Die Ordnungen der Ordnung
Egal ob im Supermarkt, im Baumarkt oder in der Buchhandlung, überall herrscht penible Ordnung, damit man leicht findet, was man sucht. Wer genau weiß, was er will, braucht nicht lange danach zu suchen. Etwas schwieriger wird es für diejenigen, die sich erst mal umsehen möchten oder eher vage Vorstellungen haben. Im Buchladen etwa finden Sie ein bestimmtes Werk von Jane Austen ziemlich leicht, nämlich bei den klassischen Romanen ganz vorne bei A. Wenn Sie den Verkäufer aber nach einem Titel zum amerikanischen Bürgerkrieg fragen, schickt er Sie möglicherweise zu den Regalen mit Sachbüchern, Romanen und Biografien, und da können Sie dann selbst suchen. Nach Interessensgebieten zu sortieren ist nicht so leicht – es gibt einfach zu viele.
„Die Welt ist zu mannigfaltig, als dass ein einziges Klassifikationssystem jederzeit für alle Menschen in allen Kulturen funktionieren könnte.“
Das wirft die Frage auf, wie wir etwas ordnen, nach welchen Gesichtspunkten, mit welcher Methode. Die erste Ordnung der Ordnung ist, die Dinge einfach aufzuräumen: Bücher in den Schrank, Essen in den Kühlschrank und Fotos in Alben. Bei großen Mengen, wie beispielsweise einem Archiv mit Millionen von Fotos und Negativen, ist das natürlich nicht das Mittel der Wahl, hier kann man nur mit der zweiten Ordnung der Ordnung den Überblick behalten, mit einer Kartei nämlich. Die Menge an Informationen ist dabei aber begrenzt. Will man beispielsweise ein Foto von einem Soldaten unter den Schlagworten „Soldat“, „Bürgerkrieg“ und „Gewehr“ katalogisieren, braucht man schon drei Karteikarten für ein einziges Foto – und je nach Bild sind deutlich mehr Schlagworte denkbar.
„Auch wenn die Sphärenharmonie und die große Kette heute kaum noch Anklang finden, glauben wir weiter daran, dass es eine Ordnung der Natur gibt, die darauf wartet, entdeckt zu werden.“
Das bringt uns zur dritten Ordnung der Ordnung, der digitalen. Sie stellt alles bisher Dagewesene in den Schatten, weil man mithilfe der Bits so viele Informationen auf die elektronische Karteikarte packen kann, wie man möchte. Corbis z. B. verwaltet seine vier Millionen Bilder auf diese Weise, und wer etwas sucht, hat es in wenigen Sekunden auf dem Bildschirm – nachdem allerdings vorher viel Zeit in die Katalogisierung gesteckt wurde. Bei Flickr entfällt auch das, hier verschlagworten die Nutzer ihre Bilder selbst. Der Clou: Mit der dritten Ordnung der Ordnung kann sich jeder seine eigene Ordnung schaffen.
Buchstaben, Planeten und Kochrezepte
Das Alphabet ist eine tolle Sache. Mit ihm lässt sich alles wunderbar ordnen: das Wissen großer Enzyklopädien, die Namen einer Schulklasse oder die Rezepte eines Kochbuchs. Die Alphabetisierung war keineswegs immer unumstritten. Der amerikanische Intellektuelle Mortimer Adler z. B. konnte der alphabetischen Reihenfolge rein gar nichts abgewinnen und ersann eine Encyclopedia Metropolitana, die er ganz anders einteilte, nämlich thematisch nach reinen und gemischten Wissenschaften, Geschichte, Geografie, Biografie und Vermischtes.
„Was für ein Zufall: Bisher passte das ganze Wissen, das seit 1869 im Bereich der Naturwissenschaften entwickelt wurde, genau auf die Seiten, die bei
Nature Woche für Woche dafür vorgesehen waren.“
Viele sind davon überzeugt, dass es neben der willkürlich von Menschen geschaffenen Ordnung, egal ob alphabetisch oder thematisch, auch eine Ordnung des Himmels und der Natur gibt. Diese zu erforschen ist seit Jahrtausenden ein Hauptanliegen der Menschheit. Pythagoras etwa schwärmte von der Harmonie des Universums und das Christentum von der „großen Kette der Wesen“, die alles, von Gott über die Engel, die Menschen, Säugetiere, Vögel, Insekten, Muscheln, Pflanzen bis zu den Mineralien und dem Nichts, in göttlicher Ordnung verbinden soll. Dass die Natur einer Ordnung unterliegt, daran zweifelt kaum jemand – allerdings gerät diese Ordnung mitunter etwas in Schieflage, wenn z. B. ein neuer Planet entdeckt wird, der nun plötzlich eingeordnet werden will.
„Wir akzeptieren die Mängel gedruckter Kochbücher, da wir die Beschränkungen des Papiers verstehen. Zudem ist die Tatsache, dass sie Pfannkuchen unter ‚Frühstück‘ statt unter ‚Nachtisch‘ aufführen, höchstens lästig, kein Fehler in der natürlichen Ordnung.
Wie an der Ordnung der Planeten zweifeln wir gemeinhin auch nicht an der Ordnung der chemischen Elemente und arbeiten seit vielen Jahrzehnten mit dem Standardperiodensystem des russischen Chemikers Mendelejew. Trotzdem gibt es Situationen, in denen diese Ordnung angezweifelt wird, beispielsweise von Geologen, die die chemischen Elemente lieber in Bezug auf ihre Ionen angeordnet hätten. Es gibt also mehrere Möglichkeiten, die Dinge zu ordnen, aber oft sind wir an eine bestimmte gebunden. Kochbücher sind ein gutes Beispiel: Solange die Rezepte auf Papier gedruckt sind, müssen wir mit der gegebenen Reihenfolge leben, auch wenn wir lieber alle Broccoli-Rezepte hintereinander stehen hätten oder alle Rezepte, die sich aus den Vorräten, die gerade im Kühlschrank liegen, zubereiten lassen.
Herkömmliche Ordnungen
Wenn der Bibliothekar Melvil Dewey etwas nicht leiden konnte, dann Ineffizienz. Um die Bildung voranzutreiben, wollte er Bibliotheken für alle Bürger zugänglich machen. Das setzte aber voraus, dass die Leute die Bücher dort möglichst schnell und einfach finden konnten. Er entwickelte drei bahnbrechende Ideen dazu, nämlich a) dass alle Bibliotheken ihre Bücher nach der gleichen Methode katalogisieren, b) dass die Bücher nicht nach Alphabet, sondern nach Themen und c) diese Themen mithilfe von Dezimalzahlen geordnet werden. Das Dewey-System ist heute weit verbreitet – das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ein Buch nur an einem Platz stehen kann. Wenn es z. B. ein Buch über Militärmusik ist, muss man sich entscheiden, ob man es im Bereich Militär oder im Bereich Musik unterbringt. Auch das Dewey-Ordnungssystem ist also letztlich willkürlich und wurde einer durch und durch unordentlichen Wirklichkeit des Wissens übergestülpt.
„Wenn man uns in einem Blätterhaufen aussetzt, der so groß ist, dass wir nicht sehen können, wo er endet, werden wir immer mehr Metadaten benötigen, um unseren Weg zu finden.“
Gehen Sie also nicht in die Bibliothek, gehen Sie im Internet zu Amazon. Dort brauchen Sie keine Dezimalkategorien und finden Bücher an verschiedenen Plätzen, je nachdem welche Interessen Sie verfolgen. The Little House Cookbook z. B. finden Sie bei den Kinderbüchern, unter „19. Jahrhundert“ und natürlich auch unter „Kochen“. Außerdem weist Amazon Sie gleich noch auf ein paar andere Bücher hin: Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben vielleicht gleich noch was anderes in ihren Einkaufswagen gepackt, und evtl. interessieren diese Bücher auch Sie. Amazon bietet zig Methoden, Bücher zu ordnen und zu suchen, und der Nutzer kann sogar Listen nach seinen eigenen Kriterien zusammenstellen. Klar: Damit will das Unternehmen nicht in erster Linie für Ordnung im Bücherkosmos sorgen, sondern ganz einfach Bücher verkaufen.
„Die ungeordnete digitale Welt, die wir für uns erschaffen, besteht aus dem, was wir als Blätter ausgewählt haben –
Hamlet, eine bestimmte Ausgabe des
Hamlet oder ein Zitat aus
Hamlet –, und den Verbindungen, die wir explizit o
Unsere Gedanken und Ideen brauchen Ordnung, deshalb gliedern wir z. B. unseren Einkaufszettel in Lebensmittel, Haushaltwaren und Tiernahrung und listen dann unter diesen Kategorien alles auf, was dazugehört. Wir bilden gedankliche Nester, teilen auf, spalten ab und fassen zusammen. Das hilft uns, die Welt um uns herum zu verstehen. Besonders einprägsam ist die Darstellung von Kategorien als Baum, der sich immer weiter verzweigt, ein Organisationsprinzip, das wir Aristoteles verdanken. Der hatte aber auch nicht die Mengen an Informationen zu bewältigen, die wir heute kennen. Ein IBM-Manager muss z. B. aus weltweit 25 000 Mitarbeitern geeignete, länderübergreifende Projektteams zusammenstellen und dabei Dutzende von Kriterien berücksichtigen. Die Lösung ist ein digitales Facettenklassifikationssystem, bei dem der Nutzer sich je nach Bedürfnis seinen eigenen Baum kreiert.
Vom Chaos zur individuell sortierten Liste
Manchmal ist es angebracht, Dinge erst einmal als ungeordneten Haufen in eine Kiste zu packen und sie erst dann zu sortieren, wenn man sie braucht. Das kann man mit Besteck aus der Spülmaschine so machen oder mit Informationen – der Unterschied ist, dass Sie Ihr Besteck auf jeden Fall von Hand auseinanderklauben müssen, während Sie Informationen mithilfe der dritten, der digitalen Ordnung im Handumdrehen finden können. Websites oder Fotos beispielsweise können Sie, statt sie in Kategorien einzuordnen, mit „Tags“ (Etiketten) versehen, um später einfach diese Wörter anzuklicken und alle Websites oder Fotos, die damit gekennzeichnet wurden, als Liste parat zu haben. Die 225 Millionen Fotos bei Flickr z. B. bilden zunächst ein großes Durcheinander – sie wurden jedoch von den Nutzern mit 5,7 Millionen verschiedenen Tags versehen, die insgesamt 540 Millionen Mal verwendet wurden. Das Resultat: Man gibt ein Wort ein, und schon bekommt man alle Fotos zu diesem Thema auf den Bildschirm. Ähnlich ist es bei Wikipedia, der Mitmach-Online-Enzyklopädie, in der mittlerweile über eine Million Artikel hinterlegt sind. Wenn Sie einen Suchbegriff eingeben, beispielsweise „Elefant“, erhalten Sie nicht nur den entsprechenden Artikel über den Dickhäuter, sondern gleich auch noch Links zu anderen Artikeln mit dem Stichwort „Elefant“, vom Film bis zum Panzerabwehrwagen. Das völlig Neue daran ist, dass digitalisiertes Wissen nicht mehr von Experten kontrolliert und gefiltert an uns weitergegeben wird. Heute kontrolliert derjenige die Informationen, der sie nutzt, weil er sie mit Tags, Playlists, Bookmarks oder Blogs nach seinen eigenen individuellen Vorstellungen organisieren kann.
Unordnung birgt Chancen
Auf einem Strichcode kann sehr viel mehr an Information untergebracht werden als auf einem handgeschriebenen Preisschildchen. Und die RFID-Tags (Radio Frequency Identification) enthalten so viele Informationen, dass z. B. Krankenhäuser 10 000 bewegliche Teile aus ihrem Bestand damit verfolgen können. Verlage schließlich benutzen seit den 60er Jahren internationale Standardbuchnummern (ISBN). Wenn man heute bei Amazon eine ISBN eingibt, erhält man eine ungeheure Fülle an Informationen, von den bibliografischen Angaben bis hin zum aktuellen Verkaufsrang und der Bewertung des Buches durch andere Leser.
„Jetzt, wo die Informationen zur Massenware werden, haben sie mehr Wert, wenn man sie freilässt.“
Die dritte Ordnung der Ordnung ermöglicht eine nahezu unerschöpfliche Informationsfülle, denn jeder kann sein Wissen, seine Erfahrungen, seine Ideen dem gigantischen Wissenshaufen im Internet hinzufügen, der erst dann strukturiert wird, wenn jemand nach etwas Bestimmtem sucht. So wird alles miteinander verknüpft, und wenn Sie z. B. etwas zum Thema Diabetes im Internet suchen, kommen Sie von offiziellen, wissenschaftlichen Seiten zu Blogs und Foren mit Beiträgen unzähliger Privatleute und erfahren auf diese Weise viel mehr, als jemals in einem medizinischen Handbuch stehen könnte.
„Die Methoden der dritten Ordnung, durch die Firmen ihre Aktivposten profitabler machen, die Loyalität ihrer Kunden steigern und die Kosten erheblich reduzieren, sind das Trojanische Pferd des Informationszeitalters.“
Bei allen Informationen aus dem Internet müssen Sie genau hinsehen, von wem sie stammen. Wo nämlich jeder seine Meinung öffentlich machen und Kommentare abgeben kann, finden Sie auch eine Menge Mist. Wenn Sie etwas in der Encyclopaedia Britannica nachschlagen, dürfen Sie dem geschriebenen Wort vertrauen und das Wissen passiv konsumieren. Bei Wikipedia dagegen müssen Sie Ihre Gehirnzellen aktivieren, denn hier haben Sie es mit sozialem Wissen zu tun, das im Dialog entsteht. Jeder trägt selbst die Verantwortung für das, was er glaubt.
Die Stunde der Meta-Unternehmen
Was bedeutet die Entwicklung für jene, welche Informationen anzubieten haben? Ihr Erfolg wird künftig auf dem intelligenten Umgang mit der dritten Ordnung beruhen. Lange wurde Unternehmen geraten, wertvolle Informationen möglichst abzuschotten, um zu vermeiden, dass sie gratis im Internet kursieren. Unterdessen scheint es, dass sich Offenheit auszahlt. Zwar geht die Kontrolle über die Informationen verloren. Aber Informationen, die im freien Umlauf sind, werden auch vermehrt diskutiert, angereichert und weitergereicht. Ein Unternehmen wie iTunes wirkte erst bedrohlich für die Musikindustrie. Doch es zeigt sich, dass jede iTunes-Playlist auch Gratiswerbung ist: Ihre Benutzer kommen mit Songs in Kontakt, die sie sonst vielleicht nie gehört hätten. Das zahlt sich wiederum für die Musikproduzenten aus. Und natürlich für iTunes, ein so genanntes Meta-Unternehmen. Darunter versteht man Firmen, die anderswo produzierte Informationen ergänzen, kommentieren und vernetzen. Egal ob Preisvergleichseiten, Online-Dienste zur Planung von Reisen oder Linksammlungen wie Digg.com – die Stunde der Meta-Unternehmen hat geschlagen, und sie kennen keine Branchengrenzen.