Zur Genealogie der Moral

Buch Zur Genealogie der Moral

Eine Streitschrift

Leipzig, 1887
Diese Ausgabe: Insel,


Worum es geht

Der Sklave­nauf­s­tand in der Moral

Zur Genealogie der Moral ist eine Art Komplementärband zu dem von vielen als unge­heuer­lich empfundenen Ni­et­zsche-Werk Jenseits von Gut und Böse. Wieder wetzt der Pfar­rerssohn die sprachliche Klinge, um seinem Lieblings­feind zu Leibe zu rücken: dem Christentum. Genealogie bedeutet Ah­nen­forschung. So sucht Nietzsche nach dem Ursprung der Moral sowie dem ihres elementaren Be­griff­s­paares „Gut und Böse“ und stellt die Wer­taus­sagen der abendländischen Moral­philoso­phie auf den Kopf. Für ihn ist Moral schlicht ein Mittel der Machtausübung. 2000 Jahre lang lag demnach die moralische Deu­tung­shoheit bei den Vertretern der christlichen und der jüdischen Religion. Sie verkehrten die antike Vorstellung vom edlen und guten Her­ren­men­schen und vom schlechten Pöbel ins Gegenteil: Die Elenden, Armen und Geknechteten wurden zu den Guten, und die herrschende Klasse stellte fortan die Bösen. Von dieser umgestülpten Hierarchie hält der streitbare Philosoph natürlich nichts; was ihm stattdessen vorschwebt, sagt er aber – zumindest hier – nicht. Die Genealogie ist grundlegend für das Verständnis von Nietzsches Spätwerk: Sie versammelt die wichtigsten Ideen seines Gedankengebäudes und bringt sie auf den Punkt.

Take-aways

  • Zur Genealogie der Moral ist eines von Nietzsches ein­flussre­ich­sten Werken.
  • Inhalt: Moral ist nichts anderes als ein Ausdruck des Willens zur Macht. Die Moralvorstel­lun­gen von Gut und Böse entspringen einer „Sklaven­moral“, die die Ausbreitung einer „Herrenmoral“ vereitelt hat. Christliche Wertvorstel­lun­gen, darunter das schlechte Gewissen, die Schuld und das asketische Ideal, beruhen auf einem Ressen­ti­ment der Sklaven gegen ihre Herren und warten auf ihre Überwindung und Ablösung.
  • Nietzsches Versuch, die Moral von ihrer Geschichte (Genealogie) her zu beschreiben, zielt auf ihre Zertrümmerung.
  • Nietzsche verstand das Buch als Ergänzung zu Jenseits von Gut und Böse. Auch in diesem Werk zieht er über das Christentum und die Demokratie her.
  • Anders als in anderen, oft apho­ris­tis­chen Schriften bemüht sich Nietzsche um eine sys­tem­a­tis­che, stringente Ar­gu­men­ta­tion.
  • Wie die von ihm geforderte „Umwertung der Werte“ erfolgen soll, hat Nietzsche of­fen­ge­lassen.
  • Das erste Manuskript entstand innerhalb weniger Wochen; Nietzsche musste jeden Freiraum nutzen, den ihm seine zahlreichen Krankheiten erlaubten.
  • Von Zeitgenossen missachtet, bee­in­flusste die Abhandlung postmoderne Denker wie Foucault und Bourdieu, aber auch die Nazis.
  • Sigmund Freud griff in Das Unbehagen in der Kultur das Thema der Entstehung des Gewissens aus der Unterdrückung fun­da­men­taler Triebe auf.
  • Zitat: „Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen.“
 

Zusammenfassung

Der Mensch kennt sich nicht

Woher kommt der Mensch? Wer sind wir? Wir haben nie ausreichend nach uns gesucht und uns daher auch noch nicht gefunden. Was wir erleben, nehmen wir nicht richtig wahr. So bleibt uns ein großer Schatz der Erkenntnis verborgen. Wer hingegen reflektiert und Zusammenhänge begreift, dem erschließt sich das eigene Leben und Handeln sowie das Dasein in seiner Gesamtheit. Dabei müssen wir Gedanken und Werte, Zweifel und Entschei­dun­gen gleichermaßen einbeziehen und ihre Wech­sel­wirkung un­tere­inan­der verstehen lernen.

„Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: Das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehen, dass wir eines Tages uns fänden?“ (S. 9)

Aus­gangspunkt ist die Moral: Woraus ist sie entstanden? Wie hat sie sich entwickelt und verändert? Worauf gründen Begriffe wie „gut“, „böse“, „schlecht“ oder „Schuld“? Welchen Wert haben moralische Urteile für die Menschen? Wie haben sie uns beeinflusst? Der Geschichte bzw. der Genealogie der Moral soll in drei Ab­hand­lun­gen nachge­gan­gen werden. Anders aber als etwa bei Schopen­hauer, dessen Analyse der Moral in den Nihilismus führte, steht hier das Gegenteil im Vordergrund: Die Kritik der moralischen Werte und die Hin­ter­fra­gung ihrer Herkunft soll zu ganz neuen Erken­nt­nis­sen führen. Es ist eine Reise in ein fernes Land, das es erst noch zu entdecken gilt. Um es wirklich zu verstehen, ist genaues Lesen notwendig. Der moderne Mensch muss sich darum der Kuh annähern und lernen, wiederzukäuen.

Sklaven­moral und Herrenmoral

Ver­schiedene Denker haben sich mit der Herkunft der Vorstellung von Gut und Böse befasst, aber sie haben dabei den Bezug zur Historie sträflich vernachlässigt. So haben sich die Überlegungen bis dato lediglich um psy­chol­o­gis­che Aspekte oder persönliche Erfahrungen gedreht, z. B.: Ist gut, was zugleich nützlich und zweckmäßig ist? Außer Acht gelassen wurde aber die et­y­mol­o­gis­che Herkunft der Wörter, in der deutschen wie auch in ver­schiede­nen anderen Sprachen. Einst stand das Wort „gut“ in Verbindung mit „edel“ bzw. „adlig“, was bedeutet, dass es sich um einen Begriff ständischen Ursprungs handelt. Zwar gab es Be­deu­tungsnu­an­cen, aber das Wort hatte stets mit der politischen Stellung und dem Verhältnis der Menschen un­tere­inan­der zu tun.

„Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: Wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen (...) (S. 14)

Die Ignoranz dieser eigentlichen Herkunft des Wortes ist typisch für die Moderne, die die Suche nach Wurzeln eher hemmt. Sie musste deshalb zwingend zu völlig falschen Rückschlüssen bei der In­ter­pre­ta­tion von „gut“ und „böse“ bzw. „schlecht“ gelangen. Denn es ist eben genau der historische Hintergrund, der überhaupt erst zu diesen Urteilen und den damit verbundenen Werten führt. Diese Vorstel­lun­gen haben ihren Ursprung in der „Herren-“ und der „Sklaven­moral“, die die Zivil­i­sa­tion maßgeblich beeinflusst haben und bis heute von Bedeutung sind. Diese beiden moralischen Denkweisen haben die Wörter und ihre In­ter­pre­ta­tion geprägt: Die Priv­i­legierten empfanden als gut, was edel, vornehm und mächtig war – wie sie selbst –, während sie niedrigere Menschen als schlecht ansahen; „schlecht“ bedeutete „gemein“ und „schlicht“.

Von „Gut und Schlecht“ zu „Gut und Böse“

Die „Sklaven“, die Armen und Un­ter­priv­i­legierten, for­mulierten den gleichen Gegensatz, aber aus einer Grund­hal­tung der Emotionalität und des Ressen­ti­ments heraus: Als „böse“ (anstelle von „schlecht“) beze­ich­neten sie, wer ihr Feind war, ihr Leben beeinträchtigte oder sie ihrer Freiheit beraubte. Im Unterschied dazu sahen sie sich selbst als „gut“. Beide Moralvorstel­lun­gen und Werteskalen basieren auf Standesun­ter­schieden. Jedoch nahmen die „Herren“ ihr Gutsein aktiv für sich selbst in Anspruch und freuten sich an ihrer Stärke, während die „Sklaven“ mit ihrem Begriff „böse“ nur auf ihre Unterdrückung reagierten und ihre Un­ter­legen­heit kom­pen­sieren wollten.

„Das Pathos der Vornehmheit und Distanz (...) einer höheren herrschen­den Art im Verhältnis zu einer niederen Art, zu einem ‚Unten‘ – das ist der Ursprung des Gegensatzes ‚gut‘ und ‚schlecht‘.“ (S. 20)

Die „Herrenmoral“ fand ihren Nieder­schlag vor allem im Römischen Reich, zur Zeit der Renaissance und während Napoleons Re­gentschaft. Die „Sklaven­moral“ – verbunden mit Rachegefühlen, Hass und Aufstand – dominierte das Juden- und das Christentum. Welche Moralsicht hat let­z­tendlich gesiegt? In der Rückschau überwiegt, nach einem langen, 2000-jährigen Kampf, die pöbelhafte „Sklaven­moral“. Deren Früchte sind eine uner­messliche Liebe für die Armen, Schwachen und selbst die Sünder. Die Sklaven­moral überwand Hass und Rache und spendete Hoffnung auf Gerechtigkeit. Die Begriffe „gut“ und „böse“ erhielten ihre bis heute gültige Bedeutung.

Ein Tier, das versprechen darf

Worin un­ter­schei­det sich der Mensch vom Tier? Nicht zuletzt darin, dass er über ein außergewöhnliches Gedächtnis verfügt. Dem verlangt er einiges ab: etwa die Fähigkeit, etwas zu versprechen oder Ve­r­ant­wor­tung zu übernehmen. Allerdings bringt dasselbe Gedächtnis auch das Vergessen mit sich. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein vordergründiges Versagen, sondern um ein positives Hem­mungsvermögen: Es geht darum, das Unwichtige vom Wichtigen zu un­ter­schei­den, mit dem Ziel, genug Raum für Neues zu schaffen. Nur wer mit etwas fertig wird, hat genug Kraft, seinen eigenen Willen zu finden und zu festigen. Dieser eigene Wille wiederum kreiert ein souveränes, berechen­bares Individuum, das aufgrund seiner Fähigkeiten versprechen darf. So ein freier Mensch trägt in seinem Willen auch einen Wertemaßstab, mit dem er einerseits seine Umwelt spiegelt, sie verachtet oder ehrt, und an­der­er­seits seine persönliche Stärke und Verlässlichkeit einordnet. Er entwickelt also ein Gewissen gegenüber dem eigenen Handeln.

Die Schuld und der Wille zur Macht

Wie hat sich die Ordnung in der Gesellschaft entwickelt? Mittels Schmerz und Strafe wurde sie den Menschen eingebrannt. Mit jedem neuen Machthaber und jeder neuen Ideologie wurden neue Strafen erfunden. Die Härte der Strafge­setze zeigt, dass keine Mühen und Grausamkeiten gescheut wurden, um aus dem plumpen Pöbel ein Volk von Denkern mit asketischen Idealen zu züchten. Die Wirkung blieb nicht aus: Die Bestraften begriffen ihre „Schuld“ und hatten ein schlechtes Gewissen.

„Der Sklave­nauf­s­tand in der Moral beginnt damit, dass das Ressen­ti­ment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert (...)“ (S. 30)

Woher aber kommt der Begriff der Schuld? Ursprünglich hatte er eine rein materielle Bedeutung: Schuld lud auf sich, wer Schulden gegenüber einem Gläubiger hatte, wer also ein Ver­tragsverhältnis gebrochen hatte, das auf einem Versprechen basierte. So kam es zu Schäden für den Gläubiger und in der Folge zur Bestrafung des Schuldners, bei der dem Gläubiger – statt eines adäquaten Ausgleichs an Geld oder Land – zumindest das Wohlgefühl zugestanden wurde, seine Macht auszukosten. Zu Zeiten dieses Her­ren­rechts schämte sich niemand seiner Grausamkeit, die – wie überhaupt der Wille zur Macht – zu den ureigensten Charakterzügen der Menschen zählt. In dieser Zeit entstanden die moralischen Begriffe „Schuld“, „Pflicht“, „Verpflich­tung“ und „Gewissen“.

Die Zivil­i­sa­tion und das schlechte Gewissen

Erst mit zunehmendem Einfluss der Masse rel­a­tivierte sich das Ausmaß von Strafe und Rache, hielten Milde und Gerechtigkeit Einzug. Ebenso gelangte man zu der Erkenntnis, dass Strafe bei allem körperlichen oder seelischen Schmerz auch klug macht, da aus ihr Lehren für ein besseres, bewussteres Handeln zu ziehen sind. Das schlechte Gewissen, das Gefühl für Recht und Unrecht und das Wissen um Pflichterfüllung oder Wortbruch en­twick­el­ten sich unter dem Druck, in einer immer or­gan­isiert­eren Gesellschaft zu leben, sich nach ihren veränderten Regeln und Maßstäben richten zu müssen. Da war kein Platz mehr für natürliche, ursprüngliche Instinkte. Die Folge: Der Mensch bekam ein schlechtes Gewissen, kehrte seine Ag­gres­sio­nen nach innen und richtete sie gegen sich selbst.

Asketische Ideale der Künstler und Philosophen

Asketische Ideale wie etwa die Keuschheit speisen sich aus un­ter­schiedlichen Ideologien, die den Menschen dazu anhalten, streng und enthaltsam nach nur einer einzigen Idee zu leben. Die Grun­dan­nahme: Jeder Mensch braucht ein Ziel. Solche Ideale waren jedoch nicht ausschließlich Sache der Politiker. Auch andere ver­her­rlichten die Askese, etwa der Komponist Richard Wagner, der mit seiner Oper Parsifal die Keuschheit feierte, im Gegensatz zur von Martin Luther erkämpften Sinnlichkeit. Ein­flussre­icher noch als die Künstler waren die Philosophen: Sie propagierten jene Ideale, die Vo­raus­set­zung für ihre geistige Tätigkeit waren, wobei sie vor allem eigene Interessen wie die Gedanken­frei­heit verfolgten.

Die Rolle der Priester

Besonders viel Wert auf Entsagung und Geistigkeit haben immer schon die Priester gelegt; sie suchten ihre Erfüllung im Glauben. Darin fanden sie nicht nur ihre asketischen Ideale, sondern auch all ihre Interessen, ihren Willen und ihre Macht. Sie leiteten ihr Da­sein­srecht aus göttlichen Idealen ab, diese dienten ihnen als Mittel und Erlaubnis zur Macht.

„Ein Tier heranzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat?“ (S. 48)

Askese bedeutet Verneinung des Lebens. Der Asket versucht auf diese Art – para­dox­er­weise –, seinem ansonsten un­zure­ichen­den Dasein einen Sinn abzugewin­nen. Da dieser Sinn aber höchst zweifelhaft ist, hatten die Priester eine große Chance, zu Leitfiguren zu werden: Als Hirten vieler gescheit­erter Existenzen ver­mit­tel­ten sie Zuversicht und veränderten die Sichtweise auf die Welt. Sie verkörperten die Nächstenliebe, or­gan­isierten ihre Herde und weckten ein Gemein­schafts­gefühl. Das war umso wichtiger, als es besonders die Gescheit­erten und Unglücklichen waren, die das Vertrauen zum Leben und zu den Menschen verloren hatten und die das Vertrauen der anderen mit ihren ungezügelten Ressen­ti­ments vergifteten. Die Resultate der priester­lichen Arbeit lassen allerdings zu wünschen übrig: Sie endete in Hysterien, De­pres­sio­nen, Epidemien und Hex­en­ver­fol­gun­gen, sie verdarb die seelische Gesundheit und den Geschmack der Menschen.

Kann die Wis­senschaft die Askese überwinden?

Wie steht es um die Wis­senschaftler, die sich selbst als gottlos sehen und strikt auf ihre eigene Wirk­lichkeit­sphiloso­phie bedacht sind? Vielleicht liegt in diesen Ungläubigen, die als eine Art Gegenide­al­is­ten auftreten, die rettende Wahrheit?

„Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen (...)“ (S. 52)

Der Aufstieg der Wis­senschaftler und Gelehrten geschieht in einer Zeit des Niedergangs, dessen sonstige Symptome Demokratie, Schieds­gerichte und Gle­ich­berech­ti­gung der Frauen sind. Das Misstrauen gegenüber allen Gläubigen und ihren Idealen führt zwingend zu dem Schluss, dass der Glaube zwar selig macht, aber dennoch täuscht, weil er Be­weis­barkeit ausschließt – und das gilt auch für den Glauben und den Idealismus der Wis­senschaftler. Diese geben sich als Herren über die asketischen Ideale aus und sind doch nicht besser. Gerade sie mit ihrem in­tellek­tuellen Anspruch sind es heute, die ein Gewissen haben, weil sie als freie Geister nach Wahrheit streben. Sie sind die Einzigen, die derzeit wirklich ein eigenes Ziel vor Augen haben. Indem sie die bewährten asketischen Ideale ablehnen, an ihnen rütteln und neue Ziele vorgeben, verkörpern sie wahrschein­lich sogar das bisher perfekteste Abbild eines asketischen Ideals. Auch das könnte man wis­senschaftlich untersuchen, aber dazu mangelt es der Wis­senschaft noch an Selb­st­be­wusst­sein und Erfahrung. Deshalb liefert auch diese Zunft noch keine be­friedi­gende Lösung für die Überwindung des asketischen Ideals.

Der Aufstieg des Nihilismus

Vor der Zeit der asketischen Ideale war die Frage nach dem Sinn des Daseins und dem des Leidens un­beant­wortet. Das Leiden an sich war für die Menschen nie ein Problem, die Frage danach, wofür man leidet, aber sehr wohl. Das asketische Ideal mit seiner Weltvernei­n­ung, seinem Abscheu vor der Sinnlichkeit und seinem Hass auf alles Menschliche gab schließlich eine Antwort und einen Sinn, es gab dem Willen des Menschen wieder eine Richtung. Darauf basierte die Macht des asketischen Ideals.

„Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen – dies ist das, was ich die Verin­ner­lichung des Menschen nenne: Damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ‚Seele‘ nennt.“ (S. 76)

Letztlich war aber bisher kein Ideal wirklich geeignet, um den Menschen ausreichend Sinn zu geben. Wer sich heute für „gut“ hält, ist verblendet von zu viel Moral, die den Blick auf das Wesentliche verschließt. Dass dieser Tage der Nihilismus immer mehr Terrain erobert, ist aufgrund des Scheiterns des asketischen Ideals kein Wunder: Es fehlt schlech­ter­d­ings an besseren Idealen. Der Mensch hat aber grundsätzlich einen Willen, den er in eine Richtung lenken muss: Eher will er das Nichts, als dass er gar nichts will.

Zum Text

Aufbau und Stil

Zur Genealogie der Moral besteht aus einer Vorrede und drei Ab­hand­lun­gen: Die erste erläutert die Be­griff­s­paare „Gut und Böse“ bzw. „Gut und Schlecht“, die zweite behandelt u. a. die Schuld und das schlechte Gewissen, die dritte geht der Frage nach, was asketische Ideale bedeuten. Im Gegensatz zu vielen seiner anderen Schriften bemüht sich Nietzsche hier um einen sys­tem­a­tis­chen, stringent ar­gu­men­tieren­den Text und verzichtet größtenteils auf die für ihn üblichen Aphorismen. Dass eine aggressive Stre­itschrift aber nicht objektiv sein kann, ist ihm durchaus bewusst. „Die drei Ab­hand­lun­gen, aus denen diese Genealogie besteht, sind vielleicht in Hinsicht auf Ausdruck, Absicht und Kunst der Überraschung das Un­heim­lich­ste, was bisher geschrieben worden ist“, sagte er rückblickend in seiner Biografie Ecce homo. Mal nimmt sich Nietzsche stark zurück und zwingt sich zur Objektivität, mal verblüfft er mit Vergleichen von lyrischer Qualität, dann wieder braust er regelrecht auf und rattert seine Argumente im Stakkato herunter.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Nietzsche liefert keine Moralthe­o­rie, sondern eine Moralkritik: Er fragt nicht danach, wie die Menschen handeln sollen, sondern lediglich nach der En­twick­lungs­geschichte der Moral. Untersucht werden die Gründe dafür, warum die Menschen glauben, so oder anders handeln zu müssen.
  • Nietzsches Methode besteht darin, gängige Moralvorstel­lun­gen auf ihren wahren Kern hin zu untersuchen. Das Ziel dieser his­torisch-et­y­mol­o­gis­chen Vorge­hensweise: die herge­brachten Werte als zweifelhaft und verlogen zu entlarven und sie damit zu demontieren.
  • Nietzsche sieht die Moral als Herrschaftsin­stru­ment. Die Un­ter­schei­dung von Gut und Böse, von Gut und Schlecht hat seiner Meinung nach keine ethische Grundlage, sondern beruht auf dem Willen, eine bestimmte Ideologie zu verankern. Hinter den moralischen Be­stre­bun­gen der Priesterkaste etwa sieht er deren „Wille zur Macht“.
  • Viele der in Jenseits von Gut und Böse bereits vorge­brachten Themen werden in der Genealogie vertieft. Nietzsches An­griff­sziele bleiben dieselben: Er schießt vor allem gegen das Christentum, die Demokratie und das Mitleid.
  • Nietzsches Un­ter­schei­dung zwischen „Herren- und Sklaven­moral“ wurde als hochgradig reaktionäres Gesellschaftsverständnis in­ter­pretiert. Tatsächlich prangert er in späteren Schriften so ziemlich jede Entwicklung der Moderne – Sozialismus und Anarchismus ebenso wie Nihilismus – als dekadente En­twick­lun­gen an. Nur die „Umwertung aller Werte“ könne dagegen helfen. Wie er sich diese vorstellte, darüber rätselt man allerdings heute noch.
  • Ein zentraler Begriff in der Genealogie ist das Ressen­ti­ment, also der versteckte Groll. Es ist für Nietzsche die Keimzelle der „Sklaven­moral“: Weil die Sklaven gegen ihre Herren nicht aufbegehren könnten, lebten sie permanent mit heimlichen Rachegefühlen – deren Einlösung sie z. B. im Christentum dem Jenseits oder der göttlichen Rache anvertrauen.
  • In der dritten Abhandlung über das asketische Ideal zeigt sich Nietzsche auch als Wis­senschaftsskep­tiker. In ihrem pos­i­tivis­tis­chen Eifer, der nichts als Tatsachen gelten lasse, sei die Wis­senschaft nicht Überwinderin, sondern Vollenderin des asketischen Ideals.

His­torischer Hintergrund

Die Moral­philoso­phie und ihre Werte

Während sich die Moralthe­olo­gie auf kirchliche Glaubenssätze stützt, versucht die Moral­philoso­phie oder Ethik ver­nun­ft­basierte Gesetze aufzustellen, die ein „höchstes Gut“ bewahren sollen. Es lässt sich zwischen Gesinnungs- und Ve­r­ant­wor­tungsethik un­ter­schei­den. Erstere fragt nach dem Zweck einer Handlung: Ist der Zweck gut, dann heiligt er die Mittel. Letztere macht die Folgen einer Tat zum Maßstab moralischen Handelns. Die Geschichte der abendländischen Moral­philoso­phie beginnt bei Sokrates und seinem Schüler Platon. Beide glaubten an ein moralisches Ideal, das der Mensch niemals erreichen könne, wohl aber anstreben solle. Diesem sittlichen Ideal ent­ge­genge­setzt war der Epikureis­mus (abgeleitet vom griechis­chen Philosophen Epikur), der den persönlichen See­len­frieden und die Lust als er­strebenswerte Ideale ansah. In der Neuzeit verlagerte die Moral­philoso­phie ihren Fokus von einer in­di­vidu­ellen Moral hin zu einer Sozialmoral; es galt, das Zusam­men­leben der Menschen zu stärken und den bürgerlichen Rechtsstaat zu sichern. Die Util­i­taris­ten des 19. Jahrhun­derts, unter ihnen David Hume, John Stuart Mill und Jeremy Bentham, stellten das „größtmögliche Glück“ (als Summe des Glücks aller Menschen) ins Zentrum. Einen Höhepunkt der modernen Sittenlehre bildete die Ethik des deutschen Philosophen Immanuel Kant. Seine Morallehre gründete auf der men­schlichen Freiheit und dem kat­e­gorischen Imperativ: Richtige Handlungen folgen demnach einer Maxime, die uni­ver­sal­isier­bar ist.

Entstehung

Die Kritik an moralischen Lehren zieht sich durch das ganze Werk Nietzsches. Als er im Sommer 1887 daranging, die Genealogie zu verfassen, fühlte er sich – wie seine Briefe nahelegen – in­tellek­tuell und menschlich zunehmend isoliert. Auf seine bisherigen Schriften hatte er kaum Resonanz erhalten, die Zahl der Freunde schmolz dahin. Der plötzliche Tod des see­len­ver­wandten Universitätsrektors Heinrich von Stein im Juni 1887 traf Nietzsche besonders schwer. Seine zerrüttete Gesundheit und der Druck, endlich ein zusammenhängendes und bedeutendes Werk zu verfassen, trieben ihn zur Verzwei­flung. Nietzsche las diverse Philosophen, beschäftigte sich mit der Geschichte der Zivil­i­sa­tion in England von Henry Thomas Buckle und mit Ernest Renans Das Leben Jesu. Eine besondere Bedeutung hatte das Buch Der Ursprung der moralischen Empfind­un­gen seines ehemaligen Freundes und späteren Rivalen Paul Rée: Nietzsche entwickelte die Kernideen der Genealogie in Opposition dazu.

Dem dänischen Philosophen Georg Brandes, der eine Vorlesung über Nietzsche halten wollte, erklärte dieser, dass er das Werk am 30. Juli an seinen Verleger geschickt habe. In dieser Phase hatte sich seine Gesundheit vorübergehend sta­bil­isiert; er konnte die gewonnene Zeit fürs Schreiben nutzen. Allerdings gab Nietzsche den Druck­auf­trag bereits, als er noch an Ergänzungen arbeitete. Er verwies darauf, dass er weitere Ab­hand­lun­gen und eine Art Zusam­men­fas­sung seiner Moralkritik vorlegen wollte, diese wurden jedoch unter anderem Titel und erst im Kontext weiterer Werke realisiert. Am 12. November kündigte er die ersten, auf eigene Kosten gedruckten Exemplare der Genealogie an. Die Startauflag lag bei 600 Stück.

Wirkungs­geschichte

Nietzsches Wirkung setzte auf breiter Ebene erst relativ spät ein. Er selbst bezeichnete sich in der Götzen-Dämmerung als „posthumen Menschen“, der erst nach seinem Tod Bewunderung und Anerkennung ernten würde. So war es auch: Während sein Werk zu Lebzeiten unter deutschsprachi­gen In­tellek­tuellen kaum Beachtung fand, hatte es später großen Einfluss nicht nur auf die Philosophie, sondern auch auf Kunst, Psychologie und Literatur. Die Genealogie rief ein fragwürdiges Echo hervor. Vor allem die Begriffe „Herrenmoral“ und „Sklaven­moral“, getoppt mit der Beschrei­bung einer Herrenrasse „blonder Bestien“, führte zur ide­ol­o­gis­chen Vere­in­nah­mung Nietzsches durch die Na­tion­al­sozial­is­ten. Das war wohl kaum die Zielgruppe, die Nietzsche im Auge hatte, als er schrieb: „Dies Buch, mein Prüfstein für das, was zu mir gehört, hat das Glück, nur den höchst­gesin­nten und strengsten Geistern zugänglich zu sein: dem Reste fehlen die Ohren dafür.“ Abgesehen von der In­stru­men­tal­isierung seiner Antimoral durch den Faschismus waren viele Teile der Schrift auch im positiven Sinn eine In­spi­ra­tionsquelle für bedeutende Denker der Moderne. Sigmund Freud griff beispiel­sweise die Entstehung des Gewissens aus der Unterdrückung fun­da­men­taler aggressiver Triebe auf und widmete dem Thema die Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930). Nietzsches Beschrei­bung des Ressen­ti­ments führte zu Max Schelers Das Ressen­ti­ment im Aufbau der Moralen (1915). Die postmoderne französische Philosophie, ins­beson­dere in den Personen Michel Foucault und Pierre Bourdieu, verdankt Nietzsches Genealogie ebenfalls wichtige Anregungen.

Über den Autor

Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protes­tantismus des El­tern­hauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem un­kon­ven­tionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkol­le­gen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Be­tra­ch­tun­gen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopen­hauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Fre­und­schaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, u. a. wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Men­schliches, Al­lzu­men­schliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopen­hauer ab. 1879 gibt er wegen einer drama­tis­chen Ver­schlechterung seines Gesund­heit­szu­s­tands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Au­gen­schmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesund­heitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufen­thal­ten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wis­senschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusam­men­bruch: Aus Mitleid mit einem geschla­ge­nen Droschken­gaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicher­weise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine un­abgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen der Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaf­fen­sphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigen­willige Au­to­bi­ografie, die 1908 erscheint.