Menschliches, Allzumenschliches

Buch Menschliches, Allzumenschliches

Ein Buch für freie Geister

Chemnitz, 1878–1886
Diese Ausgabe: Insel,


Worum es geht

Nietzsches Wende

Wer Neues schaffen will, muss Altes zerstören. Nach diesem Credo verfährt Nietzsche in Men­schliches, Al­lzu­men­schliches. Das Buch markiert den Beginn seiner „Philosophie des Vormittags“, die alles Geglaubte, Gehoffte und Gefürchtete einer gnadenlosen Kritik unterzieht. Moral, Religion, Gesellschaft: Alles kommt auf den Prüfstand. Nietzsche ist sich dabei nicht zu fein, seine eigenen Ideale zu verraten: In vielem von dem, was er zuvor vergöttert hat – allem voran Richard Wagner und dessen Kunst –, erkennt er nun Merkmale des Verfalls und sortiert es aus. So schlecht es ihm körperlich bei der Nieder­schrift der über 1000 Aphorismen ging, so kraftvoll und literarisch geschliffen sind die meisten davon geraten. In diesen mal kurzen, mal langen Sentenzen findet Nietzsche eine adäquate Form. Dem Leser bleibt dabei oft nur die Möglichkeit, mit offenem Mund zu staunen und irgendwie zu versuchen, den schnell wechselnden Themen zu folgen.

Take-aways

  • Men­schliches, Al­lzu­men­schliches stellt eine Wende in Nietzsches Denken und den Beginn seiner mittleren Schaf­fenspe­ri­ode dar.
  • Inhalt: Die Philosophie und ins­beson­dere die Metaphysik haben viele Irrtümer her­vorge­bracht, die es aufzudecken gilt. Jedes Moralgesetz ist historisch bedingt und nur innerhalb eines bestimmten Zeitraums gültig. Das neue Ideal ist der „freie Geist“, der völlig losgelöst von Moral, Sitte und Religion über den Dingen schwebt.
  • Das Buch besteht aus rund 1400 Aphorismen un­ter­schiedlicher Länge.
  • Nietzsche will den Leser nicht ar­gu­men­ta­tiv überzeugen, sondern ihn an seinen Gedanken teilhaben lassen und zum Mitdenken bewegen.
  • Nietzsche bricht mit seinen bisherigen Ansichten und schlägt einen völlig neuen Kurs ein: die Dekon­struk­tion scheinbar allgemeingültiger Vorstel­lun­gen in der Philosophie.
  • Das Buch ist Voltaire gewidmet und propagiert das Ideal des „freien Geistes“.
  • Es zeugt davon, dass Nietzsche sich von Schopen­hauer und Wagner abgewandt hat.
  • Nietzsches Bekenntnis zur Wis­senschaft markiert eine neue, pos­i­tivis­tis­che Ausrichtung.
  • Das Buch wurde von Nietzsches früheren Anhängern auf breiter Basis abgelehnt.
  • Zitat: „Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden.“
 

Zusammenfassung

Historische Philosophie statt Metaphysik

Die Metaphysik ist ein Erbfehler der Philosophie. Es gibt keine ewige Wahrheit und auch kein „Ding an sich“. Nur eine historische Philosophie, die vor allem geschichtliche En­twick­lun­gen berücksichtigt und die Natur­wis­senschaft einschließt, kann zur Erkenntnis führen. Sie erklärt auch, wie Vernunft aus Unvernunft und Wahrheit aus Irrtümern entstehen konnte. Die Aufgabe der großen Geister des nächsten Jahrhun­derts ist es, einen wis­senschaftlichen Maßstab für die Bedingungen der Kultur zu finden.

Zu wenig Psychologie, zu viel falsche Moral

Es fehlt der Welt an psy­chol­o­gis­chen Beobach­tun­gen, weil zu wenige Menschen sie verstehen und sich ihnen stellen – obwohl sie für die Wis­senschaft un­ent­behrlich sind. Stattdessen verlässt man sich auf moralische Beobach­tun­gen. Doch genau die haben zu falschen In­ter­pre­ta­tio­nen des Lebens und zu einer falschen Ethik geführt. Allein das Beispiel von Gut und Böse zeigt, wie leicht die Moral in die Irre führen kann: Erst wird nur eine Handlung als gut oder böse bezeichnet, dann sind es Motive und schließlich der Mensch an sich. Ursache und Wirkung werden also vertauscht, und auch von einem freien Willen kann keine Rede mehr sein. Überdies haben die Begriffe „gut“ und „böse“ aus der Sicht von Herrschen­den die gegen­teilige Bedeutung wie aus der von Unterdrückten. Die Moral diente mit ihren strengen Gesetzen zunächst als Hilfsmittel, das Tier im Menschen zu besiegen. Die zweite Stufe der Moralität war das bewusste Handeln nach dem Prinzip der Ehre. Die dritte Stufe ist nun das Handeln als Teil und im Interesse eines Kollektivs, das den größten Nutzen und die ehren­haftesten Motive für die Gemein­schaft im Blick hat.

„Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrtümern und Fantasien (...)“ (S. 30)

Mitleid sollte man bezeugen, aber nicht empfinden, um nicht selbst dem Unglück zu verfallen.

Was für Wahrheit und Aufrichtigkeit gehalten wird, ist oft nur ein Fürwahrhalten von Irrtümern.

Man kann anderen bestimmte Handlungen versprechen, aber keine Empfind­un­gen wie etwa Liebe.

Selbsttötung bei Greisen ist ein Sieg der Vernunft über das unauswe­ich­liche Dahin­siechen.

„Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden.“ (S. 54)

Gerechtigkeit ist ein Tauschgeschäft aus Geben und Nehmen unter zwei gleich Mächtigen.

Das religiöse Leben

Religion ist darauf ausgelegt, Schlechtes, Unzulängliches oder Oberflächliches in etwas Gutes mit tieferem Sinn umzudeuten. Damit werden die Ursachen eines Übels natürlich nicht beseitigt. Kein Mensch, der nach Erkenntnis strebt, kann so etwas glauben. Das Christentum ist eine Beschmutzung des in­tellek­tuellen Gewissens. Die Religion im Allgemeinen hat für die Erkenntnis keinen Wert, weil sie noch nie eine Wahrheit enthielt und jeder natürlichen Kausalität entbehrt. Das Christentum erdrückt die Menschen mit falschen Idealen und wird an seinen Irrtümern, seiner Selb­stver­ach­tung sowie seinen Vorstel­lun­gen von Schuld, Sünde und asketischer Moral zugrunde gehen.

Kunst und die Künstler

Kunst basiert auf Illusion, etwa auf der des Glaubens an die Inspiration. Sie ist ein Trugmittel, um Vol­lkom­men­heit vorzutäuschen: Der Künstler zielt aber nur auf Wirkung, nicht auf wis­senschaftliche Wahrheit. Seine Seele ist zurückgeblieben wie die eines Kindes, und so „verkindlicht“ er selbst die Menschheit, ihm zum Ruhm. Maler beispiel­sweise schaffen nicht das Bild des Lebens an sich, sondern nur Bildchen aus ihrem eigenen. Dichter sind Unwissende und deshalb Betrüger. In der Musik herrscht, nach Richard Wagners Erfindung der „unendlichen Melodie“, die Ver­wilderung, der Verfall der Rhythmik. In dieser Auss­chwei­fung liegt eine Gefahr für die geistige Gesundheit des Menschen, umso mehr, wenn noch eine un­be­herrschte Schaus­pielkunst dazu kommt, die kein Maß kennt.

„Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Chris­ten­tums über die griechische Philosophie sei ein Beweis für die größere Wahrheit des Ersteren – obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewalt­samere über das Geistigere und Zarte gesiegt hat.“ (S. 68)

Schön ist nur, was nicht auf den ersten Blick hinreißt, sondern lange nachhallt. Schönheit ist nicht zwangsläufig mit Glück verbunden.

Seit der Aufklärung hat die Kunst die von der Religion abgeson­derten Emotionen aufgenommen und trägt diese weiter. Der Künstler will eigentlich Freude bereiten, zeigt aber durch sein oft übertriebenes Pathos eher rührende Lächer­lichkeit, was daran liegt, dass eitle Naturen die großen Leistungen noch überbieten wollen. Demgegenüber steht jedoch das Publikum, das heftig gerührt werden will. Zugegeben­ermaßen vertragen es manche Ereignisse tatsächlich nicht, in kleinem Maßstab behandelt zu werden.

„Der Künstler weiß, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Im­pro­vi­sa­tion, an eine wun­der­gle­iche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach (...)“ (S. 122)

Die Weit­er­en­twick­lung des künst­lerischen Menschen ist der wis­senschaftliche. Er weiß, wo der Künstler nur ahnt. Gelehrte sind edler als Künstler.

Die höhere Kultur

Auch eine Gesellschaft, die auf Gleichförmigkeit beruht, benötigt gleichsam „entartete“ Mitglieder für ihren Fortschritt. Die starken, gleichförmigen Naturen verharren im Stillstand, während die schwächeren – durch ihre Ver­wun­dun­gen und ihre Sensibilität – fähig sind, Veränderungen anstoßen. Dies gilt für Kulturen gleichermaßen wie für den einzelnen Menschen: Nur durch schick­sal­hafte oder bewusst zugefügte Wunden kann – aufgrund von Schmerz und dem Bedürfnis nach Weit­er­en­twick­lung – Edleres entstehen.

„Der größte Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, dass sie richtig schließen lernen.“ (S. 194)

Der Freigeist stellt eine solche gesellschaftliche Ausnahme dar. Ihm geht es nicht um die „richtigere“ Ansicht, sondern um die Loslösung vom Herkömmlichen. Die gebundenen Geister hingegen wollen nicht zugeben, dass sie allein wegen des bewährten Nutzens an ihren Grundsätzen festhalten. Deshalb muss ein Genie viel Energie aufwenden, um zum vol­lkomme­nen Freigeist zu werden.

„Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung!“ (S. 204)

Es ist die Aufgabe einer höheren Kultur, dem Menschen zwei Be­wusst­sein­sebe­nen, nämlich eine für Wis­senschaft und eine für Nicht-Wis­senschaft, zu geben: In der letzteren Sphäre werden die Fantasien auf Volldampf geheizt, in der ersteren wird der Druck im Kessel abgelassen und das überschäumende Fabulieren reguliert. In einem solchen Dop­pel­ge­hirn haben Wis­senschaft und Dichtung gleichermaßen ihren Platz.

Der Mensch im Verkehr

Der Mangel an Ver­traulichkeit gegenüber Freunden ist ein unheilbarer Fehler. Allerdings ist Ver­traulichkeit nicht notwendig, wenn man sich des Vertrauens bereits sicher ist: Echtes Vertrauen braucht keinerlei Beweise. Durch ent­ge­genge­brachtes Vertrauen kann kein Anrecht auf das eigene Vertrauen begründet werden, denn durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.

„Denn was wäre seltener als eine Frau, welche wirklich wüsste, was Wis­senschaft ist?“ (S. 234)

Mehr als ihre Krankheit hassen Kranke die gut gemeinten Ratschläge der Gesunden, die damit nur Überlegen­heit zum Ausdruck bringen.

In Gesprächen sollte man sich auf jeden Partner individuell einstellen: Mal ist es klüger zu schweigen, mal den Gedanken freien Lauf zu lassen. Das betrifft auch den Umstand, dass manchmal aus taktischen Gründen Unrecht in Kauf genommen werden sollte, auch wenn man der Beschuldigte ist.

Frauen, Kinder und Familie

Ob man Frauen verehrt oder geringschätzt, hängt vom Bild der eigenen Mutter ab. Die beste Gattin wird nur bekommen, wer ein guter Freund ist. Denn eine gute Ehe beruht auf dem Talent zur Fre­und­schaft und wird dadurch zusam­menge­hal­ten, dass der eine durch den anderen Ziele erreichen kann. Die meiste Zeit des Miteinan­ders gehört dem Gespräch – insofern will vor einer Eheschließung unbedingt bedacht sein, ob man sich mit einer Frau gut unterhalten kann. Alle Kinder müssen lernen zu gehorchen. Eltern nehmen ihre Kinder manchmal aber nur hin, statt sie zu erziehen – vielleicht, weil sie sich einfach an sie gewöhnt haben und ihnen gegenüber zu unkritisch sind. Da Frauen eher etwas für Personen als für Sachen empfinden, besteht eine Gefahr, wenn ihnen Politik oder Wis­senschaft anvertraut werden. Freigeister leben besser ehelos.

So wenig Staat wie möglich

Der neue Staat und seine Parteien haben per Demagogie dafür gesorgt, dass die Menschen alles daran setzen, ihr Leben so angenehm wie möglich zu gestalten – und die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit dafür gern ertragen. Höhere Kultur entsteht nur da, wo es zwei Klassen gibt: diejenigen, die „Zwangs-Ar­beit“ leisten müssen, und diejenigen, die das nicht nötig haben, aber „Frei-Arbeit“ leisten und Neues schaffen.

„Der Freigeist wird immer aufatmen, wenn er sich endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzuschütteln.“ (S. 239)

Durch Handel und Industrie haben die Menschen un­ter­schiedlicher Na­tion­al­staaten zueinan­derge­fun­den, sodass in Europa eine Mischrasse entsteht. Einige wenige wollen diesen Prozess durch nationale Abschirmung verhindern, was ihnen jedoch kaum gelingen wird.

Soziale Fantasten, die alle Ordnung um jeden Preis umstürzen wollen, sind gefährlich: Ihr Ziel, die Vollendung der men­schlichen Natur, werden sie nicht erreichen. Der Sozialismus ist der jüngere Bruder des Despotismus: Nicht mehr, sondern weniger Staat wird benötigt.

„Zuungunsten des Krieges kann man sagen: Er macht den Sieger dumm, den Besiegten boshaft. Zugunsten des Krieges: (...) er ist für die Kultur Schlaf- oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum Guten und Bösen aus ihm heraus.“ (S. 246)

Die hochgelobten Volksheere sind eine Ver­schwen­dung, denn sie verpulvern Menschen der höchsten Zivil­i­sa­tion­sstufe, statt ihnen eine Möglichkeit zu geben, sich weit­erzuen­twick­eln. Krieg macht Sieger dumm und Besiegte boshaft, das ist sein Nachteil. Sein Vorteil: Er ist eine Ruhezeit der Kultur, und die Menschen sind anschließend kräftiger, sei es im Guten oder im Bösen.

Der Mensch als Wanderer auf dem Weg zur Vernunft

Wer seine Lei­den­schaft auf Dinge wie die Kunst oder die Wis­senschaft konzen­tri­ert, entzieht sie zwangsweise anderen Menschen. Wer sich zu sehr in eine Sache vertieft, kann sie selten auf Dauer durchhalten, denn bei längerer Beschäftigung mit ihr offenbart sie auch Schat­ten­seiten. Idealisten machen sich nur vor, besser zu sein als andere Menschen. In­di­vid­u­al­is­ten, die für sich eine außergewöhnliche Behandlung in Anspruch nehmen, bringen andere Menschen gegen sich auf. Der große Mensch handelt mit mehr Ruhe als andere. Größe bedeutet, nicht nur eine Richtung, sondern auch an­der­sar­tige Strömungen und Ideen zu berücksichtigen. Das Vergnügen ist immer bei den Halb­wis­senden, nicht bei denen, die viel kennen.

„Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: Denn dieses gibt es nicht.“ (S. 306)

Zwischen dem 26. und 30. Lebensjahr liegt bei begabten Menschen die Zeit der ersten Reife, in der sie erste Ehre einfordern. Kommt sie nicht, werden diese Menschen anmaßend und klagen sie laut ein; Ältere verkneifen sich das. Nie wieder ist man so ger­ade­heraus wie in jungen Jahren, wenn man nicht nur etwas sein, sondern auch etwas darstellen will. Der impulsive Junge spricht eher spontan, übermütig und laut; der weise Alte denkt erst einmal nach und äußert sich kurz und leise, aber deutlich. Außerdem un­ter­schei­det Junge von Alten, dass Erstere das In­ter­es­sante lieben – sei es wahr oder falsch – und Letztere an der Wahrheit das lieben, was an ihr interessant ist.

„Die Wis­senschaft bedarf edlerer Naturen als die Dichtkunst (...)“ (S. 391)

Es zeichnet den Menschen aus, dass er die Trägheit des Geistes überwinden kann. Hier ist der Weg das Ziel: die Welt wahrzunehmen, sie zu hin­ter­fra­gen, dabei zu Vernunft zu finden und immer in Bewegung zu bleiben.

Gute Nachbarn der nächsten Dinge

Die größte Verfehlung der Philosophie ist, dass sie den Menschen verblendet und immer wieder auf die „letzten Dinge“ verwiesen hat. Dabei wurden den Menschen immer neue Ketten angelegt, um sein moralisches Verhalten zu steuern und ihn vor seinem eigenen brutalen Wesen zu schützen. Dieser Plan ist teilweise aufgegangen, denn das Wesen des Menschen ist tatsächlich milder und edler geworden. Doch die Fesseln, die ihn hielten, wurden aus falschen Überzeu­gun­gen und falscher Moral, aus Religion und Metaphysik geschmiedet. Der nun edlere Mensch muss – das ist das neue Ziel – auch von diesen Ketten befreit werden. Ein wichtiger Schritt: Die Menschen müssen angeleitet werden, wieder „gute Nachbarn der nächsten Dinge“ zu werden, also den Blick auf ihre ganz alltäglichen, leben­sprak­tis­chen Dinge zu werfen, statt sich in den Wolkenge­bilden der „letzten Dinge“ zu verlieren.

Zum Text

Aufbau und Stil

In Men­schliches, Al­lzu­men­schliches bedient sich Nietzsche erstmals der Form der Aphorismen, um seine Ideen auszudrücken. Insgesamt besteht der Text aus rund 1400 dieser geistre­ichen, knapp for­mulierten Gedanken. Es finden sich sowohl dreizeilige Aphorismen als auch längere Abschnitte mit nahezu wis­senschaftlicher Prosa sowie Selbstgespräche. Dieser ungebundene, frei über den Dingen schwebende Stil passt zum Untertitel „Ein Buch für freie Geister“ und ist ein Kennzeichen für Nietzsches mittlere Schaf­fen­sphase. Er versucht seine Leser nicht ar­gu­men­ta­tiv zu überzeugen, sondern lässt sie lediglich an seinen Gedanken teilhaben und fordert sie so zum Mitdenken auf.

Trotzdem folgt das Buch einer Struktur: In insgesamt neun Hauptstücken, einer Vorrede und einem Nachspiel spannt Nietzsche im ersten Band einen weiten Bogen, um Fragen der Moral, der Religion, der Kunst, der Gesellschaft und des sozialen Lebens zu erörtern. Der zweite Band besteht aus den Teilen „Vermischte Meinungen und Sprüche“ sowie „Der Wanderer und sein Schatten“ und nimmt viele Themen des ersten Bandes auf. Nietzsche bedient sich philosophis­cher, moralkri­tis­cher, bi­ol­o­gis­cher und sozi­ol­o­gis­cher Argumente, bewegt sich jedoch immer weiter weg von der tra­di­tionellen Philosophie.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Nietzsche verfolgt einen ge­neal­o­gis­chen Ansatz: Er versucht nicht mehr und nicht weniger, als die Irrtümer der Men­schheits­geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart aufzuspüren. Es handelt sich also um eine historisch angelegte Dekon­struk­tion der Metaphysik und des Aber­glaubens.
  • Die enge Verschränkung seiner his­torischen Philosophie mit der Natur­wis­senschaft bezeichnet Nietzsche als „Chemie der Begriffe und Empfind­un­gen“. Sein Bekenntnis zur Wis­senschaft spielt für dieses Buch eine wichtige Rolle: Mithilfe der Natur­wis­senschaft kann Nietzsche Bezüge auf meta­ph­ysis­che Begriffe („Gott“, „Ding an sich“) vermeiden, wenn er die Entwicklung der Menschheit und der Natur erklären will.
  • Nietzsches Kunstkritik ist teilweise mit seiner Abkehr von Richard Wagner zu erklären: Ihn und sein Werk hatte Nietzsche zuerst bejubelt – und sich mit Grauen abgewendet, als sich Wagner selbst zum „Superstar“ der Bayreuther Festspiele stilisierte und zudem christliche Themen in seinen Werken behandelte.
  • Auch von seinem früheren philosophis­chen Vorbild Arthur Schopen­hauer wendet Nietzsche sich ab. So wie seine Philosophie will auch Nietzsche selbst sein: frei und ungebunden.
  • Nietzsches Ideal ist der „freie Geist“: Dieser ist un­vor­ein­genom­men, ungebunden, tra­di­tions­frei, vollkommen losgelöst von Schuld, Sitten, Gesetzen und bar jeder men­schlichen Ve­r­ant­wor­tung. Der freie Geist betrachtet das Leben vollkommen un­bee­in­flusst von Religion, Moral und kulturell anerzogenen Per­spek­tiven. In einem späteren Werk Nietzsches wird er in der Figur des Zarathustra seine Per­son­ifika­tion finden.

His­torischer Hintergrund

Nietzsches Wende

Friedrich Nietzsche lässt sich kaum einer philosophis­chen Schule zuordnen; zu eigenständig war er in seinem Denken. Zusammen mit Arthur Schopen­hauer und Sören Kierkegaard bildete er eine Art romantische Reaktion gegen die Philoso­phiesys­teme hegelian­is­cher Prägung. Für seine Kun­stauf­fas­sung wurde vor allem Richard Wagner bedeutend, dessen Kul­turkri­tik er sich anschloss. Mit den Aufsätzen Schopen­hauer als Erzieher (1874) und Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzte er den beiden von ihm am meisten bewunderten Männern in der Schriften­reihe Unzeitgemäße Be­tra­ch­tun­gen ein Denkmal. Doch schon zwei Jahre später trennte sich Nietzsche von seinen „Säulen­heili­gen“ und streifte sowohl Schopen­hauers Lehren als auch Wagners Kunstideal ab. Die Erlebnisse bei den ersten Bayreuther Festspielen im Jahr 1876 trugen zu einer tief greifenden Krise in Nietzsches Entwicklung bei. War er zuvor ein großer Bewunderer der Wagner’schen Kunst gewesen, schlug seine Euphorie nun angesichts der in seinen Augen niveaulosen Festspiele in eine erbitterte Geg­n­er­schaft und Ablehnung um. Er verdächtigte Wagner, seine künst­lerischen Ideale zugunsten von Pomp, Pop­u­lar­is­mus und einem regel­rechten „Starkult“ um seine Person aufgegeben zu haben.

Ab 1878 wandte Nietzsche sich radikal von seinen einstigen meta­ph­ysisch-künst­lerischen Ansichten ab und einer völlig anderen Sicht auf die Kunst und das Leben zu, mit Rückgriff auf den Geist der Aufklärung. Die Bedeutung der Wis­senschaft und der pos­i­tivis­tis­chen Methode trat in den Vordergrund. Nietzsche selbst bezeichnete diesen Neuanfang – gemäß dem Bild eines Wanderers, der nach einer schlimmen Nacht in den neuen Tag startet – als seine „Philosophie des Vormittags“.

Entstehung

Nietzsches Arbeit an Men­schliches, Al­lzu­men­schliches fiel in seine Zeit als Ordinarius für klassische Philologie in Basel. Diesen Posten musste er 1879, ein Jahr nach der Veröffentlichung des ersten Bandes, aufgeben, weil ihn seine zahlreichen Krankheiten – u. a. Migräneanfälle, Ma­gen­schmerzen und eine zunehmende Ver­schlechterung seiner Sehkraft – immer wieder zu Un­ter­brechun­gen seiner Lehrtätigkeit nötigten. Entschei­dend für Nietzsches neues Buch war nicht nur die Loslösung von Wagner und Schopen­hauer, sondern vor allem seine intensive Lektüre der französischen Moralisten, u. a. Montaigne und Pascal. Fol­gerichtig widmete er den ersten Band von Men­schliches, Al­lzu­men­schliches dem französischen Aufklärer Voltaire, zu dessen 100. Todestag das Buch erschien. Ebenfalls großen Einfluss gewann Nietzsches Fre­und­schaft mit dem empirischen Philosophen Paul Rée, dessen Psy­chol­o­gis­che Beobach­tun­gen ihn stark beein­druck­ten. Beim gemeinsamen Philoso­phieren im ital­ienis­chen Sorrent entwickelte Nietzsche viele Ideen für sein neues Buch.

Nach dem ersten Band folgten zwei Ergänzungen: im März 1879 ein Anhang mit dem Titel „Vermischte Meinungen und Sprüche“ und im Dezember 1879 ein weiterer Anhang namens „Der Wanderer und sein Schatten“. Dieser Titel ist durchaus biografisch zu verstehen: Nietzsche reiste nach seiner Pen­sion­ierung rastlos durch Europa – vor allem hielt er sich in der Schweiz, in Italien und im französischen Nizza auf – und lebte von seiner Pension und von Zuwendungen guter Freunde. Er wanderte umher, um Linderung für seine körperlichen Leiden zu finden, und fühlte sich dabei selbst „wie ein Schatten“, wie er später in seiner Au­to­bi­ografie bekannte. 1886 gab Nietzsche alle drei Teile unter dem Titel Men­schliches, Al­lzu­men­schliches. Ein Buch für freie Geister heraus.

Wirkungs­geschichte

Nietzsche selbst charak­ter­isierte das Werk in der Rückschau als „Denkmal einer Krisis“ und Zeugnis einer „großen Loslösung“. Weil er eine 180-Grad-Wende vollzog und der Kun­st­meta­physik eine Absage erteilte, waren die einstigen Bewunderer seiner Schriften empört. Richard Wagner war persönlich beleidigt. In der Au­gust-Sep­tem­ber-Aus­gabe 1878 der Bayreuther Blätter überzog Wagner in dem Artikel Publikum und Popularität Nietzsche, den er allerdings nicht namentlich erwähnte, mit beißendem Spott. Der Philosoph plante zwar eine Antwort, beließ es aber schließlich dabei, schlicht seine Lektüre der Bayreuther Blätter zu reduzieren.

In der breiten Öffentlichkeit beachtete man Nietzsches Buch nicht weiter. In Russland wurde es wegen der scharfen Kritik am Christentum verboten. Nietzsches Verleger hoffte, dass der Bann dem Buch nicht schaden, sondern es im Gegenteil noch attraktiver machen würde. Diese Hoffnung erfüllte sich allerdings nicht. Heute gilt das Werk als wichtiger erster Baustein in Nietzsches mittlerer Schaf­fen­sphase.

Über den Autor

Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protes­tantismus des El­tern­hauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem un­kon­ven­tionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkol­le­gen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Be­tra­ch­tun­gen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopen­hauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Fre­und­schaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, u. a. wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Men­schliches, Al­lzu­men­schliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopen­hauer ab. 1879 gibt er wegen einer drama­tis­chen Ver­schlechterung seines Gesund­heit­szu­s­tands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Au­gen­schmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesund­heitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufen­thal­ten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wis­senschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusam­men­bruch: Aus Mitleid mit einem geschla­ge­nen Droschken­gaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicher­weise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine un­abgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen der Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaf­fen­sphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigen­willige Au­to­bi­ografie, die 1908 erscheint.