Six Sigma – wirtschaftliche Unfehlbarkeit
Liebling der Wallstreet, Management-Bibel für Jack Welch von General Electric, Garant für radikale Gewinnsteigerungen: das sind die Attribute, mit denen die Six-Sigma-Entwickler ihre Management-Methode umschreiben. Das Ziel von Six Sigma lautet schlicht: Die Gewinnspanne unmittelbar steigern. Richtwert ist das Sigma-Niveau, eine Qualitätsmetrik für Produkte und Unternehmen. Ein Zugewinn von einem Sigma auf dieser Metrik bedeutet ganz konkret:
- 20 % Verbesserung der Gewinnspanne,
- 12 – 18 % Kapazitätszuwachs,
- 12 % weniger Beschäftigte,
- 10 – 30 % weniger laufendes Kapital.
„Six Sigma bedeutet eine Steigerung der Rentabilität; verbesserte Qualität und Effizienz sind unmittelbare Nebenprodukte von Six Sigma.“
Ein Unternehmen, das auf einem Niveau von 3 Sigma operiert (= unterdurchschnittlich rentabel), wird sich im ersten Jahr leicht auf 4 Sigma steigern können. Je näher es an die 6-Sigma-Marke heranrückt, desto grösser sind die Herausforderungen an weitere Veränderungen und desto länger dauert ein Punktgewinn auf der Sigma-Skala.
„Messungen lassen eine Verbindung zwischen Denkprozess und Handlung entstehen. Die Unternehmen können nicht das verbessern, was sie nicht messen.“
Der Weg zur Renditesteigerung: Wichtiges messen und Qualität neu definieren. Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit sowie Cashflow müssen Wertskalen zugeordnet werden. Auch Qualität wird quantitativ bewertet – und zwar in Abhängigkeit zu den Kosten für Hersteller und Konsumenten. Ein Wettbewerbsvorteil entsteht nur dann, wenn technische und kaufmännische Fehler so gut wie nicht mehr vorkommen. Produkte, die auf einem Niveau von 6 Sigma hergestellt werden, funktionieren quasi ohne Fehler – definiert ist dieser Wert mit 3,4 Fehlern für jede Million an Möglichkeiten. Der klassische Standard, nach dem die meisten Unternehmen streben, liegt bei 4 Sigma, d. h. 6210 Fehlern für jede Million. Unternehmen unter einem Wert von 3 Sigma sind in der Regel nicht überlebensfähig.
Der Ursprung
Geboren wurde Six Sigma 1979 bei Motorola. Ein Ingenieur fand heraus, dass Produkte, die während der Fertigung schon repariert werden mussten, viel häufiger auch beim Kunden versagten. Motorola begann daraufhin, Probleme bei der Fertigung durch genaue Messungen vorwegzunehmen, anstatt auf Fehler zu reagieren. Motorola-Mitarbeiter perfektionierten das Six-Sigma-Prinzip so lange, bis es sich ab 1993 auch auf andere Branchen ausweitete. Die Erfahrung zeigt: Es genügt nicht, Six-Sigma-Produkte herzustellen. Im Idealfall sollte das ganze Unternehmen nach diesem Prinzip funktionieren. Denn auch das beste Six-Sigma-Produkt wird versagen, wenn z. B. das Marketing nicht mitspielt und es zu spät auf den Markt kommt.
Die Strategie zum Durchbruch
Die Kernphasen der Durchbruchstrategie sind: Messen, Analysieren, Verbessern und Kontrollieren (MAVK). Hoch qualifizierte Schlüsselkräfte, die so genannten Black Belts (Schwarze Gürtel), beaufsichtigen Six-Sigma-Projekte und führen ihre Mitarbeiter durch alle vier Entwicklungsstufen. Das Geheimnis der Strategie beruht auf dem scheinbar Banalen: der Statistik. Auf diesem gemeinsamen Nenner treffen sich Ingenieure und Marketingfachkräfte, einfache Arbeiter und Geschäftsführer sowie das Unternehmen mit den Kunden. Zunächst einmal gilt es, Qualitätskosten tatsächlich realistisch zu beurteilen, ohne – wie traditionell üblich – versteckte Faktoren zu unterschlagen. Ein Beispiel für verborgene Kosten sind Kunden, die durch fehlerhafte Produkte oder schlechten Service verloren gehen. Noch immer glauben viele Unternehmen, dass die Kosten für eine Fehlerreduktion höher sind, als minderwertige Qualität zu produzieren.
„Six Sigma erlaubte dem Leiter eines Geschäfts, in Fragen der Qualität eher aktiv als reaktiv zu sein.“
Six Sigma geht von dem Gegenteil aus: Ein Leistungsniveau von 5 oder 6 Sigma senkt die Kosten, da Schätzung und Vermeidung von Fehlern nahezu überflüssig werden. Ein 3-Sigma-Unternehmen muss mit Qualitätskosten von 25 – 40 % rechnen. Erreicht es dagegen die 6-Sigma-Marke, sinken diese auf weniger als 1 % des Umsatzerlöses. Fazit: Besser ist billiger. Dieses Prinzip muss schon auf dem Reissbrett beginnen: 70 % der Gesamtkosten eines Produkts werden vom Design bestimmt. Die durchschnittlichen 30 – 40 % an Geldmitteln, die ein Unternehmen zu Test- und Korrekturzwecken ausgibt, könnten durch optimiertes Design eingespart werden.
„Ähnlich wie die Karate-Black-Belts, die ihren Körper ständig mit den Schwankungen ihres Körperzentrums neu positionieren müssen, müssen Black Belts fähig sein, sich physisch und mental neu zu positionieren, wenn sie sich von Projekt zu Projekt bewegen.“
Das Sprungbrett zu Six Sigma liegt im quantitativen internen und externen Benchmarking. Dieses etabliert Fehlerquote und Fehlermöglichkeit von Produkten getrennt voneinander und verhindert so, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden. Mit Hilfe standardisierter Indices wird die Leistung von Unternehmenssparten mit der „klassenbesten“ Konkurrenz verglichen.
„Verborgene Fabriken“ entdecken und ausschalten
Aktivitäten rund ums Aufdecken und Korrigieren von Fehlern entwickeln oft eine ungesunde Eigendynamik. Unmengen an Zeit und Ressourcen werden durch sie verschwendet. Drei grundlegende Six-Sigma-Metriken enthüllen diese „verborgenen Fabriken“: die Durchgangsausbeute, laufende Durchgangsausbeute und normalisierte Ausbeute. Diese Metriken basieren auf den produzierten Fehlern statt auf der Zahl der produzierten Einheiten. Der Messschwerpunkt liegt auf dem Ergebnis und nicht auf der Tätigkeit an sich. Auch für Fehler gilt die berühmte 80/20-Regel des italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto: 80 % der Fehler sind auf 20 % möglicher Fehlerarten zurückzuführen. Unternehmen müssen die ständigen Probleme von den belanglosen trennen und die Durchbruchstrategie zunächst auf die hartnäckigen Fehler konzentrieren: als Hebel, um maximale Ergebnisse zu erzielen.
Richtige Projektauswahl
Bevor die Geschäftsleitung den „verborgenen Fabriken“ den Kampf ansagt, sollte sie die Leistungsmetriken bestimmen, die die Rendite ihres Unternehmens erhöhen können. Die Schlüsselmetriken sind:
- Fehler pro Million Fehlermöglichkeiten,
- Nettokostenersparnis – feststellbare Verringerung der festen oder variablen Kosten,
- Cost of Poor Quality – scheinbar verborgene Kosten für ein fehlerhaftes Produkt,
- Kapazität – Zahl der „guten Produkte“, die ein Prozess in einer bestimmten Zeit erzeugt,
- Zykluszeit – die Zeit, die bis zur Fertigstellung des Produkts verstreicht.
Six Sigma – Schritt für Schritt
Die Inititative muss von oben nach unten fliessen – Six Sigma ist kein Management-Modell, das einfach an die Oberfläche „blubbert“. Im ersten Schritt sollten die Geschäftsprioritäten definiert werden: Egal ob kurzfristige Kostenreduzierung, langfristige Verbesserung der Kundenzufriedenheit oder Verringerung der Zykluszeit von Produkten – wichtig ist, sich zu Beginn auf ein oder zwei Gebiete zu konzentrieren. Im zweiten Schritt sollte Six Sigma dann auf das gesamte Unternehmen ausgeweitet werden. Die Erfolgskriterien sind:
- Top-down-Management,
- ein Messsystem, um den Fortschritt zu verfolgen,
- internes und externes Benchmarking der Produkte, Dienstleistungen und Organisationsprozesse,
- „Stretch-Ziele“ setzen – sie verpflichten Mitarbeiter dazu, scheinbar unrealistische Gewinne zu erzielen, ohne dass diese vorher wissen, wie sie diese erreichen sollen,
- Weiterbildung der Mitarbeiter auf allen Organisationsebenen,
- Erfolgsgeschichten kommunizieren,
- fähige Champions und Black Belts ernennen und fördern.
Die Six-Sigma-Pyramide
Zwar sollten alle Mitarbeiter eines Unternehmens Six Sigma verstehen und mittragen. Doch eine klare Rollenverteilung von Anfang an ist unvermeidlich, um es zum Erfolg zu führen. Dabei gilt das Prinzip der umgekehrten Pyramide: In der nach unten gekehrten Spitze stützt die Geschäftsführung das Six-Sigma-Unternehmen. Nach oben hin folgen jeweils Senior Champion, Einsatzschampion und Projektchampion, die in engem Kontakt mit dem Management stehen und ihrerseits die mehr technisch orientierten Black Belts (Black-Belt-Einsatzmeister, Black-Belt-Projektmeister, Projekt-Black-Belts) führen und beaufsichtigen. Die Champions legen fest, was getan werden muss, während Black Belts sich um die Umsetzung kümmern. Letztere arbeiten deshalb Vollzeit an Six-Sigma-Projekten. An der Basis wiederum operieren die Prozess-Besitzer, Green Belts und Projektteammitglieder. Diese führen Six Sigma als Teil ihrer normalen Arbeit aus. In jedem Unternehmen sollte ein Black Belt 100 Mitarbeiter und ein Green Belt 20 Mitarbeiter unter sich haben.
„Die Dienstleistungsindustrie enthält viele unsichtbare Prozesse. Das kommt daher, dass ihre Produkte nicht so greifbar sind wie die aus der Fabrik.“
Der Six-Sigma-Einsatzplan sieht vor, die einzelnen Akteure je nach Position in der Hierarchie sukzessive zu trainieren und in einer Kontrollphase zu testen. Nach rund einem halben Jahr kann die Durchführung von Six Sigma in einer einzelnen Geschäftseinheit abgeschlossen sein. Entscheidend ist auch der unabhängige Finanzrepräsentant: Six-Sigma-Profite dürfen nicht ohne weiteres „geschluckt“ werden, indem sie Fehler in anderen Unternehmensfeldern kompensieren. Sie müssen auf der „bottom line“ erscheinen.
Lieferanten mit ins Boot holen
Nicht selten ist mangelhaft gelieferte Qualität die Ursache für das stagnierende Sigma-Niveau eines Unternehmens. Anstatt den Lieferanten Druck zu machen, sollten Six-Sigma-Unternehmen ihre Partner ebenfalls trainieren. Allerdings erst etwa zwei Jahre, nachdem die eigenen Prozesse unter Kontrolle gebracht wurden – viele Lieferantenfehler lassen sich nämlich auf schlampige Anweisungen zurückführen.
Zünglein an der Waage: Die Schwarzen Gürtel
Selbst wenn die Initiative zur Veränderung von der Geschäftsführung ausgeht – die eigentliche Sigma-Verschiebung liegt in der Hand der Black Belts. Wie im Kampfsport Karate führen auch bei der Durchbruchstrategie mentale Disziplin und intensives Training zum Erfolg. Sie sind die Schlüsselfiguren, die Kommunikationskanäle zwischen Belegschaft und Geschäftsführung legen. Unterm Strich spart jeder voll trainierte Black Belt dem Unternehmen durch vier bis sechs Projekte im Jahr mindestens 1,2 Millionen und oft weit über 2 Millionen DM. Es ist die Rolle der Champions, für die richtige Mischung aus erfahrenen und neuen Mitarbeitern unter den Black Belts zu sorgen. Auch sollten Black Belts ihren Leistungen entsprechend belohnt und als „Helden“ des Unternehmens gefeiert werden.
Six Sigma in der Dienstleistung
Mangelnder Service ist teuer – ein Unternehmen verliert schätzungsweise 10 Milliarden DM, wenn es Six Sigma im Kaufmännischen nicht genauso engagiert umsetzt wie in der industriellen Fertigung. Die meisten Kunden sanktionieren schlechte Serviceleistungen weitaus heftiger als ein fehlerhaft geliefertes Produkt. Six Sigma ist aber keinesfalls auf industrielle Fertigung beschränkt. Scheinbar unsichtbare Prozesse in der Dienstleistungsindustrie lassen sich in einzelne Prozessschritte aufbrechen. Bei der Berechnung von Fehlerhäufigkeit wird das „Teil“ aus der industriellen Sprache durch die „Transaktion“ ersetzt. Diese „Produkteinheit“ kann so ziemlich alles sein: ein Registrierformular für Gäste, eine Kassenquittung oder ein Strafzettel. Auf diese Weise lassen sich quantitative Metriken auch auf Dienstleistungen anwenden.