Der Kampf um die Zweite Welt

Buch Der Kampf um die Zweite Welt

Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung

Berlin Verlag,


Rezension

Es sind kühne Thesen: Die EU, ein mächtiges Imperium? Die USA, ein geopoli­tis­ches Aus­lauf­mod­ell? Und China, eine Weltmacht, die ohne Waf­fenge­walt ganz Ostasien beherrscht? Parag Khanna provoziert, doch er weiß seine Be­haup­tun­gen zu belegen. Immerhin hat er für seine Recherchen über 50 Länder bereist und unzählige Gespräche geführt. Her­aus­gekom­men ist eine Mischung aus bunten Rei­seim­pres­sio­nen und komplexer his­torisch-poli­tis­cher Analyse. Der Leser erfährt z. B., dass sich viele Russen nur in der Sauna sicher fühlen, weil dort keine Waffen erlaubt sind. Die lateinamerikanis­che Politik vergleicht der Autor mit Salsa, Samba, Rumba und Tango und deren „un­ver­mit­tel­ten Drehungen und Kehrtwen­dun­gen“. Für jedes Land und jede politische Entwicklung hat er eine Metapher zur Hand, von denen allerdings einige etwas bemüht daherkommen. Insgesamt zeichnet er ein faszinieren­des Bild vom geopoli­tis­chen Flick­en­tep­pich und von den Zerreißproben, denen dieser ausgesetzt ist. BooksInShort empfiehlt die Lektüre allen, die sich für Geopolitik in­ter­essieren.

Take-aways

  • Die USA, die EU und China sind heute die drei Imperien von geopoli­tis­cher Bedeutung.
  • Im Kampf dieser drei Weltmächte um Rohstoffe und politischen Einfluss werden die Staaten der Zweiten Welt immer wichtiger.
  • Die EU expandiert durch Umarmung: Sie stößt Reformen an und investiert in die In­fra­struk­tur der Beitrittskan­di­daten.
  • Russland ist der Verlierer der EU-Er­weiterung. Fast ganz Osteuropa hasst Russland und will so schnell wie möglich in die EU.
  • China präsentiert sich mit seiner Doktrin des „friedlichen Aufstiegs“ erfolgreich als Alternative zu den USA.
  • Das Konzept: Handel ohne Wandel − und alle verfügbaren Rohstoffe ab ins Reich der Mitte.
  • Lateinamerika und die arabische Welt emanzip­ieren sich zusehends von der US-Bevor­mundung.
  • Is­lamistis­cher Fun­da­men­tal­is­mus gedeiht unter au­tokratis­chen und korrupten Regimes.
  • Die USA verlieren an Einfluss und Anziehungskraft, auch weil die Leben­squalität im Land zurückgeht.
  • Nur durch Ar­beit­steilung und Kompromisse statt Wettbewerb kann eine Eskalation zwischen den Weltmächten verhindert werden.
 

Zusammenfassung

Ein neues geopoli­tis­ches Gle­ichgewicht

Es gibt heute drei Imperien: die USA, die EU und China. Was sie tun oder unterlassen, bestimmt den Gang der Welt­geschichte. Im Zuge der Glob­al­isierung hat ihre gegen­seit­ige Abhängigkeit allerdings zugenommen. Sie gleichen siame­sis­chen Drillingen, die alle gemeinsam leiden, wenn einem von ihnen etwas zustößt. Die Wahrschein­lichkeit von Kriegen zwischen diesen drei Großmächten hat sich zwar verringert, aber nicht in Luft aufgelöst. Den Regionen der Zweiten Welt kommt im Kampf um Rohstoffe und Einfluss eine Schlüssel­funk­tion zu, da sie den Ausschlag für das macht­poli­tis­che Gle­ichgewicht in der Welt geben. Ihr Schicksal ist das des Übergangs: Die Mit­telschicht wächst, und ausländische Di­rek­t­in­vesti­tio­nen nehmen zu, doch die breite Masse der Bevölkerung weiß nicht einmal, was ein Weltmarkt ist. Wohlstand und politischer Einfluss konzen­tri­eren sich in den Hauptstädten. Viele Länder der Zweiten Welt sind entweder auf dem Weg, in die Erste aufzusteigen, oder dabei, in die Dritte abzu­rutschen.

Alle Wege führen nach Brüssel

Die EU ist eine der größten Er­fol­gs­geschichten unserer Zeit. Das hat sie zuletzt mit der Integration der ehemaligen Ostblockländer bewiesen. Jede Er­weiterungsrunde kostet viel Geld, doch unter dem Strich steht dadurch mehr Stabilität und noch mehr Handel, was allen Mitgliedern zugutekommt. Ein EU-Beitritt ist kein Heilmittel für kranke Länder, sondern eine Gesund­heits­bescheini­gung – die den meisten Balka­nstaaten noch nicht ausgestellt werden kann. Langfristig wird die EU ihre „Ostfrage“ aber lösen müssen. Dazu gehört auch der Umgang mit der Türkei. Der Bosporus ist im wahrsten Sinne die Brücke zwischen Europa und Asien. Viele arabische Länder wickeln ihren Handel mit Europa über die Türkei ab, die wiederum an strategisch wichtige Länder wie den Iran, den Irak und Syrien grenzt. Am Ende der Ver­hand­lun­gen muss nicht die Vollmit­glied­schaft stehen. Aber die Türken wissen, wie wichtig sie für Europa sind, und sie werden sich nicht unter Wert verkaufen.

„Die EU ist das bei Weitem populärste und er­fol­gre­ich­ste Imperium der gesamten Geschichte, denn es beherrscht nicht, es diszi­plin­iert.“

Ein Staat hat bei der europäischen Expansion das Nachsehen: Russland. Während die klep­tokratis­che Elite im Champagner badet, erfrieren viele russische Bürger in armseligen Plat­ten­bauten. Auf die Dauer hat Russland den Verheißungen Europas nichts ent­ge­gen­zuset­zen. Fast der gesamte europäische Osten ist im Hass auf Russland vereint, und wer noch nicht in der EU ist, möchte so bald wie möglich rein. In der Ukraine befürworten selbst die Vertreter des prorus­sis­chen Ostens einen EU-Beitritt. Noch stoßen diese Ideen in Brüssel auf wenig Gegenliebe. Doch die Nutznießer der vergangenen Er­weiterungsrun­den setzen sich aktiv dafür ein, den Einfluss Russlands so weit es geht zu begrenzen. Die EU versteht sich nicht auf klassisches, im­pe­ri­al­is­tis­ches Gebaren. Aber sie stößt im Inneren der Beitrittskan­di­daten Veränderung­sprozesse an, investiert in die In­fra­struk­tur und erweitert so ihre Machtsphäre durch Umarmung. Europa steht am Scheideweg: Nur wenn es weiter erfolgreich expandiert, kann es bestehen.

Entlang der alten und neuen Seidenstraße

Das Kaspische Meer ist die Scheide zwischen Europa und Asien. Türken und Mongolen, Perser und Araber, Engländer und Russen haben in der Ver­gan­gen­heit versucht, die unwirtliche Region zu unterwerfen – ohne nach­halti­gen Erfolg. Heute geht das einst von Russland und Großbritannien betriebene „Great Game“, der Kampf um die Vorherrschaft in Zen­tralasien, mit anderen Akteuren weiter. Schätzungsweise 200 Milliarden Barrel Öl lagern in der Gegend ums Kaspische Meer, gegenüber 600 Milliarden am Persischen Golf. China hat mit seiner Strategie der gemeinsamen Entwicklung und dem Bau eines modernen Verkehrsnet­zes entlang der his­torischen Seidenstraße einen Etappensieg errungen. Mit der Shanghaier Or­gan­i­sa­tion für Zusam­me­nar­beit haben die Gründerländer China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tad­schik­istan eine Alternative zur NATO und der Bevor­mundung durch die USA geschaffen. China bietet Kredite und In­fra­struk­tur­pro­jekte, ohne im Gegenzug Demokratisierung einzu­fordern. Bis auf das ölreiche Kasachstan sind die post­sow­jetis­chen Staaten von brutalen, pro­tek­tion­is­tis­chen Diktatoren und schlechter Regierungsführung gezeichnet – ein Umfeld, in dem als einzige Opposition der radikale Islamismus gedeiht. China wartet lauernd ab, bis die NATO ihre Truppenstärke reduziert, um dann den Westen mit besseren En­twick­lung­spro­gram­men auszumanövrieren.

Auf dem Hinterhof wird gebaut

Auch in Lateinamerika werden die Karten neu gemischt. Die USA haben diese Staaten tra­di­tionell wie ihren Hinterhof behandelt. Doch nun treten die Chinesen auf den Plan. Deren Han­delsvol­u­men mit den Lateinamerikan­ern hat sich von 200 Millionen Dollar im Jahr 1975 auf fast 50 Milliarden im Jahr 2004 erhöht. Mexiko, Brasilien und Chile haben bereits merklich von der Glob­al­isierung profitiert. Eine Frei­han­del­szone vom Norden Kanadas bis zur Südspitze Ar­gen­tiniens wäre weltweit die bei Weitem größte. Ein panamerikanis­ches Eini­gung­spro­jekt unter der Führung der USA scheint heute allerdings un­wahrschein­lich. Zu groß ist die Angst der Nor­damerikaner vor den „Horden“ lateinamerikanis­cher Einwanderer. Trotz des Nor­damerikanis­chen Frei­han­delsabkom­mens (NAFTA) investieren die USA nicht annähernd so viel in Mexiko wie etwa die EU in der Türkei. Der militärische „Krieg gegen Drogen“ ist ein Desaster, und der Linkspop­ulist Hugo Chávez in Venezuela kann es sich dank des Ölreichtums seines Landes leisten, dem Norden eine lange Nase zu machen.

„Auf­strebende Imperien betrachten unsichere Gebiete auf Landkarten mit den gleichen Augen, mit denen Bären nach langem Win­ter­schlaf Futter erspähen.“

Wenn ein Land einen natürlichen Führungsanspruch in Südamerika hat, dann ist es Brasilien. „Unglaublich, wie groß Brasilien ist“, entfuhr es George W. Bush 2005 bei einem Blick auf die Landkarte. In der Tat: Das Land bedeckt etwa die Hälfte des Kontinents, und mit seinem Aufstieg in die Zweite Welt ist sein Selb­st­be­wusst­sein gewachsen. Im Verbund mit anderen Schwellenländern macht Brasilien sich gegen die Interessen der EU und der USA stark. Fast die Hälfte seiner Exporte geht in En­twick­lungsländer. Und es hat bei der Armutsbekämpfung und nach­halti­gen Entwicklung viele Erfolge errungen. Nicht zuletzt deshalb gilt Brasilien heute als Vorbild für ganz Südamerika.

Hoffnung im Nahen Osten?

Geografisch gesehen ist die arabische Welt ein Bindeglied zwischen Europa, Asien und Afrika. Unter ihrem Wüstensand lagern die größten fossilen En­ergiere­ser­ven der Welt. Trotz der enormen Probleme und Konflikte in der Region hilft die Glob­al­isierung den Menschen erstmals seit 1000 Jahren, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen. Die Arabische Liga erneuert sich gerade und hat einige grenzübergreifende Wirtschafts- und In­fra­struk­tur­pro­jekte angestoßen. Die Her­aus­forderun­gen sind gewaltig:

  • Ägypten: Das Land ächzt unter seiner rapide wachsenden Bevölkerung. Islamische Or­gan­i­sa­tio­nen offenbaren die Schwächen des au­tokratis­chen Regimes, wenn sie dringend benötigte Krankenhäuser und Grund­schulen bauen müssen.
  • Syrien, Jordanien, Libanon, Israel: Eine regionale Einigung und Öffnung ist hier notwendiger und zugleich gefährlicher als irgendwo sonst. Denn obwohl Israel sich als westlichste Grenze zum Osten versteht, kann es auf Dauer nicht isoliert überleben. Die Gründung eines lebensfähigen palästi­nen­sis­chen Staates ist die Grund­vo­raus­set­zung für Stabilität in der Region.
  • Irak: Die Einheit des Landes ist längst Fiktion. Die auf dem Reißbrett entstandene Nation wird sich in Kurdistan, Schiastan und Sunnistan spalten. Ein unabhängiges Kurdistan könnte sich zu einem Han­del­sknoten­punkt entwickeln und die gesamte Region beleben.
  • Iran: Die Taktik der USA, den Iran erst zu ignorieren und dann zu isolieren, ist gescheitert. Das Land besitzt die drittgrößten Erdöl- und die zweitgrößten Erdgas­re­ser­ven weltweit, und seine Diplomaten sind äußerst geschickt darin, Freunde und Feinde gegeneinan­der auszus­pie­len. Doch das Volk ist müde: Die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes wird früher oder später zur Gegen­rev­o­lu­tion führen.
  • Golfstaaten: Noch werden die USA als militärische Schutzmacht akzeptiert, aber auch hier schaut man sich nach neuen Partnern um. Anders als während des Ölbooms in den 1970ern rein­vestieren die Scheichs 70 % ihrer Öleinnahmen in der arabischen Welt. Nach wie vor suhlen sich priv­i­legiert geborene Golf-Araber im Luxus und lassen die Arbeit von schlecht bezahlten Gas­tar­beit­ern verrichten. Im freizügigen, tur­bokap­i­tal­is­tis­chen Dubai triumphiert das Geld dermaßen über den Glauben, dass Gehälter gekürzt werden, wenn Mitarbeiter während der Arbeitszeit ihr Gebet verrichten. Aber viele Golf-Araber sind aus ihrer Apathie erwacht. An ihnen liegt es, dem wah­habitis­chen Extremismus und dem westlichen Ma­te­ri­al­is­mus einen aufgeklärten Islam ent­ge­gen­zuset­zen.

Wieder­auf­stieg des Ostens

Zentral-, Ost- und Südostasien, Indien, Australien und Neuseeland – keine dieser Regionen kann heute ihre Rechnung ohne China machen. Dessen Doktrin lautet „friedlicher Aufstieg“, womit es sich bewusst von der aggressiven Außenpolitik der USA absetzt. Die meisten Nach­barstaaten stehen Chinas Aufstieg durchaus wohlwollend gegenüber: Er nährt die Hoffnung auf Wohlstand. Demokratisierung nach westlichem Vorbild ist für die meisten kein Thema. Indien, das die USA immer als einzige große, mul­ti­eth­nis­che und multireligiöse Demokratie in Asien hervorheben, ist wirtschaftlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die meisten Asiaten sind sich einig, dass die Demokratie dort nur zu Chaos geführt hat. China hingegen ist ein geschlossenes System. Die Chinesen hatten schon immer eigene Lösungen für alles und sind nun dabei, ihren anges­tammten Platz zurückzuerobern. Sie untergraben die Vorherrschaft der USA durch geschickte Nutzung der Glob­al­isierung. China zieht massenhaft ausländisches Know-how an und kopiert die Produkte und Ideen westlicher Unternehmen, um diese auszubooten. Außerhalb der boomenden Küstenstädte herrscht Armut, aber die Regierenden haben das Problem erkannt und steuern mit­tler­weile gegen. Die wohl größte Gefahr für China und die ganze Welt liegt in der beispiel­losen Umweltzerstörung: In vielen Städten können oft keine Flugzeuge landen, weil der Smog zu dicht ist.

Eine neue Weltordnung

Fest steht: Die USA haben den Zenit ihrer Macht überschrit­ten. Die EU bekommt ihren Osten allein in den Griff, Südamerikaner und Araber suchen nach neuen Partnern, und China beherrscht de facto ganz Ostasien. Das US-amerikanis­che Imperium hat sich überdehnt und schrumpft zusehends. Die Bürger der USA leben weit über ihre Verhältnisse. Der Dollar wird sich nicht mehr lange als wichtigste Wel­tre­servewährung halten können. Im Inneren nimmt die Einkom­men­su­n­gle­ich­heit zu, 45 Millionen US-Amerikaner sind nicht kranken­ver­sichert, die In­haftierungsrate ist die höchste der Welt, und wenige Superreiche tragen mehr zum Wirtschaftswach­s­tum bei als die große Mehrheit der Bevölkerung – ein Zusam­men­spiel von Extremen, wie es nor­maler­weise in der Zweiten Welt üblich ist.

„Tatsächlich beweist die Geschichte, dass die Menschheit oftmals alles andere als ver­nun­ft­geleitet ist, und dies häufig gerade dann, wenn sie am drin­gend­sten auf die Vernunft angewiesen wäre.“

Die Zweitwelt­staaten stellen sich ihr diplo­ma­tis­ches Menü nach eigenem Gusto zusammen: Militärhilfe von der einen Macht, priv­i­legierter Handel mit einer anderen und Wirtschaft­shilfe von der dritten. Der Appetit auf einseitige Loyalität ist ihnen vergangen. Die drei Supermächte sind zwar voneinander abhängig, haben aber keineswegs die gleichen Interessen. Der nächste Weltkrieg lässt sich nur verhindern, wenn der Stuhl mit den drei Beinen EU, USA und China zu wackeln aufhört und ein Gle­ichgewicht erreicht. Damit dies möglich ist, muss der heutige Wettlauf um Einfluss dem Konzept der Ar­beit­steilung Platz machen, bei dem jeder tut, was er am besten kann. Wie in einer zivil­isierten Familie müssen die drei Imperien gemeinsam die Regeln festlegen und zu Kom­pro­mis­sen bereit sein.

Über den Autor

Parag Khanna ist Experte für Geopolitik. Er arbeitet u. a. für die New American Foundation und schreibt regelmäßig für New York Times, Washington Post und Financial Times. 2008 war er Mitglied des außen­poli­tis­chen Be­raterteams für Barack Obama.