Zinsgeschäfte infrage. „Wo Kriegsrecht gilt, da gilt das Recht zum Wucher“, lautete eine Aussage im kanonischen Recht. Auch im Neuen Testament wird gegen den Wucher und die Zinsen gepredigt: „Vielmehr liebt eure Feinde, tut Gutes und leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft“ (Lukas 6,35).
Der Wucherbegriff im Mittelalter
Das Wort „Wucher“ (lat. „usurae“) wird in den mittelalterlichen Quellen meist im Plural benutzt – stellvertretend für die vielen Formen des Wuchers. Grundsätzlich verstand man unter Wucher die Gewohnheit, bei Geschäften Zins zu verlangen, bei denen keiner verlangt werden durfte. Bestimmte Gewinne wurden als anstößig betrachtet. Aber auch das Übermaß galt als Frevel. Das Gebot zinslosen Leihens spiegelt ein Schlüsselprinzip der ökonomischen Beziehungen zwischen Menschen in christlichen Ländern wider: die Gegenseitigkeit, der Tausch von etwas gegen etwas anderes, Gleichwertiges. Der Zins verletzte diese Gleichwertigkeit nach damaliger Ansicht und war von kirchlicher Seite – später auch von Karl dem Großen – untersagt. Den Geistlichen war der Wucher schon seit dem Jahr 300 verboten, seit dem siebten Jahrhundert auch den Laien.
Eine neue Beichtpraxis und Predigtkultur
Mit einer neuen Predigtkultur versuchte die Kirche, dem wachsenden Wohlstand und damit der zunehmend weltlichen Orientierung etwas entgegenzusetzen. Der ökonomische Alltag der Menschen geriet ins Blickfeld. Die asketischen Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner haben ihre Wurzeln in dieser Zeit, als persönlicher Reichtum zur Zielscheibe religiöser Predigten wurde. Als Quellen für die Hintergründe der damaligen Wucherdebatten kommen vor allem zwei Schriftgattungen infrage: die Summae und die Exempla. Summae waren Handbücher für Beichtväter, die damit je nach Schwere und Art des Vergehens Bußübungen verhängen konnten. Diese Leitfäden wurden nötig, weil die Kirchenvertreter zu Beginn des 13. Jahrhunderts mit einer neuen Beichtpraxis konfrontiert wurden: Die kollektive, öffentliche und nur gelegentliche Beichte wurde von der individuellen und häufigen Beichte abgelöst; im Jahr 1215 wurde es sogar zur Pflicht, mindestens einmal jährlich die Beichte abzulegen. Dadurch wandelte sich der Charakter dieser Buße. Die Schwere einer Untat sollte nun daran bemessen werden, welche Absicht hinter ihr stand. Das setzte beim Beichtenden die Fähigkeit zur Selbstbetrachtung und eine Gewissensprüfung voraus, während der Beichtvater psychologisches Urteilsvermögen benötigte. Ohne das Regelbuch wären damit viele überfordert gewesen. In diesen Beichtbüchern ist denn auch oft vom Wucher die Rede, nicht aber vom Wucherer. Jemanden in diese Kategorie einzustufen, war Sache des Beichtvaters. Der Wucherer als handelnde Person stand im Mittelpunkt der Exempla, kurzer belehrender Erzählungen von Predigern. Diese ausgeschmückten Geschichten waren allgegenwärtig. Die Predigt war das wichtigste Medium der Zeit und der Wucherer ein beliebtes Motiv von Bildhauern und Dichtern.
Gewinn durch Müßiggang
Auf einem der mittelalterlichen Konzile befasste sich die Geistlichkeit mit dem Thema, Christen zu exkommunizieren, die weder geistig noch körperlich arbeiteten – eine Maßnahme, die in erster Linie Wucherern galt. Die aufkommende Geldwirtschaft bot vielen Menschen die Chance auf einen neuen Beruf, was aus Sicht der Kirche die alte Ordnung gefährdete: Geld hatte dem Tausch zu dienen und nicht der Vermehrung durch Verleihen. Wer aus dem Zinsgeschäft sein als unnatürlich angesehenes Einkommen bezog, galt als Müßiggänger oder Dieb. Als Geistliche schließlich erkannten, dass verliehenes Geld keineswegs untätig und unfruchtbar ist, sondern in ein Geschäft investiert eine Rendite abwirft, bemäkelten sie, dass der Wucher die Sonntagsruhe verletze. Die Begründung: Geld erzeuge pausenlos Zinsen.
Juden und Christen als Wucherer
Freilich betrieben auch einige Klöster Kreditgeschäfte. Ende des zwölften Jahrhunderts wurde ihnen aber die „zinslose Pfandleihe“ untersagt. Zinsgeschäfte wurden bis zum zwölften Jahrhundert vor allem von Juden betrieben. Dabei ging es nicht um große Kredite und Zinsen, beide wurden meist in Form von Naturalien – z. B. Getreide – gezahlt. Schritt für Schritt waren den Juden viele Berufe in Landwirtschaft und Handwerk untersagt worden. Lediglich in freien Branchen wie der Medizin fanden sie Beschäftigung – und eben im Geldgewerbe. Wenn sie Christen Geld liehen, übertraten sie ihr biblisches Zinsverbot nicht: Sie verliehen es an Menschen außerhalb ihrer Gemeinschaft. Gegen hohe Abgaben erließen manche Herrscher Wucherrechte an Juden und nahmen Kredite auf – teilweise, um sich später durch Pogrome der Rückzahlung zu entziehen. Der ökonomische Aufschwung verlangte nach mehr Krediten. Einige Darlehensformen wurden daraufhin gestattet. Ausgehend vom Norden Italiens breiteten sich christliche Geldverleiher aus. Gegen das verzinste Darlehen ging die Kirche aber immer schärfer vor. Die Lage und das Ansehen der Juden verschlechterten sich drastisch. Während christliche Wucherer vor kirchlichen Gerichten leicht davonkamen, mussten sich Juden und Ausländer vor strengeren weltlichen Gerichten verantworten. Anders als christliche Kreditgeber verschleierten jüdische ihre Zinshöhe nicht mit einfallsreichen Scheingeschäften – vermutlich ein Grund für die Ressentiments gegen sie. Für christliche Geldverleiher waren die jüdischen Kreditgeber Konkurrenten, weswegen sie gerne Vorurteile schürten. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie aus Sicht ihrer Kirche eine größere Sünde begingen: Anders als die Juden verlangten sie Zinsen mittlerweile auch von ihren Glaubensbrüdern.
Wuchern unter Ausnahmen
Im Gegensatz zu anderen Berufen, deren Ausübung zwar geächtet, aber u. U. toleriert wurde, gab es für Wucherer lange Zeit nur einen Weg ins Himmelreich: Erst wenn sie ihre Gewinne zurückzahlten – so predigte es die Kirche –, würden Wucherer gen Himmel fahren. Wie viele auf dem Sterbebett tatsächlich eine Verteilung ihres Vermögens verfügten, ist nicht geklärt. Genau wie Prostituierten war reuelosen Wucherern ein christliches Begräbnis versagt. Die Propaganda gegen Wucherer hielt Bischöfe und Fürsten allerdings nicht davon ab, selbst Geschäfte mit ihnen zu treiben. Die Prediger unterschieden zwischen Händlern und Wucherern, wenn auch nicht immer strikt. Allerdings waren auch Händler und Bankiers im 13. Jahrhundert noch keine angesehenen Leute. Das änderte sich erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung.
Der Wucherer wird zum Bankier
Mit dem Aufkommen des Feudalismus um das Jahr 1000 ergab sich für viele ein geordneteres Leben und damit ein relativer Wohlstand. Mit neuen Anbaumethoden, neuen Werkzeugen und der Entwicklung der Arithmetik änderte sich das Wirtschaften und führte Ende des 13. Jahrhunderts zu den Anfängen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Langsam wandelte sich auch das Bild des Wucherers. Die schrittweise Anerkennung der Zinsleihe hatte zwei Gründe. Zum einen konnten sich Geldverleiher durch Mäßigung vor allzu strenger Verfolgung schützen. Das Verhalten der Obrigkeit orientierte sich nämlich auch an der Zinshöhe. Es gab z. B. Höchstsätze, die Könige den Wucherern auferlegten. Der Marktzins in entwickelten Gebieten – etwa in Venedig – lag niedriger als in unterentwickelten wie Österreich. An den meisten großen Handelsplätzen lag er bei 12–30 %. Zum anderen führte die Ausbreitung der Geldwirtschaft zu einer schärferen Eingrenzung des Wucherbegriffs – und sorgte damit in vielen Fällen für Entschuldigungen. Wenn der Zins beispielsweise als Lohn für Arbeit betrachtet werden konnte, etwa für Reisetätigkeit oder für die Buchführung, war er gestattet. Auch die Abwägung des Ausfallrisikos und der Unsicherheit bezüglich der Rückzahlung fand Beachtung in der theologischen Neubewertung des Wuchers.
Das Fegefeuer als Zuflucht für Wucherer
Die Kirche widmete sich in dieser Zeit der Aufgabe, das Leben der Bevölkerung völlig zu christianisieren. Das Böse in Form des Teufels wurde zum beliebten Predigtthema, während das Fegefeuer einen Ausweg für Angehörige geächteter Berufe darstellte – auch für den Wucherer. Für die Toten gab es also nicht mehr nur Himmel und Hölle, sondern auch das Purgatorium, das Fegefeuer. Es wurde als Ort verstanden, an dem diejenigen Toten warteten, die nur geringe Schuld auf sich geladen hatten, bis sie von ihren Sünden gereinigt wurden. Die Lebenden konnten die Leidenszeit der Toten mithilfe von Gebeten verkürzen, die Sterbenden ihre erwartete Strafe durch Buße mildern. In den Exempla wird häufig die Rolle der Ehefrauen von Wucherern betont, die ihre Gatten zugunsten des Seelenheils zur Mäßigung des Zinses drängen sollten. In theologischem Sinn wurde damit die Rolle der Frau in der Ehe gestärkt. Die neue Betrachtung des Wuchererberufs hatte Folgen: Das Streben nach Reichtum war nun ein Lebensentwurf, der einen nicht die Hoffnung aufs Paradies kostete. Diese Neubewertung der Geldberufe war ein Meilenstein auf dem Weg zum Kapitalismus.
Geld als Wirtschaftsmotor
Wucher ist heute noch immer ein Straftatbestand. Er spielt aber – verglichen mit der mittelalterlichen Debatte – de facto kaum noch eine Rolle. Als die Bedeutung des Kreditwesens im 13. Jahrhundert in ungekannte Höhen stieg, lag das u. a. am zunehmenden Geldbedarf der Höfe und am Wachstum der Städte. Die einst regionalen Handelsmessen wuchsen zu einem europäischen Messesystem zusammen. Die Kreditwirtschaft wurde damit zu einem unverzichtbaren Element der wirtschaftlichen Entwicklung Europas. Aus den Geldwechseltischen wurden schließlich Banken mit europaweiten Niederlassungen.