Jenseits von Gut und Böse

Buch Jenseits von Gut und Böse

Leipzig, 1886
Diese Ausgabe: Insel,


Worum es geht

Herrenmoral und Sklaven­moral

Jenseits von Gut und Böse – diese Wendung klingt für uns automatisch unmoralisch. Muss man nicht das Gute wollen und das Böse ve­r­ab­scheuen? Nietzsche sieht das ein wenig anders. Für ihn sind solche moralischen Gegensätze Erfindungen der Schwachen, um sich gegen die Willkür der Starken zu schützen. In seinem berühmten Werk analysiert er den Unterschied zwischen der Moral der Sklaven (Menschen, die in irgendeiner Weise von anderen abhängig sind und sich durch eine allgemein verbindliche Moral zu schützen suchen) und der Moral der Herren (Menschen, die sich ihre Wertmaßstäbe selbst setzen). Nietzsche propagiert den „Willen zur Macht“ des vornehmen, aris­tokratis­chen Menschen, der sein eigenes Potenzial optimal entfalten will. Ein Freibrief für völlig prinzip­i­en­loses Handeln ist das freilich nicht: Wer gemäß einer höheren Moral handeln will, so Nietzsche, muss vor allem sich selbst im Griff haben. Nur so kann er tun, was den Menschen weit­er­bringt. Jenseits von Gut und Böse ist brillant geschrieben und eines der wichtigsten, manche meinen auch: der gefährlichsten Werke Nietzsches.

Take-aways

  • Jenseits von Gut und Böse ist eines der ein­flussre­ich­sten Werke Friedrich Nietzsches.
  • Inhalt: Die tra­di­tionelle „Sklaven­moral“ in Europa, die hauptsächlich auf pla­tonisch-christliche Einflüsse zurückzuführen ist, steht im Widerspruch zu der von aris­tokratis­cher Gesinnung geprägten „Herrenmoral“, nach der der vornehme Mensch zum Gesetzgeber seiner selbst wird und unabhängig nach seinen eigenen Wert- und Pflichtvorstel­lun­gen lebt und urteilt. Es gibt keine Wahrheit an sich; wahr ist, was dem Leben dient.
  • Das Buch ist eine lose Verknüpfung von Mini-Essays und Aphorismen.
  • Nietzsches betont elitäre Philosophie ist ein Angriff auf das Christentum ebenso wie auf demokratis­che und sozial­is­tis­che Be­stre­bun­gen.
  • Die an­tichristliche Haltung und die elitäre Einstellung haben ihre Wurzeln in Nietzsches Kindheit und Schulzeit.
  • Das vorwiegend kri­tisierende Jenseits von Gut und Böse ist ein Gegenstück zur positiven Lehre in Also sprach Zarathustra.
  • Nietzsches egoistische Moral lässt sich auch als grundsätzlich amoralisch kritisieren.
  • Eine Mitschuld an den Verbrechen der Nazis kann man Nietzsche nicht geben. Er wandte sich selbst dezidiert gegen dumpfen Pa­tri­o­tismus und warnte vor Populisten.
  • Jenseits von Gut und Böse wurde zu Nietzsches Lebzeiten kaum beachtet, bee­in­flusste aber später viele Schrift­steller, Künstler und Denker. Der Titel wurde sprichwörtlich.
  • Zitat: „Die Unwahrheit als Lebens­be­din­gung zugestehn: das heißt freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“
 

Zusammenfassung

Wahr ist, was das Leben fördert

Die Zeit der philosophis­chen Dogmatiker, die glauben, ein in sich zusammenhängendes und wahres Gedankengebäude entworfen zu haben, geht zu Ende. Es gibt keine absolute Wahrheit, auch wenn der Platonismus, der in dieser Hinsicht das Christentum stark bee­in­flusste, davon ausgeht. Statt beantworten zu wollen, was Wahrheit ist, müssen wir uns die Frage stellen: Wozu streben wir überhaupt irgendeine Wahrheit an? Let­z­tendlich geht es ja nur darum, das zu wissen und zu glauben, was unser Leben weit­er­bringt. Manchmal lebt es sich besser mit Illusionen.

„Vo­raus­ge­setzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? Ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden?“ (S. 9)

Die Wahrheitssucher lieben Gegensätze. Sie stellen angebliche Wahrheiten Irrtümern entgegen und kon­stru­ieren gegensätzliche Wertepaare. Lebensfördernd sind aber oft gerade diejenigen Werte, die von ihnen als negativ eingestuft werden. Im Grunde gibt es nur moralische In­ter­pre­ta­tio­nen und keine so genannten Wahrheiten.

Wahrheiten sind Vorurteile

Philosophen halten ihre Methode in der Regel für objektiv und logisch. Sie gehen von bestimmten Werten und Wahrheiten aus und errichten darauf komplexe Gedankengebäude. Tatsächlich beruhen ihre Urteile aber nur auf eigenen Instinkten und auf Vorurteilen. Je nachdem, welchem ihrer men­schlichen Triebe sie bei sich selbst die Vorherrschaft einräumen, entwickeln sie dann die Philosophie, die der Tendenz dieses Triebs entspricht. Sie verwandeln also ihre persönliche, von ihren Vorlieben geprägte Weltsicht in angeblich absolute Wahrheiten. Bei näherer Überprüfung erweisen sich diese Konstrukte als weitgehend subjektiv.

„Die Unwahrheit als Lebens­be­din­gung zugestehn: das heißt freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.“ (S. 15)

Zudem werden unsere philosophis­chen Begriffe mehr von der Struktur unserer Grammatik geprägt als von der Realität. So kommt es, dass die ver­schiede­nen in­doger­man­is­chen Sprachen zu ähnlichen philosophis­chen Systemen geführt haben, während Kulturen mit ganz anderen Sprach­struk­turen auch zu ganz anderen Schlüssen gelangt sind. Den Wis­senschaftlern ergeht es nicht besser. Selbst die Physiker lesen meist nur ihre eigenen Sichtweisen in die Welt hinein.

Die freien Geister

Das Leben ist kompliziert, seine tief greifende Erforschung stellt den Denker vor große Her­aus­forderun­gen und setzt ihn in­tellek­tuellen Gefahren aus. Die Menschheit hat es sich bisher aber leicht gemacht. Alles Philoso­phieren blieb oberflächlich, denn man wollte nicht wirklich die Wahrheit wissen, sondern nur eine vere­in­fachte Weltsicht erlangen, die ein un­kom­pliziertes, bequemes Leben ermöglichte. Von einer solchen Basis aus agieren auch die heutigen angeblichen Freidenker mit ihren „modernen Ideen“. Alle Schuld an den Zuständen der Gegenwart schieben sie der Ver­gan­gen­heit zu und propagieren ein allgemeines Glück für die menschliche Schafherde. Sie verkünden die Gleichheit der Rechte für alle und das Mitgefühl mit allem Leidenden. Gle­ichzeitig erliegen sie leicht Lockmitteln wie Ämtern, Ehren oder fi­nanziellen Vorteilen.

„Unsere höchsten Einsichten müssen – und sollen! – wie Torheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie uner­laubter­weise denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind.“ (S. 41)

Die wahren freien Geister sind anders. Sie machen sich von den oberflächlichen Ver­harm­lo­sun­gen der men­schlichen Existenz frei. Ihnen ist bewusst, dass gerade das Erleben von Leiden und Druck, von Härte, Gewalt und Gefahren den Menschen zu seiner größten Stärke aufblühen lässt. Ihr Denken ist jenseits von Gut und Böse – solche naiven Gegensätze lehnen sie ab. Stattdessen haben sie den Mut, sich völlig von den üblichen Vere­in­fachun­gen und Vorurteilen zu befreien und sich in ihrer Suche dorthin treiben zu lassen, wo immer die für sie relevante Wahrheit liegen mag.

Die Bedeutung der Religion

Die wichtigste Aufgabe der Erken­nt­nis­suche ist das Ausloten der men­schlichen Seele und ihrer Grenzen. Die herkömmliche Psychologie ist dieser Aufgabe nicht gewachsen, weil sie sich in den Dienst der Moral gestellt hat und so z. B. das Wesen der „religiösen Neurose“ nicht erfassen kann. Die echte Wahrheitssuche muss jenseits von Gut und Böse, jenseits von Begriffen wie „Gott“ oder „Sünde“ erfolgen.

„Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurteil, dass Wahrheit mehr wert ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt gibt.“ (S. 46)

Die Religion kann für drei un­ter­schiedliche Men­schen­grup­pen positive Effekte haben: für die Starken, die sie als Herrschaftsin­stru­ment einsetzen (in milderer Form die Herrschaft über Jünger oder Ordensbrüder); für diejenigen unter den Be­herrschten, die das Potenzial haben, selbst einmal Herrschende zu werden, indem sie ihnen Regeln und die Selb­st­diszi­plin vermittelt, die sie für ihren Aufstieg brauchen; und für die Schwachen und Unterdrückten, denen sie ihre Lage erträglicher macht und ihnen Würde verleiht. Gefährlich ist Religion dann, wenn sie zum Selbstzweck wird. Gerade das Christentum – aber auch der Buddhismus – hat die Schwachen gestärkt und die Starken geschwächt. Das hat dazu geführt, dass der moderne Europäer meist nur ein mittelmäßiges Herdentier ist.

Die Geschichte der Moral

Alle Moral­philosophen waren bisher in dem von ihren eigenen Umständen geprägten Denken gefangen. Ihre Umgebung, ihr gesellschaftlicher Stand oder der allgemeine Zeitgeist bestimmten von vornherein ihren Wertekat­a­log. So nahmen sie eine bestimmte Moral als gegeben hin und all ihre Argumente zielten nur darauf ab, diese zu beweisen. Oft hatten sie nicht einmal das geschichtliche oder kulturelle Wissen, um zu erkennen, dass viele ver­schiedene moralische Prinzipien möglich, denkbar und sogar er­strebenswert sind. Eine solche Einschränkung der Perspektive ist aber nicht unbedingt falsch. Es scheint ein Natur­prinzip zu sein, dass der Mensch, ob im Leben oder in der Kunst, bestimmte Regeln braucht, um seine Stärken entfalten zu können. Was diese Regeln konkret sind, ist weniger wichtig, als dass sie über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg eingehalten werden.

„Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung: Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selb­st­gewis­sheit des Geistes, zugleich Verknech­tung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung.“ (S. 57)

In der europäischen Geschichte lässt sich eine prob­lema­tis­che Entwicklung der Moralvorstel­lun­gen nachweisen. Vor der modernen Zeit, als es noch darum ging, dass sich Stämme, Völker, Staaten und Kirchen in Europa gegen äußere Feinde schützen mussten, waren Eigen­schaften wie Führungsstärke geschätzt. Der Schutz des Gemeinwohls galt als höchste moralische Anforderung, und Machtausübung zu diesem Zweck wurde nicht als unmoralisch verurteilt. Trotzdem wurden die Führenden bald den Her­denin­stink­ten der Mehrheit ausgesetzt und bekamen selbst ein schlechtes Gewissen, wenn sie gegen die Moral der Herde verstießen.

„Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen ...“ (S. 78)

Nachdem nun nach außen hin weitgehend Sicherheit eingetreten ist, erhebt die Herdenmoral nur noch einen Anspruch: Es sollen Zustände herrschen, unter denen man den Nächsten nicht mehr fürchten muss. Das geht so weit, dass man selbst die Bestrafung von Verbrechern ungern sieht – es würde ja genügen, diese Menschen einfach nur ungefährlich zu machen. Gle­ichzeitig wird die Herdenmoral zur einzig wahren Moral erklärt. Die Machtverhältnisse sollen demokratisiert werden, es soll keine Eliten mehr geben und unter den Menschen sollen Brüderlichkeit und Gleichheit herrschen.

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ (S. 82)

Die neuen Philosophen und wirklich freien Geister wissen, dass diese Entwicklung den Menschen in seinen Möglichkeiten einschränkt. Im Grunde wird er dadurch auf die Stufe eines Tieres reduziert, das nur in der Herde angenehm leben kann. Stattdessen muss es aber darum gehen, den Menschen in seiner Höher­en­twick­lung gezielt zu fördern.

Wis­senschaftler und Ar­beit­er­philosophen

Zwischen der Wis­senschaft und der Philosophie hat eine un­gerecht­fer­tigte Rangver­schiebung stattge­fun­den. Die Wis­senschaftler und Gelehrten versuchen sich von der Philosophie als überge­ord­netem Weg zur Erken­nt­n­is­find­ung loszulösen. Die Philosophie wird immer geringer geschätzt. Aber so achtenswert der Beitrag der Wis­senschaftler zur Erken­nt­nis­gewin­nung auch sein mag, sie sind doch nur Zuträger und In­for­ma­tion­sliefer­an­ten für die wahren Philosophen der Zukunft. Ebensolche Werkzeuge für die wahren Philosophen sind „philosophis­che Arbeiter“ wie Hegel oder Kant, die sich nur mit den gegebenen Wertschöpfungen, den temporären Wahrheiten befassen und diese einordnen und in­ter­pretieren. Der wahre Philosoph bedient sich dieser Denker, die von den gegenwärtigen Wer­turteilen versklavt sind, als In­for­ma­tion­squellen. Darüber hinaus hat er als Philosoph der Zukunft aber auch den Mut und den Willen, die gegenwärtige beschränkte Weltsicht zu überwinden und neue Wertmaßstäbe zu setzen.

Die Tugenden der neuen Philosophen

Auch die neuen, wahrhaft freien Geister haben ihre Tugenden, doch diese entsprechen nicht den naiven tra­di­tionellen Vorstel­lun­gen. Der durch­schnit­tliche Mensch will gar keine echte Tugend, sondern nur äußere Maßstäbe, die er allen anderen aufzwingen kann. Es ist im Grunde unmoralisch, die Rangordnung der Moralen nicht anzuerken­nen. Menschen mit höherem Potenzial und damit höheren Aufgaben müssen auch einer höheren Moral folgen. Für sie sind Lust und Leid nur oberflächliche Kriterien; worauf es wirklich ankommt, ist das, was eine Höher­en­twick­lung des Menschen fördert. Mitleid sollte darum auch nicht dem leidenden Menschen gelten (denn er wächst an seinen Leiden), sondern dem Menschen, der zu bequem und unfähig zu einer Weit­er­en­twick­lung ist.

Moral ist heute in Europa Her­den­tier-Moral – also nur, wie wir die Dinge verstehn, eine Art von men­schlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten.“ (S. 105)

Die Emanzi­pa­tions­be­stre­bun­gen der Frauen führen lediglich zu einem Verlust an Weib­lichkeit. Sie werden dadurch ihrer besten Werkzeuge zur Ein­flussnahme beraubt. Gle­ichzeitig leidet ihre Wil­len­skraft. Entsprechend haben bereits die Männer ihre Männlichkeit und Wil­len­skraft verloren. Dabei sind Frauen in ihrer wil­lensstarken Weib­lichkeit durchaus in der Lage, Macht auf Männer auszuüben, wie etwa die Mutter von Napoleon bewiesen hat.

Pa­tri­o­tismus

Die pa­tri­o­tis­chen Exzesse unserer Zeit sind Rückfälle in primitive Denkweisen. Staatsmänner, die diese Gefühlsaufwal­lun­gen für ihre eigenen Zwecke ausnutzen, führen ihre Völker in eine Zukunft, in der diese einem stärkeren Volk dienen und für ihre fehler­haften Ansichten büßen müssen. Die größten Geister Europas, etwa Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal oder Wagner, haben durch ihr Schaffen die Richtung angezeigt, in die Europa sich entwickeln wird: Es ist dazu bestimmt, sich zu vereinen.

„Ihr ,Erkennen‘ ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Geset­zge­bung, ihr Wille zur Wahrheit ist – Wille zur Macht. – Gibt es heute solche Philosophen? Gab es schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben?“ (S. 124)

Was das jüdische Volk anbelangt, so waren die Deutschen ihm noch nie gewogen. Die Juden sind aber die stärkste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt. Man sollte daher ihrem Wunsch, in Europa eine Heimat zu finden, ent­ge­genkom­men und falls nötig lautstarke Antisemiten des Landes verweisen.

Sklaven­moral und Herrenmoral

Die gegenwärtigen Moralvorstel­lun­gen sind das Produkt einer Sklaven­moral. Das Gerede von Selb­st­losigkeit und Mitgefühl und das Streben nach Demokratie entspringen der Angst der Schwachen vor den Starken. Eine solche Moral ist nichts als ein Selb­stschutzbe­streben der Mittelmäßigen.

„Die Demokratisierung Europas ist zugleich eine un­frei­willige Ve­r­anstal­tung zur Züchtung von Tyrannen – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigen.“ (S. 157)

Der vornehme Mensch dagegen ist sich selbst das Gesetz. Er legt die Werte, die für ihn gelten, selbst fest. Das schließt durchaus Pflichten mit ein, es sind aber immer seine persönlichen Pflichten, nicht etwas, was er ve­r­all­ge­mein­ern und damit auch ba­nal­isieren würde. Der vornehme, aris­tokratis­che Mensch ist völlig egoistisch. „Was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich“, so lautet sein Motto. Seine Tugenden sind Mut und Einsicht sowie Einsamkeit, weil er sich mit den Massen nicht sol­i­darisieren will. Auch er kennt Mitgefühl, das aber auf einem tiefen Verständnis der men­schlichen Psyche fußt. Sein Mitgefühl ist mehr wert als das der anderen, weil er die Macht hat, es wirkungsvoll einzusetzen.

„Jede Erhöhung des Typus ,Mensch‘ war bisher das Werk einer aris­tokratis­chen Gesellschaft – und so wird es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Wertver­schieden­heit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgendeinem Sinne nötig hat.“ (S. 177)

Der vornehme Mensch ver­wirk­licht den natürlichen Willen zur Macht, der sich vor allem als Macht über sich selbst äußert: Er praktiziert Selbstüberwindung. Aus dieser Position heraus lehnt er die Gegensätze der Sklaven­moral, die Handlungen in Gut und Böse unterteilt, ab. Wenn er überhaupt Un­ter­schei­dun­gen trifft, dann nur zwischen vornehm und ve­r­acht­enswert. Seine Moral ist eine höhere Moral – eine Moral jenseits von Gut und Böse.

Zum Text

Aufbau und Stil

Jenseits von Gut und Böse besteht aus einer Vorrede und neun „Hauptstücken“ oder Kapiteln, in denen Nietzsche in insgesamt 296 Abschnitten seine oft sprung­haften philosophis­chen Gedanken darlegt. Abgerundet wird das Ganze von einem gedichteten Nachgesang in 15 Versen. Die Titel der Hauptstücke stehen nicht immer in klarem Zusam­men­hang mit den Themen der einzelnen Abschnitte. Jeder Abschnitt präsentiert eigene Gedankengänge, die manchmal auseinander hervorgehen, gele­gentlich aber auch widersprüchlich sind. Das vierte Hauptstück besteht aus kurzen Aphorismen zu einer breiten Auswahl von Themen. Nietzsche zieht alle sprach­lichen Register, sein Stil ist immer kraftvoll, oft bilderreich, gerne auch polemisch. Das garantiert eine erfrischend un­ter­halt­same Lektüre; die ver­schachtelte, stringente, aber trockene Ar­gu­men­ta­tion­sweise, wie man sie von vielen Philosophen kennt, ist nicht Nietzsches Sache. Vielmehr kommt seine Philosophie sehr apho­ris­tisch und dichterisch daher. Der Nachteil: Wer Nietzsches Gedankengänge zu den ver­schiede­nen Themen verfolgen und zu einem Gesamtbild gelangen will, muss in den un­ter­schiedlich­sten Abschnitten seines Werks suchen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Mit dem zum geflügelten Wort gewordenen Buchtitel Jenseits von Gut und Böse meint Nietzsche nicht eine un­moralis­che Lebensweise, sondern ein Leben aufgrund einer höheren Moral, die sich nicht mit simplen Un­ter­schei­dun­gen wie jener zwischen Gut und Böse begnügt. Dass diese höhere Moral allerdings ganz und gar egoistisch ist („jeder Stern ist ein Egoist“), könnte man als grundsätzlich amoralisch kritisieren.
  • Nietzsches Philosophie ist ein Angriff auf Christentum und Demokratie: Er stellt die elitäre Herrenmoral der kon­ven­tionellen, von pla­tonisch-christlichen Werten geprägten Sklaven­moral gegenüber, deren Haupt­funk­tion er darin sieht, die Starken und wirklich freien Geister in ihrer Höher­en­twick­lung zu hindern und alle in gleicher Mittelmäßigkeit gefangen zu halten.
  • Nietzsche geizt nicht mit Zeitkritik; er stößt sich an der pos­i­tivis­tis­chen Wis­senschaft ebenso wie an der Frauen­e­manzi­pa­tion. Jenseits von Gut und Böse ist damit das Gegenstück zum vo­r­ange­gan­genen, positiven Verkündungsbuch Also sprach Zarathustra.
  • Nietzsche nimmt eine Neube­w­er­tung vieler Werte vor. Das Leiden z. B., das die Menschen gewöhnlich zu vermeiden suchen, sieht er als eines der wertvoll­sten Werkzeuge zur Weit­er­en­twick­lung des Menschen. Mitleid hingegen hält er in den meisten Fällen für verlogen.
  • Obwohl Jenseits von Gut und Böse zweifellos einen amoralis­chen Kern hat, lassen sich Nietzsche weder die grobe Vere­in­fachung noch der Missbrauch seiner Lehren anlasten. Eine Mitschuld an den Verbrechen der Nazis z. B. kann man ihm kaum geben: Nietzsche spricht sich gerade in diesem Werk ausdrücklich gegen blinden Pa­tri­o­tismus und Massen­be­we­gun­gen aus und warnt davor, dass die demokratis­che Bewegung einer bestimmten Art von Tyrannen den Aufstieg ermöglichen würde.

His­torischer Hintergrund

Europa am Fin de Siècle

Ende des 19. Jahrhun­derts blickte Europa auf eine Epoche tief greifender Veränderungen zurück. In der Philosophie hatte das Primat der Rationalität über menschliche Instinkte und Lei­den­schaften zu einer wis­senschaftlichen Methodik geführt, die ungeahnte Fortschritte in Forschung, Technik und Medizin einleitete. Eine Folge davon war die in­dus­trielle Revolution. Im gleichen Maß, in dem die menschliche Produktivität erhöht wurde, wuchsen aber auch die sozialen Missstände. Es kam nicht nur zu einem technischen Umbruch, sondern auch zu einem sozialen und politischen.

In Deutschland etwa sah die Re­ichsver­fas­sung von 1871 zum ersten Mal allgemeine und gleiche Wahlen für den geset­zgeben­den Reichstag vor. Die Autorität des deutschen Kaisers wurde beschränkt: Er war zwar das offizielle Staat­sober­haupt und der Ober­be­fehlshaber der Streitkräfte und konnte den deutschen Re­ich­skan­zler ernennen oder ablösen, der Großteil der Entschei­dungs­macht lag aber beim vom Volk gewählten Parlament. Re­ich­skan­zler Otto von Bismarck suchte zwar die Monarchie zu stärken, sah sich aber auch gezwungen, der Forderung der Ar­beit­er­be­we­gung nach einer Sozialge­set­zge­bung nachzukom­men.

Sowohl das liberale Bürgertum, das weitgehend die Mittel der in­dus­triellen Produktion kon­trol­lierte, als auch die Ar­beit­er­schaft, der mit­tler­weile kom­mu­nis­tis­che und sozialdemokratis­che Or­gan­i­sa­tio­nen zur Seite standen, forderten verstärkt Mit­spracherechte. Das Resultat war eine zunehmende Auflösung der früher strikten Ständege­sellschaft und ein In­fragestellen der tra­di­tionellen Eliten.

Entstehung

Die Saat für das Gedankengut, das Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse zum Ausdruck brachte, findet sich schon sehr früh in seinem Leben. Nietzsche war gerade einmal vier Jahre alt, als er vergeblich für seinen an einem Gehirntumor sterbenden Vater betete, einen lutherischen Pastor. Seine tiefe Skepsis gegenüber dem Christentum könnte hier ihren Ursprung haben. Später besuchte er die Lan­dess­chule Pforta, eine der damals besten sächsischen Schulen, dessen Rektor ein Bil­dungsideal vertrat, das auf der Förderung von Eliten und der Stärkung des Individuums beruhte.

Bereits vor Jenseits von Gut und Böse setzte Nietzsche sich in seinem Buch Morgenröte kritisch mit den tra­di­tionellen Moralvorstel­lun­gen seiner Zeit auseinander. Ursprünglich wollte er sein neues Buch als zweiten Band der Morgenröte veröffentlichen. Nietzsche selbst beze­ich­netet das 1884/85 verfasste Werk als „ein er­schreck­liches Buch, sehr schwarz, beinahe Tintenfisch“. Es war aber die natürliche Fortsetzung vieler Gedankengänge, die er schon in seinen ersten Werken angeschnit­ten hatte. Typisch für Nietzsche war, dass er alte Ideen aufgriff, ihnen aber eine neue Wendung gab und gle­ichzeitig die Gelegenheit nutzte, seine früheren Vorstel­lun­gen und Gedanken auf den Prüfstein zu stellen.

Nietzsche hatte einen langfristi­gen Plan für das, was er als Philosoph noch ver­wirk­lichen wollte. Jenseits von Gut und Böse war für ihn nur ein Schritt hin zu diesem Endziel. Wahrschein­lich weil er sich selbst des relativ losen Zusam­men­hangs des Werkes bewusst war, legte er 1887 mit der Stre­itschrift Zur Genealogie der Moral ein strin­gen­teres und ziel­gerichteteres Werk nach.

Wirkungs­geschichte

Jenseits von Gut und Böse hatte geringfügig bessere Verkauf­szahlen als viele andere Werke Nietzsches, deren Druck er meist mit eigenem Geld unterstützte. Er­staunlicher­weise blieben aber auch bei diesem Werk sowohl Zu- als auch Widerspruch weitgehend aus. Zu Lebzeiten wurde Nietzsche hauptsächlich ignoriert. Er selbst hatte so etwas erwartet: „Posthume Menschen – ich zum Beispiel – werden schlechter verstanden als zeitgemäße, aber besser gehört. Strenger: Wir werden nie verstanden – und daher unsre Autorität ...“, schrieb er in der Götzen-Dämmerung.

Er sollte Recht behalten: Mit­tler­weile gilt Nietzsche als entschei­dende In­spi­ra­tionsquelle für die Denker und Dichter der klassischen Moderne ebenso wie für jene der Postmoderne. Sein Einfluss auf die neuere Kunst, Literatur und Philosophie ist einzigartig. Nietzsche war sich seiner langfristi­gen Wirkung anscheinend durchaus bewusst, denn in Ecce Homo di­ag­nos­tizierte er: „Ich bin kein Mensch. Ich bin Dynamit.“

Über den Autor

Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protes­tantismus des El­tern­hauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem un­kon­ven­tionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkol­le­gen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Be­tra­ch­tun­gen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopen­hauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Fre­und­schaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, u. a. wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Men­schliches, Al­lzu­men­schliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopen­hauer ab. 1879 gibt er wegen einer drama­tis­chen Ver­schlechterung seines Gesund­heit­szu­s­tands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Au­gen­schmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesund­heitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufen­thal­ten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wis­senschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusam­men­bruch: Aus Mitleid mit einem geschla­ge­nen Droschken­gaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicher­weise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine un­abgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen der Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaf­fen­sphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigen­willige Au­to­bi­ografie, die 1908 erscheint.