Ein neues geopolitisches Gleichgewicht
Es gibt heute drei Imperien: die USA, die EU und China. Was sie tun oder unterlassen, bestimmt den Gang der Weltgeschichte. Im Zuge der Globalisierung hat ihre gegenseitige Abhängigkeit allerdings zugenommen. Sie gleichen siamesischen Drillingen, die alle gemeinsam leiden, wenn einem von ihnen etwas zustößt. Die Wahrscheinlichkeit von Kriegen zwischen diesen drei Großmächten hat sich zwar verringert, aber nicht in Luft aufgelöst. Den Regionen der Zweiten Welt kommt im Kampf um Rohstoffe und Einfluss eine Schlüsselfunktion zu, da sie den Ausschlag für das machtpolitische Gleichgewicht in der Welt geben. Ihr Schicksal ist das des Übergangs: Die Mittelschicht wächst, und ausländische Direktinvestitionen nehmen zu, doch die breite Masse der Bevölkerung weiß nicht einmal, was ein Weltmarkt ist. Wohlstand und politischer Einfluss konzentrieren sich in den Hauptstädten. Viele Länder der Zweiten Welt sind entweder auf dem Weg, in die Erste aufzusteigen, oder dabei, in die Dritte abzurutschen.
Alle Wege führen nach Brüssel
Die EU ist eine der größten Erfolgsgeschichten unserer Zeit. Das hat sie zuletzt mit der Integration der ehemaligen Ostblockländer bewiesen. Jede Erweiterungsrunde kostet viel Geld, doch unter dem Strich steht dadurch mehr Stabilität und noch mehr Handel, was allen Mitgliedern zugutekommt. Ein EU-Beitritt ist kein Heilmittel für kranke Länder, sondern eine Gesundheitsbescheinigung – die den meisten Balkanstaaten noch nicht ausgestellt werden kann. Langfristig wird die EU ihre „Ostfrage“ aber lösen müssen. Dazu gehört auch der Umgang mit der Türkei. Der Bosporus ist im wahrsten Sinne die Brücke zwischen Europa und Asien. Viele arabische Länder wickeln ihren Handel mit Europa über die Türkei ab, die wiederum an strategisch wichtige Länder wie den Iran, den Irak und Syrien grenzt. Am Ende der Verhandlungen muss nicht die Vollmitgliedschaft stehen. Aber die Türken wissen, wie wichtig sie für Europa sind, und sie werden sich nicht unter Wert verkaufen.
„Die EU ist das bei Weitem populärste und erfolgreichste Imperium der gesamten Geschichte, denn es beherrscht nicht, es diszipliniert.“
Ein Staat hat bei der europäischen Expansion das Nachsehen: Russland. Während die kleptokratische Elite im Champagner badet, erfrieren viele russische Bürger in armseligen Plattenbauten. Auf die Dauer hat Russland den Verheißungen Europas nichts entgegenzusetzen. Fast der gesamte europäische Osten ist im Hass auf Russland vereint, und wer noch nicht in der EU ist, möchte so bald wie möglich rein. In der Ukraine befürworten selbst die Vertreter des prorussischen Ostens einen EU-Beitritt. Noch stoßen diese Ideen in Brüssel auf wenig Gegenliebe. Doch die Nutznießer der vergangenen Erweiterungsrunden setzen sich aktiv dafür ein, den Einfluss Russlands so weit es geht zu begrenzen. Die EU versteht sich nicht auf klassisches, imperialistisches Gebaren. Aber sie stößt im Inneren der Beitrittskandidaten Veränderungsprozesse an, investiert in die Infrastruktur und erweitert so ihre Machtsphäre durch Umarmung. Europa steht am Scheideweg: Nur wenn es weiter erfolgreich expandiert, kann es bestehen.
Entlang der alten und neuen Seidenstraße
Das Kaspische Meer ist die Scheide zwischen Europa und Asien. Türken und Mongolen, Perser und Araber, Engländer und Russen haben in der Vergangenheit versucht, die unwirtliche Region zu unterwerfen – ohne nachhaltigen Erfolg. Heute geht das einst von Russland und Großbritannien betriebene „Great Game“, der Kampf um die Vorherrschaft in Zentralasien, mit anderen Akteuren weiter. Schätzungsweise 200 Milliarden Barrel Öl lagern in der Gegend ums Kaspische Meer, gegenüber 600 Milliarden am Persischen Golf. China hat mit seiner Strategie der gemeinsamen Entwicklung und dem Bau eines modernen Verkehrsnetzes entlang der historischen Seidenstraße einen Etappensieg errungen. Mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit haben die Gründerländer China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan eine Alternative zur NATO und der Bevormundung durch die USA geschaffen. China bietet Kredite und Infrastrukturprojekte, ohne im Gegenzug Demokratisierung einzufordern. Bis auf das ölreiche Kasachstan sind die postsowjetischen Staaten von brutalen, protektionistischen Diktatoren und schlechter Regierungsführung gezeichnet – ein Umfeld, in dem als einzige Opposition der radikale Islamismus gedeiht. China wartet lauernd ab, bis die NATO ihre Truppenstärke reduziert, um dann den Westen mit besseren Entwicklungsprogrammen auszumanövrieren.
Auf dem Hinterhof wird gebaut
Auch in Lateinamerika werden die Karten neu gemischt. Die USA haben diese Staaten traditionell wie ihren Hinterhof behandelt. Doch nun treten die Chinesen auf den Plan. Deren Handelsvolumen mit den Lateinamerikanern hat sich von 200 Millionen Dollar im Jahr 1975 auf fast 50 Milliarden im Jahr 2004 erhöht. Mexiko, Brasilien und Chile haben bereits merklich von der Globalisierung profitiert. Eine Freihandelszone vom Norden Kanadas bis zur Südspitze Argentiniens wäre weltweit die bei Weitem größte. Ein panamerikanisches Einigungsprojekt unter der Führung der USA scheint heute allerdings unwahrscheinlich. Zu groß ist die Angst der Nordamerikaner vor den „Horden“ lateinamerikanischer Einwanderer. Trotz des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) investieren die USA nicht annähernd so viel in Mexiko wie etwa die EU in der Türkei. Der militärische „Krieg gegen Drogen“ ist ein Desaster, und der Linkspopulist Hugo Chávez in Venezuela kann es sich dank des Ölreichtums seines Landes leisten, dem Norden eine lange Nase zu machen.
„Aufstrebende Imperien betrachten unsichere Gebiete auf Landkarten mit den gleichen Augen, mit denen Bären nach langem Winterschlaf Futter erspähen.“
Wenn ein Land einen natürlichen Führungsanspruch in Südamerika hat, dann ist es Brasilien. „Unglaublich, wie groß Brasilien ist“, entfuhr es George W. Bush 2005 bei einem Blick auf die Landkarte. In der Tat: Das Land bedeckt etwa die Hälfte des Kontinents, und mit seinem Aufstieg in die Zweite Welt ist sein Selbstbewusstsein gewachsen. Im Verbund mit anderen Schwellenländern macht Brasilien sich gegen die Interessen der EU und der USA stark. Fast die Hälfte seiner Exporte geht in Entwicklungsländer. Und es hat bei der Armutsbekämpfung und nachhaltigen Entwicklung viele Erfolge errungen. Nicht zuletzt deshalb gilt Brasilien heute als Vorbild für ganz Südamerika.
Hoffnung im Nahen Osten?
Geografisch gesehen ist die arabische Welt ein Bindeglied zwischen Europa, Asien und Afrika. Unter ihrem Wüstensand lagern die größten fossilen Energiereserven der Welt. Trotz der enormen Probleme und Konflikte in der Region hilft die Globalisierung den Menschen erstmals seit 1000 Jahren, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen. Die Arabische Liga erneuert sich gerade und hat einige grenzübergreifende Wirtschafts- und Infrastrukturprojekte angestoßen. Die Herausforderungen sind gewaltig:
- Ägypten: Das Land ächzt unter seiner rapide wachsenden Bevölkerung. Islamische Organisationen offenbaren die Schwächen des autokratischen Regimes, wenn sie dringend benötigte Krankenhäuser und Grundschulen bauen müssen.
- Syrien, Jordanien, Libanon, Israel: Eine regionale Einigung und Öffnung ist hier notwendiger und zugleich gefährlicher als irgendwo sonst. Denn obwohl Israel sich als westlichste Grenze zum Osten versteht, kann es auf Dauer nicht isoliert überleben. Die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates ist die Grundvoraussetzung für Stabilität in der Region.
- Irak: Die Einheit des Landes ist längst Fiktion. Die auf dem Reißbrett entstandene Nation wird sich in Kurdistan, Schiastan und Sunnistan spalten. Ein unabhängiges Kurdistan könnte sich zu einem Handelsknotenpunkt entwickeln und die gesamte Region beleben.
- Iran: Die Taktik der USA, den Iran erst zu ignorieren und dann zu isolieren, ist gescheitert. Das Land besitzt die drittgrößten Erdöl- und die zweitgrößten Erdgasreserven weltweit, und seine Diplomaten sind äußerst geschickt darin, Freunde und Feinde gegeneinander auszuspielen. Doch das Volk ist müde: Die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes wird früher oder später zur Gegenrevolution führen.
- Golfstaaten: Noch werden die USA als militärische Schutzmacht akzeptiert, aber auch hier schaut man sich nach neuen Partnern um. Anders als während des Ölbooms in den 1970ern reinvestieren die Scheichs 70 % ihrer Öleinnahmen in der arabischen Welt. Nach wie vor suhlen sich privilegiert geborene Golf-Araber im Luxus und lassen die Arbeit von schlecht bezahlten Gastarbeitern verrichten. Im freizügigen, turbokapitalistischen Dubai triumphiert das Geld dermaßen über den Glauben, dass Gehälter gekürzt werden, wenn Mitarbeiter während der Arbeitszeit ihr Gebet verrichten. Aber viele Golf-Araber sind aus ihrer Apathie erwacht. An ihnen liegt es, dem wahhabitischen Extremismus und dem westlichen Materialismus einen aufgeklärten Islam entgegenzusetzen.
Wiederaufstieg des Ostens
Zentral-, Ost- und Südostasien, Indien, Australien und Neuseeland – keine dieser Regionen kann heute ihre Rechnung ohne China machen. Dessen Doktrin lautet „friedlicher Aufstieg“, womit es sich bewusst von der aggressiven Außenpolitik der USA absetzt. Die meisten Nachbarstaaten stehen Chinas Aufstieg durchaus wohlwollend gegenüber: Er nährt die Hoffnung auf Wohlstand. Demokratisierung nach westlichem Vorbild ist für die meisten kein Thema. Indien, das die USA immer als einzige große, multiethnische und multireligiöse Demokratie in Asien hervorheben, ist wirtschaftlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die meisten Asiaten sind sich einig, dass die Demokratie dort nur zu Chaos geführt hat. China hingegen ist ein geschlossenes System. Die Chinesen hatten schon immer eigene Lösungen für alles und sind nun dabei, ihren angestammten Platz zurückzuerobern. Sie untergraben die Vorherrschaft der USA durch geschickte Nutzung der Globalisierung. China zieht massenhaft ausländisches Know-how an und kopiert die Produkte und Ideen westlicher Unternehmen, um diese auszubooten. Außerhalb der boomenden Küstenstädte herrscht Armut, aber die Regierenden haben das Problem erkannt und steuern mittlerweile gegen. Die wohl größte Gefahr für China und die ganze Welt liegt in der beispiellosen Umweltzerstörung: In vielen Städten können oft keine Flugzeuge landen, weil der Smog zu dicht ist.
Eine neue Weltordnung
Fest steht: Die USA haben den Zenit ihrer Macht überschritten. Die EU bekommt ihren Osten allein in den Griff, Südamerikaner und Araber suchen nach neuen Partnern, und China beherrscht de facto ganz Ostasien. Das US-amerikanische Imperium hat sich überdehnt und schrumpft zusehends. Die Bürger der USA leben weit über ihre Verhältnisse. Der Dollar wird sich nicht mehr lange als wichtigste Weltreservewährung halten können. Im Inneren nimmt die Einkommensungleichheit zu, 45 Millionen US-Amerikaner sind nicht krankenversichert, die Inhaftierungsrate ist die höchste der Welt, und wenige Superreiche tragen mehr zum Wirtschaftswachstum bei als die große Mehrheit der Bevölkerung – ein Zusammenspiel von Extremen, wie es normalerweise in der Zweiten Welt üblich ist.
„Tatsächlich beweist die Geschichte, dass die Menschheit oftmals alles andere als vernunftgeleitet ist, und dies häufig gerade dann, wenn sie am dringendsten auf die Vernunft angewiesen wäre.“
Die Zweitweltstaaten stellen sich ihr diplomatisches Menü nach eigenem Gusto zusammen: Militärhilfe von der einen Macht, privilegierter Handel mit einer anderen und Wirtschaftshilfe von der dritten. Der Appetit auf einseitige Loyalität ist ihnen vergangen. Die drei Supermächte sind zwar voneinander abhängig, haben aber keineswegs die gleichen Interessen. Der nächste Weltkrieg lässt sich nur verhindern, wenn der Stuhl mit den drei Beinen EU, USA und China zu wackeln aufhört und ein Gleichgewicht erreicht. Damit dies möglich ist, muss der heutige Wettlauf um Einfluss dem Konzept der Arbeitsteilung Platz machen, bei dem jeder tut, was er am besten kann. Wie in einer zivilisierten Familie müssen die drei Imperien gemeinsam die Regeln festlegen und zu Kompromissen bereit sein.