Die Kunst, Nein zu sagen
Ja zu sagen, fällt den meisten Menschen sehr leicht – besonders zu Beginn einer Liebesbeziehung. Doch dann, im Lauf der Zeit, verändert sich etwas. Vielleicht kennen Sie das: Sie nehmen sich vor, sich anzustrengen, um das Ja des anderen auch weiterhin zu verdienen, aber es gelingt Ihnen nicht. Sie werden nachlässiger, der Alltag holt Sie ein. Die Liebesmühe gerät in Vergessenheit. Ihr Partner hat aber immer noch das gleiche Bedürfnis nach Bestätigung. Also wird er Ihr Ja einfordern. Damit wird es für Sie zur Pflicht und kommt nicht mehr aus vollem Herzen. Die Gefühle füreinander werden schwächer, im gegenseitigen Umgang finden sich immer häufiger unausgesprochene Neins.
„Letztendlich können wir nur dann aus vollem Herzen Ja zu uns und zueinander sagen, wenn wir auch zu einem authentischen Nein in der Lage sind.“
Kinder sind da sehr viel direkter, und ihre Liebe zu Ihnen schwindet auch nicht so schnell wie die eines Liebespartners. Dennoch ist es wichtig, dass Sie das Nein Ihres Kindes akzeptieren. Das ist die Art und Weise, wie es seine Grenzen zieht. Nehmen Sie das nicht persönlich. Nur so können Sie den Charakter Ihres Kindes wirklich kennenlernen. Die gute Nachricht dabei: Sie haben das gleiche Recht! Sie haben sogar die Pflicht, anderen Menschen gegenüber Ihr Nein zu äußern, denn nur so können Sie zu sich selbst Ja sagen. Welche Möglichkeiten bleiben Ihnen sonst noch? Ein halbherziges Ja? Eine Lüge? Oder gar Resignation? Das sind keine befriedigenden Alternativen. Wichtig ist daher vor allem, dass Sie Ihre individuellen Grenzen deutlich machen – so authentisch wie möglich. Denn je mehr Sie einstecken müssen, um bei anderen beliebt zu sein, desto wahrscheinlicher werden Sie missachtet und ausgenutzt.
Das Nein von Säuglingen
Bereits Säuglinge sagen Nein, und zwar sehr deutlich: Sie drehen den Kopf weg, wenn sie ihre Ruhe haben wollen, sie spucken das Essen aus, wenn sie satt sind, und sie schreien, wenn sie schlafen sollen, obwohl sie nicht müde sind. All das müssen Sie in der frühen Entwicklungsphase Ihres Kindes akzeptieren, während Sie Ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Wahrscheinlich werden Sie sich in dieser Zeit oft auf die Zunge beißen müssen. Sie sagen also bedingungslos Ja, während Ihre Kinder bedingungslos Nein sagen. Diese Konstellation birgt einiges an Konfliktpotenzial. Auch wenn Ihr Zögling erst im Alter von etwa 18 Monaten mit dem Sprechen beginnt, können Sie bereits in der Säuglingsphase einiges tun, um Ihre eigenen Bedürfnisse zu schützen, ohne Ihr Kind dabei zu vergessen. Wenn es beispielsweise plötzlich Geräusche von sich gibt, während Sie sich mit jemand anderem unterhalten, ist es selbstverständlich, dass Sie kurz nach dem Rechten sehen. Wenn kein Anlass zur Sorge besteht, spricht jedoch nichts dagegen, Ihr Gespräch weiterzuführen. Sie müssen nicht gleich die Windel kontrollieren und das Baby hochnehmen. Räumen Sie auch Ihrem Gesprächspartner eine gewisse Priorität ein. In den meisten Fällen wird Ihr Baby nach kurzer Zeit von allein wieder Ruhe geben und weiterschlafen.
Das Nein von Kleinkindern
Mit dem Erlernen der Sprache tritt Ihr Kind aktiver mit Ihnen in Interaktion. Sie haben darum auch die Möglichkeit, sich stärker abzugrenzen und dem Kind Ihre eigene Persönlichkeit zu vermitteln. Nutzen Sie diese Gelegenheit. Ihre Liebe sollten Sie nicht nur dadurch äußern, dass Sie sich um die Bedürfnisse Ihres Kindes kümmern. Allzu viele Kleinkinder werden in die Obhut von Fachpersonal wie Kindermädchen oder Pädagogen gegeben und machen daher überwiegend die Erfahrung, mit Menschen umzugehen, die ihnen einen Dienst erweisen. Sie führen keine Beziehungen unter Gleichwertigen. Etablieren Sie dazu ein Gegengewicht und begegnen Sie Ihren Kindern auf Augenhöhe. Wenn Ihr Kind beispielsweise an Ihrer Brille zieht, sagen Sie lieber: „Nein, das will ich nicht!“ statt: „Mit Brillen spielt man nicht. Die kosten viel Geld.“ So beziehen Sie persönlich Stellung und geben Ihrem Kind die Chance, Ihre persönlichen Grenzen kennenzulernen und eigene Erfahrungen zu machen, statt belehrt zu werden. Und reden Sie niemals über sich selbst in der dritten Person, etwa: „Mama will nicht, dass du ihre Brille nimmst.“ Das ist sehr viel weniger überzeugend als eine Aussage in Ich-Form. Mit einem Erwachsenen würden Sie so ja auch nicht reden.
Die richtige Art, Nein zu sagen
Damit Sie andere nicht zu sehr mit Ihrem Nein kränken, kommt es darauf an, wie Sie dieses Nein formulieren. Nicht nur die Wortwahl ist wichtig, sondern auch, welchen Tonfall Sie wählen und was Ihre Körpersprache sagt. Seien Sie so authentisch wie möglich und versuchen Sie nicht, einem Ideal aus irgendwelchen Pädagogikbüchern zu entsprechen. Sogenannte kinderfreundliche Sprache kann letztlich dazu führen, dass die Familie nur aus Schauspielern besteht: die Erwachsenen spielen Eltern und veranlassen die Kinder somit zu einem kindlichen Verhalten. Missverständnisse sind dadurch vorprogrammiert: Die Kinder verstehen nicht, was von ihnen erwartet wird, und die Eltern beklagen sich darüber, dass die Kinder nicht kooperieren. Sagen Sie deshalb lieber einfach: „Ich möchte, dass du dein Zimmer aufräumst“ statt: „Warum muss dein Zimmer immer wie ein Schweinestall aussehen?“ Das erleichtert auch die Kommunikation mit Pubertierenden. Die haben nämlich meistens schlichtweg keine Lust darauf, zu erraten, was Sie eigentlich meinen, und hören deswegen gar nicht erst zu.
Wann ist ein Nein angebracht?
Als Eltern haben Sie eine Fürsorgepflicht gegenüber Ihren Kindern. Es gibt also bestimmte Bedürfnisse, die Sie ihnen nicht verwehren dürfen, zum Beispiel Sicherheit, Nahrung, Kleidung und Schlaf. Abgesehen davon gibt es jedoch wenige Bereiche, in denen Sie sich ein Nein verkneifen müssten. Wichtig ist, dass Sie lernen, die Reaktion Ihres Kindes richtig einzuschätzen. Kinder können in bis zu zehn verschiedenen Tonarten weinen. Finden Sie heraus, wann Ihr Kind reinen Protest signalisiert und wann es wirklich in seinen Grundfesten erschüttert ist. In den meisten Fällen handelt es sich beim Weinen um einen Ausdruck des Frustes, der ein wichtiger Bestandteil eines Lernprozesses ist. Deshalb sollten Sie sich dies nicht allzu sehr zu Herzen nehmen oder sich selbst für unfähig halten: Das gehört zum Erwachsenwerden einfach dazu. Wenn eine Frau ihren Mann fragt, was sie am Abend anziehen soll, heißt das auch noch lange nicht, dass sie seinen Wunsch berücksichtigen wird. Es zeigt lediglich, dass sie sich für seine Meinung interessiert. Auf ein Frustweinen nach einem zurückgewiesenen Wunsch könnten Sie zum Beispiel folgendermaßen reagieren: „Ich verstehe, dass du sehr enttäuscht bist. Ich hoffe, du kommst bald darüber hinweg.“
„Oft nehmen wir uns vor, alles dafür zu tun, um uns das Ja eines anderen Menschen zu verdienen, und ebenso oft lässt der Alltagstrott diesen Vorsatz in Vergessenheit geraten.“
Wenn Sie bei Ihrem Kind einmal auf besonders zähen Widerstand stoßen und es sich bei dem Konfliktthema nicht um einen fundamentalen Aspekt Ihrer persönlichen Überzeugung handelt, können Sie auch in Betracht ziehen, Ihr Nein zu überdenken. Eine wichtige Voraussetzung besteht allerdings darin, dass Ihr Kind mit Ihnen ein vernünftiges Gespräch führt. Geben Sie auf keinen Fall bei Quengeleien nach!
Nein zu Wünschen
Kinder haben eine ganze Reihe von Wünschen. Manche davon widersprechen möglicherweise Ihren Überzeugungen. Wenn Sie beispielsweise Pazifist sind, werden Sie Ihrem Kind keine Spielzeugpistole schenken wollen. Sagen Sie Ihrem Kind, dass Sie diesem Wunsch nicht nachkommen werden. Nennen Sie Ihre Gründe aber erst später. Darüber hinaus gibt es einen Unterschied zwischen Dingen, worauf Ihr Kind Lust hat, und Dingen, die Bedürfnisse erfüllen. Den Unterschied zwischen beidem sollten Kinder von ihren Eltern lernen. Denn auch wenn man leicht zu dem Schluss kommen könnte, dass derjenige am glücklichsten ist, der alles bekommt, worauf er Lust hat, so ist dem nicht so. Wichtig ist vielmehr, selbst gesetzte Ziele zu erreichen und Träume zu verwirklichen, auch wenn das bedeutet, dass man auf dem Weg dorthin frustrierende Erfahrungen macht. Damit Kinder zwischen Bedürfnissen und Gelüsten unterscheiden lernen und wissen, in welchen Momenten sie dem einen oder dem anderen nachgeben, sollten Sie die Frage „Worauf hast du Lust?“ weitestgehend durch die Frage „Was willst du?“ ersetzen.
„Im selben Maße, in dem die spontane Freude am Geben und Nehmen eingeschränkt wird, schwinden die Liebe und das Vertrauen zueinander.“
Der Kauf von Markenprodukten ist in der heutigen Überflussgesellschaft ein kontroverses Thema. Der Wunsch des Kindes nach Produkten einer bestimmten Marke liegt oft darin begründet, dass alle seine Freunde Produkte dieser Marke besitzen. Vermutlich befürchtet es, von der Gruppe gehänselt oder ausgeschlossen zu werden, wenn es nicht mithalten kann. Finden Sie heraus, wie wichtig dieses Thema tatsächlich ist. Sollte ihr Kind unter Tränen zusammenbrechen, weil es das gewünschte Produkt nicht bekommt, lohnt sich eventuell ein genaueres Nachforschen. Am besten konfrontieren Sie die Freunde Ihres Kindes bei der nächsten gemeinsamen Unternehmung einmal direkt und fragen, ob das eigene Kind Mobbing zu befürchten hat, wenn es beispielsweise keine Hose einer bestimmten Marke trägt.
Besonderheiten der Tweens und Pubertierenden
Tweens sind jugendliche „in-betweens“ im Alter von 10 bis 14 Jahren, die sich zwischen Kindheit und Pubertät befinden. Sie verbringen mehr Zeit mit Gleichaltrigen, während der Einfluss der Eltern abnimmt, auch wenn er nicht ganz verschwindet. Es empfiehlt sich, in dieser Zeit eher als Sparringspartner aufzutreten. Das bedeutet vor allem, dass Sie von nun an häufig längere Diskussionen führen werden. Bieten Sie Widerstand, ohne zu viel Schaden anzurichten. Akzeptieren Sie spätestens mit dem Beginn der Pubertät, dass Ihr Schützling von nun an auch eigene Erfahrungen machen muss. Nur wenn Sie etwas für absolut unverantwortlich halten, wenn etwa Ihre 13-jährige Tochter mit 20-jährigen Freunden auf eine Party gehen will, sollten Sie Ihr Nein durchsetzen und lieber ein paar Tage schlechte Stimmung in Kauf nehmen. Vermutlich wird sie Ihnen dieses Verbot noch für den Rest Ihres Lebens vorhalten, aber auch damit müssen Sie sich arrangieren. In allen anderen Fällen sollte Ihnen das Verhältnis zu Ihrem Kind wichtiger sein. Zwar ist es ganz normal, dass Sie in dieser Lebensphase häufiger aneinandergeraten, das sollte aber nicht zu einem Dauerkrieg ausarten. Es ist an Ihnen, das gegenseitige Vertrauensverhältnis zu schützen.
Egoismus ist gut
In unserer Gesellschaft ist es verpönt, egoistisch zu sein, also die eigenen Bedürfnisse über die der anderen zu stellen. Daher verpacken viele ihr Nein in eine etwas schwammigere Hülle, zum Beispiel: „Das hört sich eigentlich nicht so gut an.“ Oder sie machen es aggressiver: „Wie kannst du es überhaupt wagen, zu fragen?“ Dabei ist es viel persönlicher und deshalb weniger verletzend, wenn Sie etwa Ihrem fünfjährigen Sohn einfach sagen, dass Sie lieber noch die Nachrichten zu Ende sehen möchten, bevor Sie mit ihm spielen. Dadurch bringen Sie Ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck. Sie werden nicht aggressiv und Sie erwarten auch nicht, dass er Ihre Botschaft erst entschlüsseln muss. Ihr Sohn lernt in diesem Fall, dass Sie erst die Nachrichten schauen und dann mit ihm spielen werden. Er lernt, Ihre Grenzen zu respektieren.
„Das persönliche Nein gegenüber nahen Familienmitgliedern und Freunden hat nichts mit einer Abweisung zu tun, sondern damit, zu uns selbst Ja zu sagen.“
Frauen tun sich beim Setzen solcher Grenzen erfahrungsgemäß schwerer als Männer. Wurde das Kind beim Vater abgewiesen, weil dieser am Schreibtisch sitzt und arbeitet, versucht es sein Glück meist bei der Mutter. Diese ist in der Regel sofort für ihr Kind da.
Es folgen vorsichtige Andeutungen, dass sie eigentlich keine Zeit hat. Sobald sie dann das Kind von ihrem Schoß nimmt, geht das Geschrei los. Ihr Nein ist in dem Moment nicht authentisch. Es kommt zum Streit zwischen Mutter und Kind und meist auch zwischen Mutter und Vater. Die Frau wirft ihrem Mann dann vor, dass er sich nie um das Kind kümmere. Dabei könnten beide Seiten voneinander lernen, statt sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, dass er zu unsensibel und sie zu weich sei.
„Wenn Kinder ein persönliches Nein erhalten, lernen sie sehr schnell, die Bedürfnisse und Grenzen anderer Menschen zu respektieren.“
Auch gegenüber dem Partner ist ein Nein nicht immer einfach. Stellen Sie sich vor, eine Frau möchte am Wochenende zu ihrer Schwester fahren, ihr Mann hat aber keine Lust. Statt sich hinter schwammigen Vorwänden zu verstecken, die dann meist damit enden, dass einer der Partner einen Vorwurf formuliert („Warum bist du immer so negativ, wenn ich etwas vorschlage?“) und der andere Partner unwillig einlenkt, gibt es eine bessere Alternative: Die Frau könnte ihren Partner fragen, warum er keine Lust bzw. worauf er stattdessen Lust hat. Und sie sollte ihm sagen, dass es für sie in Ordnung ist, wenn er ihren Vorschlag ablehnt, und dass ihr das lieber ist, als wenn er nicht sagt, was er wirklich denkt.
„Kinder sind sich zwar ihrer eigentlichen Bedürfnisse nicht bewusst, sie wissen aber fast immer, wozu sie gerade Lust haben.“
Ein unausgesprochenes Nein kann zur Folge haben, dass der Partner einem weniger vertraut. Die gegenseitige Nähe wird schwächer, weil sich jedes unausgesprochene Nein anstaut und sich irgendwann zu einem massiven Nein zur Partnerschaft insgesamt auftürmt. Das Selbstwertgefühl desjenigen, der sich nicht traut, Nein zu sagen, würde leiden und sein Verhalten wäre insgesamt kein gutes Vorbild für seine Kinder.