Historische Philosophie statt Metaphysik
Die Metaphysik ist ein Erbfehler der Philosophie. Es gibt keine ewige Wahrheit und auch kein „Ding an sich“. Nur eine historische Philosophie, die vor allem geschichtliche Entwicklungen berücksichtigt und die Naturwissenschaft einschließt, kann zur Erkenntnis führen. Sie erklärt auch, wie Vernunft aus Unvernunft und Wahrheit aus Irrtümern entstehen konnte. Die Aufgabe der großen Geister des nächsten Jahrhunderts ist es, einen wissenschaftlichen Maßstab für die Bedingungen der Kultur zu finden.
Zu wenig Psychologie, zu viel falsche Moral
Es fehlt der Welt an psychologischen Beobachtungen, weil zu wenige Menschen sie verstehen und sich ihnen stellen – obwohl sie für die Wissenschaft unentbehrlich sind. Stattdessen verlässt man sich auf moralische Beobachtungen. Doch genau die haben zu falschen Interpretationen des Lebens und zu einer falschen Ethik geführt. Allein das Beispiel von Gut und Böse zeigt, wie leicht die Moral in die Irre führen kann: Erst wird nur eine Handlung als gut oder böse bezeichnet, dann sind es Motive und schließlich der Mensch an sich. Ursache und Wirkung werden also vertauscht, und auch von einem freien Willen kann keine Rede mehr sein. Überdies haben die Begriffe „gut“ und „böse“ aus der Sicht von Herrschenden die gegenteilige Bedeutung wie aus der von Unterdrückten. Die Moral diente mit ihren strengen Gesetzen zunächst als Hilfsmittel, das Tier im Menschen zu besiegen. Die zweite Stufe der Moralität war das bewusste Handeln nach dem Prinzip der Ehre. Die dritte Stufe ist nun das Handeln als Teil und im Interesse eines Kollektivs, das den größten Nutzen und die ehrenhaftesten Motive für die Gemeinschaft im Blick hat.
„Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrtümern und Fantasien (...)“ (S. 30)
Mitleid sollte man bezeugen, aber nicht empfinden, um nicht selbst dem Unglück zu verfallen.
Was für Wahrheit und Aufrichtigkeit gehalten wird, ist oft nur ein Fürwahrhalten von Irrtümern.
Man kann anderen bestimmte Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen wie etwa Liebe.
Selbsttötung bei Greisen ist ein Sieg der Vernunft über das unausweichliche Dahinsiechen.
„Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden.“ (S. 54)
Gerechtigkeit ist ein Tauschgeschäft aus Geben und Nehmen unter zwei gleich Mächtigen.
Das religiöse Leben
Religion ist darauf ausgelegt, Schlechtes, Unzulängliches oder Oberflächliches in etwas Gutes mit tieferem Sinn umzudeuten. Damit werden die Ursachen eines Übels natürlich nicht beseitigt. Kein Mensch, der nach Erkenntnis strebt, kann so etwas glauben. Das Christentum ist eine Beschmutzung des intellektuellen Gewissens. Die Religion im Allgemeinen hat für die Erkenntnis keinen Wert, weil sie noch nie eine Wahrheit enthielt und jeder natürlichen Kausalität entbehrt. Das Christentum erdrückt die Menschen mit falschen Idealen und wird an seinen Irrtümern, seiner Selbstverachtung sowie seinen Vorstellungen von Schuld, Sünde und asketischer Moral zugrunde gehen.
Kunst und die Künstler
Kunst basiert auf Illusion, etwa auf der des Glaubens an die Inspiration. Sie ist ein Trugmittel, um Vollkommenheit vorzutäuschen: Der Künstler zielt aber nur auf Wirkung, nicht auf wissenschaftliche Wahrheit. Seine Seele ist zurückgeblieben wie die eines Kindes, und so „verkindlicht“ er selbst die Menschheit, ihm zum Ruhm. Maler beispielsweise schaffen nicht das Bild des Lebens an sich, sondern nur Bildchen aus ihrem eigenen. Dichter sind Unwissende und deshalb Betrüger. In der Musik herrscht, nach Richard Wagners Erfindung der „unendlichen Melodie“, die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik. In dieser Ausschweifung liegt eine Gefahr für die geistige Gesundheit des Menschen, umso mehr, wenn noch eine unbeherrschte Schauspielkunst dazu kommt, die kein Maß kennt.
„Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christentums über die griechische Philosophie sei ein Beweis für die größere Wahrheit des Ersteren – obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zarte gesiegt hat.“ (S. 68)
Schön ist nur, was nicht auf den ersten Blick hinreißt, sondern lange nachhallt. Schönheit ist nicht zwangsläufig mit Glück verbunden.
Seit der Aufklärung hat die Kunst die von der Religion abgesonderten Emotionen aufgenommen und trägt diese weiter. Der Künstler will eigentlich Freude bereiten, zeigt aber durch sein oft übertriebenes Pathos eher rührende Lächerlichkeit, was daran liegt, dass eitle Naturen die großen Leistungen noch überbieten wollen. Demgegenüber steht jedoch das Publikum, das heftig gerührt werden will. Zugegebenermaßen vertragen es manche Ereignisse tatsächlich nicht, in kleinem Maßstab behandelt zu werden.
„Der Künstler weiß, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach (...)“ (S. 122)
Die Weiterentwicklung des künstlerischen Menschen ist der wissenschaftliche. Er weiß, wo der Künstler nur ahnt. Gelehrte sind edler als Künstler.
Die höhere Kultur
Auch eine Gesellschaft, die auf Gleichförmigkeit beruht, benötigt gleichsam „entartete“ Mitglieder für ihren Fortschritt. Die starken, gleichförmigen Naturen verharren im Stillstand, während die schwächeren – durch ihre Verwundungen und ihre Sensibilität – fähig sind, Veränderungen anstoßen. Dies gilt für Kulturen gleichermaßen wie für den einzelnen Menschen: Nur durch schicksalhafte oder bewusst zugefügte Wunden kann – aufgrund von Schmerz und dem Bedürfnis nach Weiterentwicklung – Edleres entstehen.
„Der größte Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, dass sie richtig schließen lernen.“ (S. 194)
Der Freigeist stellt eine solche gesellschaftliche Ausnahme dar. Ihm geht es nicht um die „richtigere“ Ansicht, sondern um die Loslösung vom Herkömmlichen. Die gebundenen Geister hingegen wollen nicht zugeben, dass sie allein wegen des bewährten Nutzens an ihren Grundsätzen festhalten. Deshalb muss ein Genie viel Energie aufwenden, um zum vollkommenen Freigeist zu werden.
„Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung!“ (S. 204)
Es ist die Aufgabe einer höheren Kultur, dem Menschen zwei Bewusstseinsebenen, nämlich eine für Wissenschaft und eine für Nicht-Wissenschaft, zu geben: In der letzteren Sphäre werden die Fantasien auf Volldampf geheizt, in der ersteren wird der Druck im Kessel abgelassen und das überschäumende Fabulieren reguliert. In einem solchen Doppelgehirn haben Wissenschaft und Dichtung gleichermaßen ihren Platz.
Der Mensch im Verkehr
Der Mangel an Vertraulichkeit gegenüber Freunden ist ein unheilbarer Fehler. Allerdings ist Vertraulichkeit nicht notwendig, wenn man sich des Vertrauens bereits sicher ist: Echtes Vertrauen braucht keinerlei Beweise. Durch entgegengebrachtes Vertrauen kann kein Anrecht auf das eigene Vertrauen begründet werden, denn durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.
„Denn was wäre seltener als eine Frau, welche wirklich wüsste, was Wissenschaft ist?“ (S. 234)
Mehr als ihre Krankheit hassen Kranke die gut gemeinten Ratschläge der Gesunden, die damit nur Überlegenheit zum Ausdruck bringen.
In Gesprächen sollte man sich auf jeden Partner individuell einstellen: Mal ist es klüger zu schweigen, mal den Gedanken freien Lauf zu lassen. Das betrifft auch den Umstand, dass manchmal aus taktischen Gründen Unrecht in Kauf genommen werden sollte, auch wenn man der Beschuldigte ist.
Frauen, Kinder und Familie
Ob man Frauen verehrt oder geringschätzt, hängt vom Bild der eigenen Mutter ab. Die beste Gattin wird nur bekommen, wer ein guter Freund ist. Denn eine gute Ehe beruht auf dem Talent zur Freundschaft und wird dadurch zusammengehalten, dass der eine durch den anderen Ziele erreichen kann. Die meiste Zeit des Miteinanders gehört dem Gespräch – insofern will vor einer Eheschließung unbedingt bedacht sein, ob man sich mit einer Frau gut unterhalten kann. Alle Kinder müssen lernen zu gehorchen. Eltern nehmen ihre Kinder manchmal aber nur hin, statt sie zu erziehen – vielleicht, weil sie sich einfach an sie gewöhnt haben und ihnen gegenüber zu unkritisch sind. Da Frauen eher etwas für Personen als für Sachen empfinden, besteht eine Gefahr, wenn ihnen Politik oder Wissenschaft anvertraut werden. Freigeister leben besser ehelos.
So wenig Staat wie möglich
Der neue Staat und seine Parteien haben per Demagogie dafür gesorgt, dass die Menschen alles daran setzen, ihr Leben so angenehm wie möglich zu gestalten – und die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit dafür gern ertragen. Höhere Kultur entsteht nur da, wo es zwei Klassen gibt: diejenigen, die „Zwangs-Arbeit“ leisten müssen, und diejenigen, die das nicht nötig haben, aber „Frei-Arbeit“ leisten und Neues schaffen.
„Der Freigeist wird immer aufatmen, wenn er sich endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzuschütteln.“ (S. 239)
Durch Handel und Industrie haben die Menschen unterschiedlicher Nationalstaaten zueinandergefunden, sodass in Europa eine Mischrasse entsteht. Einige wenige wollen diesen Prozess durch nationale Abschirmung verhindern, was ihnen jedoch kaum gelingen wird.
Soziale Fantasten, die alle Ordnung um jeden Preis umstürzen wollen, sind gefährlich: Ihr Ziel, die Vollendung der menschlichen Natur, werden sie nicht erreichen. Der Sozialismus ist der jüngere Bruder des Despotismus: Nicht mehr, sondern weniger Staat wird benötigt.
„Zuungunsten des Krieges kann man sagen: Er macht den Sieger dumm, den Besiegten boshaft. Zugunsten des Krieges: (...) er ist für die Kultur Schlaf- oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum Guten und Bösen aus ihm heraus.“ (S. 246)
Die hochgelobten Volksheere sind eine Verschwendung, denn sie verpulvern Menschen der höchsten Zivilisationsstufe, statt ihnen eine Möglichkeit zu geben, sich weiterzuentwickeln. Krieg macht Sieger dumm und Besiegte boshaft, das ist sein Nachteil. Sein Vorteil: Er ist eine Ruhezeit der Kultur, und die Menschen sind anschließend kräftiger, sei es im Guten oder im Bösen.
Der Mensch als Wanderer auf dem Weg zur Vernunft
Wer seine Leidenschaft auf Dinge wie die Kunst oder die Wissenschaft konzentriert, entzieht sie zwangsweise anderen Menschen. Wer sich zu sehr in eine Sache vertieft, kann sie selten auf Dauer durchhalten, denn bei längerer Beschäftigung mit ihr offenbart sie auch Schattenseiten. Idealisten machen sich nur vor, besser zu sein als andere Menschen. Individualisten, die für sich eine außergewöhnliche Behandlung in Anspruch nehmen, bringen andere Menschen gegen sich auf. Der große Mensch handelt mit mehr Ruhe als andere. Größe bedeutet, nicht nur eine Richtung, sondern auch andersartige Strömungen und Ideen zu berücksichtigen. Das Vergnügen ist immer bei den Halbwissenden, nicht bei denen, die viel kennen.
„Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: Denn dieses gibt es nicht.“ (S. 306)
Zwischen dem 26. und 30. Lebensjahr liegt bei begabten Menschen die Zeit der ersten Reife, in der sie erste Ehre einfordern. Kommt sie nicht, werden diese Menschen anmaßend und klagen sie laut ein; Ältere verkneifen sich das. Nie wieder ist man so geradeheraus wie in jungen Jahren, wenn man nicht nur etwas sein, sondern auch etwas darstellen will. Der impulsive Junge spricht eher spontan, übermütig und laut; der weise Alte denkt erst einmal nach und äußert sich kurz und leise, aber deutlich. Außerdem unterscheidet Junge von Alten, dass Erstere das Interessante lieben – sei es wahr oder falsch – und Letztere an der Wahrheit das lieben, was an ihr interessant ist.
„Die Wissenschaft bedarf edlerer Naturen als die Dichtkunst (...)“ (S. 391)
Es zeichnet den Menschen aus, dass er die Trägheit des Geistes überwinden kann. Hier ist der Weg das Ziel: die Welt wahrzunehmen, sie zu hinterfragen, dabei zu Vernunft zu finden und immer in Bewegung zu bleiben.
Gute Nachbarn der nächsten Dinge
Die größte Verfehlung der Philosophie ist, dass sie den Menschen verblendet und immer wieder auf die „letzten Dinge“ verwiesen hat. Dabei wurden den Menschen immer neue Ketten angelegt, um sein moralisches Verhalten zu steuern und ihn vor seinem eigenen brutalen Wesen zu schützen. Dieser Plan ist teilweise aufgegangen, denn das Wesen des Menschen ist tatsächlich milder und edler geworden. Doch die Fesseln, die ihn hielten, wurden aus falschen Überzeugungen und falscher Moral, aus Religion und Metaphysik geschmiedet. Der nun edlere Mensch muss – das ist das neue Ziel – auch von diesen Ketten befreit werden. Ein wichtiger Schritt: Die Menschen müssen angeleitet werden, wieder „gute Nachbarn der nächsten Dinge“ zu werden, also den Blick auf ihre ganz alltäglichen, lebenspraktischen Dinge zu werfen, statt sich in den Wolkengebilden der „letzten Dinge“ zu verlieren.
Zum Text
Aufbau und Stil
In Menschliches, Allzumenschliches bedient sich Nietzsche erstmals der Form der Aphorismen, um seine Ideen auszudrücken. Insgesamt besteht der Text aus rund 1400 dieser geistreichen, knapp formulierten Gedanken. Es finden sich sowohl dreizeilige Aphorismen als auch längere Abschnitte mit nahezu wissenschaftlicher Prosa sowie Selbstgespräche. Dieser ungebundene, frei über den Dingen schwebende Stil passt zum Untertitel „Ein Buch für freie Geister“ und ist ein Kennzeichen für Nietzsches mittlere Schaffensphase. Er versucht seine Leser nicht argumentativ zu überzeugen, sondern lässt sie lediglich an seinen Gedanken teilhaben und fordert sie so zum Mitdenken auf.
Trotzdem folgt das Buch einer Struktur: In insgesamt neun Hauptstücken, einer Vorrede und einem Nachspiel spannt Nietzsche im ersten Band einen weiten Bogen, um Fragen der Moral, der Religion, der Kunst, der Gesellschaft und des sozialen Lebens zu erörtern. Der zweite Band besteht aus den Teilen „Vermischte Meinungen und Sprüche“ sowie „Der Wanderer und sein Schatten“ und nimmt viele Themen des ersten Bandes auf. Nietzsche bedient sich philosophischer, moralkritischer, biologischer und soziologischer Argumente, bewegt sich jedoch immer weiter weg von der traditionellen Philosophie.
Interpretationsansätze
- Nietzsche verfolgt einen genealogischen Ansatz: Er versucht nicht mehr und nicht weniger, als die Irrtümer der Menschheitsgeschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart aufzuspüren. Es handelt sich also um eine historisch angelegte Dekonstruktion der Metaphysik und des Aberglaubens.
- Die enge Verschränkung seiner historischen Philosophie mit der Naturwissenschaft bezeichnet Nietzsche als „Chemie der Begriffe und Empfindungen“. Sein Bekenntnis zur Wissenschaft spielt für dieses Buch eine wichtige Rolle: Mithilfe der Naturwissenschaft kann Nietzsche Bezüge auf metaphysische Begriffe („Gott“, „Ding an sich“) vermeiden, wenn er die Entwicklung der Menschheit und der Natur erklären will.
- Nietzsches Kunstkritik ist teilweise mit seiner Abkehr von Richard Wagner zu erklären: Ihn und sein Werk hatte Nietzsche zuerst bejubelt – und sich mit Grauen abgewendet, als sich Wagner selbst zum „Superstar“ der Bayreuther Festspiele stilisierte und zudem christliche Themen in seinen Werken behandelte.
- Auch von seinem früheren philosophischen Vorbild Arthur Schopenhauer wendet Nietzsche sich ab. So wie seine Philosophie will auch Nietzsche selbst sein: frei und ungebunden.
- Nietzsches Ideal ist der „freie Geist“: Dieser ist unvoreingenommen, ungebunden, traditionsfrei, vollkommen losgelöst von Schuld, Sitten, Gesetzen und bar jeder menschlichen Verantwortung. Der freie Geist betrachtet das Leben vollkommen unbeeinflusst von Religion, Moral und kulturell anerzogenen Perspektiven. In einem späteren Werk Nietzsches wird er in der Figur des Zarathustra seine Personifikation finden.
Historischer Hintergrund
Nietzsches Wende
Friedrich Nietzsche lässt sich kaum einer philosophischen Schule zuordnen; zu eigenständig war er in seinem Denken. Zusammen mit Arthur Schopenhauer und Sören Kierkegaard bildete er eine Art romantische Reaktion gegen die Philosophiesysteme hegelianischer Prägung. Für seine Kunstauffassung wurde vor allem Richard Wagner bedeutend, dessen Kulturkritik er sich anschloss. Mit den Aufsätzen Schopenhauer als Erzieher (1874) und Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzte er den beiden von ihm am meisten bewunderten Männern in der Schriftenreihe Unzeitgemäße Betrachtungen ein Denkmal. Doch schon zwei Jahre später trennte sich Nietzsche von seinen „Säulenheiligen“ und streifte sowohl Schopenhauers Lehren als auch Wagners Kunstideal ab. Die Erlebnisse bei den ersten Bayreuther Festspielen im Jahr 1876 trugen zu einer tief greifenden Krise in Nietzsches Entwicklung bei. War er zuvor ein großer Bewunderer der Wagner’schen Kunst gewesen, schlug seine Euphorie nun angesichts der in seinen Augen niveaulosen Festspiele in eine erbitterte Gegnerschaft und Ablehnung um. Er verdächtigte Wagner, seine künstlerischen Ideale zugunsten von Pomp, Popularismus und einem regelrechten „Starkult“ um seine Person aufgegeben zu haben.
Ab 1878 wandte Nietzsche sich radikal von seinen einstigen metaphysisch-künstlerischen Ansichten ab und einer völlig anderen Sicht auf die Kunst und das Leben zu, mit Rückgriff auf den Geist der Aufklärung. Die Bedeutung der Wissenschaft und der positivistischen Methode trat in den Vordergrund. Nietzsche selbst bezeichnete diesen Neuanfang – gemäß dem Bild eines Wanderers, der nach einer schlimmen Nacht in den neuen Tag startet – als seine „Philosophie des Vormittags“.
Entstehung
Nietzsches Arbeit an Menschliches, Allzumenschliches fiel in seine Zeit als Ordinarius für klassische Philologie in Basel. Diesen Posten musste er 1879, ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Bandes, aufgeben, weil ihn seine zahlreichen Krankheiten – u. a. Migräneanfälle, Magenschmerzen und eine zunehmende Verschlechterung seiner Sehkraft – immer wieder zu Unterbrechungen seiner Lehrtätigkeit nötigten. Entscheidend für Nietzsches neues Buch war nicht nur die Loslösung von Wagner und Schopenhauer, sondern vor allem seine intensive Lektüre der französischen Moralisten, u. a. Montaigne und Pascal. Folgerichtig widmete er den ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches dem französischen Aufklärer Voltaire, zu dessen 100. Todestag das Buch erschien. Ebenfalls großen Einfluss gewann Nietzsches Freundschaft mit dem empirischen Philosophen Paul Rée, dessen Psychologische Beobachtungen ihn stark beeindruckten. Beim gemeinsamen Philosophieren im italienischen Sorrent entwickelte Nietzsche viele Ideen für sein neues Buch.
Nach dem ersten Band folgten zwei Ergänzungen: im März 1879 ein Anhang mit dem Titel „Vermischte Meinungen und Sprüche“ und im Dezember 1879 ein weiterer Anhang namens „Der Wanderer und sein Schatten“. Dieser Titel ist durchaus biografisch zu verstehen: Nietzsche reiste nach seiner Pensionierung rastlos durch Europa – vor allem hielt er sich in der Schweiz, in Italien und im französischen Nizza auf – und lebte von seiner Pension und von Zuwendungen guter Freunde. Er wanderte umher, um Linderung für seine körperlichen Leiden zu finden, und fühlte sich dabei selbst „wie ein Schatten“, wie er später in seiner Autobiografie bekannte. 1886 gab Nietzsche alle drei Teile unter dem Titel Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister heraus.
Wirkungsgeschichte
Nietzsche selbst charakterisierte das Werk in der Rückschau als „Denkmal einer Krisis“ und Zeugnis einer „großen Loslösung“. Weil er eine 180-Grad-Wende vollzog und der Kunstmetaphysik eine Absage erteilte, waren die einstigen Bewunderer seiner Schriften empört. Richard Wagner war persönlich beleidigt. In der August-September-Ausgabe 1878 der Bayreuther Blätter überzog Wagner in dem Artikel Publikum und Popularität Nietzsche, den er allerdings nicht namentlich erwähnte, mit beißendem Spott. Der Philosoph plante zwar eine Antwort, beließ es aber schließlich dabei, schlicht seine Lektüre der Bayreuther Blätter zu reduzieren.
In der breiten Öffentlichkeit beachtete man Nietzsches Buch nicht weiter. In Russland wurde es wegen der scharfen Kritik am Christentum verboten. Nietzsches Verleger hoffte, dass der Bann dem Buch nicht schaden, sondern es im Gegenteil noch attraktiver machen würde. Diese Hoffnung erfüllte sich allerdings nicht. Heute gilt das Werk als wichtiger erster Baustein in Nietzsches mittlerer Schaffensphase.