Die alte Kunst der guten Geschichte
Fabeln, Märchen, alte Legenden, Sprichwörter, aber auch manche moderne Sage – wie die von dem Mann, der betrunken gemacht wird und ohne Niere in einer eisgefüllten Badewanne wieder aufwacht – sind viel einprägsamer als das meiste, was wir sonst hören oder lesen. Sie enthalten Merkmale und Elemente, die man analysieren und als Maßstab für eine gelungene Werbeaussage verwenden kann. Ihre Botschaft muss einfach, unerwartet, konkret, glaubwürdig und emotional sein; dann bildet sie eine gute Geschichte, die zu einem bestimmten Verhalten führt. Informationen in einer guten Geschichte zu verpacken, fördert nicht nur den Produktverkauf, sondern erleichtert auch das Lernen oder motiviert Mitarbeiter. Die genannten Prinzipien lassen sich – auf Englisch – in der SUCCESs-Formel zusammenfassen: Eine gute Geschichte ist eine „simple, unexpected, concrete, credentialed and emotional story“.
Zum Kern vorstoßen
Um zum Kern einer Geschichte vorzudringen, müssen Sie alles Überflüssige, alle „technischen“ Details weglassen, auch wenn sie Ihnen bedeutsam vorkommen. Räumen Sie Ihr Vorwissen beiseite und versetzen Sie sich in die Lage von jemandem, der keine Ahnung hat, wovon Sie sprechen. Es kommt auf die eine klare Botschaft an, die in einem Satz Platz findet. Auch wenn es viele wirklich gute Argumente für Ihr Produkt oder Ihre Dienstleistung gibt: Wenn Sie wollen, dass Ihre Aussage ankommt und dass man sie sich merkt, dann kann es nur eine sein. Ersparen Sie dem Leser oder dem Zuhörer die Qual der Wahl. Journalisten lernen, die wichtigste Aussage ihres Artikels an den Anfang zu stellen. Einfach heißt nicht „simpel“, sondern „wesentlich“. Der Chef einer amerikanischen Billigfluglinie brachte sein oberstes Firmenziel auf die Formel „Wir sind DIE Billigfluglinie“. Damit wissen alle Mitarbeiter in jeder Situation, was sie zu tun haben, auch ohne detaillierte Handlungsanweisungen. Sie können sich jeden Spaß – natürlich unter Beachtung der Sicherheitsvorschriften – und jeden Service erlauben, solange er keine Mehrkosten verursacht. Ähnlich lautete der Auftrag des Sony-Gründers, als man noch nicht so recht wusste, was man mit den gerade erfundenen Transistoren anfangen sollte und Radios noch Möbelstücke waren. „Baut ein Taschenradio“, sagte er einfach. Um diese Einfachheit zu erreichen, müssen Sie:
- Das Ziel festlegen.
- Prioritäten setzen.
Einfach sein
Haben Sie eine Kernidee gefunden? Dann achten Sie auf:
- Konkrete Formulierung: „Ein Radio, das in die Tasche passt.“ Versuchen Sie, so deutlich zu sein wie jener Chefredaktor einer Lokalzeitung, deren Leser sich vor allem für das interessieren, was die Leute in ihrer Umgebung machen: „Bringt Namen, Namen und nochmals Namen“, sagte er. Das wurde verstanden.
- Relevanz für die Zielgruppe: Was in der Nachbarstadt passiert, interessiert den Lokalblattleser nur, wenn es Auswirkungen in seinem eigenen Ort hat.
- Kompaktheit: Das Sprichwort „Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach“ verdichtet einen komplizierten Sachverhalt zu einem einfachen Bild.
- Sinnvolle Wirkung: Das Sprichwort vom Spatz stimmt nicht nur, sondern enthält auch eine nützliche Verhaltensregel.
„Um bei jeder Idee den Kern freizulegen, muss man ein Meister des Ausschließens sein. Wir müssen gnadenlos Prioritäten setzen.“
Wenn Sachverhalte kompliziert sind, lassen sie sich oft durch einen Vergleich vereinfachen, beispielsweise: Eine Pomelo ist eine Art Grapefruit mit dicker, weicher Schale. Oder: Der Film Alien ist wie Der weiße Hai in einem Raumschiff. Solche Vergleiche funktionieren, weil Sie an Vorwissen anknüpfen können. Das erspart Ihnen lange Erklärungen.
Aufmerksamkeit gewinnen
Damit die Leute einer guten Geschichte zuhören, muss man ihre Aufmerksamkeit gewinnen und behalten. Dazu müssen Sie gewohnte Kommunikationsmuster durchbrechen. Wenn sich an der Sicherheitsansage im Flugzeug etwas ändern würde, wären die Passagiere sofort aufmerksam. Sobald sich etwas an Gewohnheiten oder gewohnten Erwartungen ändert, auch in einem Fernsehspot oder einen Film, hat man die Aufmerksamkeit des Publikums. Setzen Sie auf das Prinzip Überraschung. Als ehrgeiziger Hotelier können Sie einen Service bieten, den der Gast nicht erwartet: „Wir bügeln Ihre Hemden“. Auch das ist eine „Story“. Die Überraschung wirkt aber nur gut und dauerhaft, wenn sie einen Bezug zu Ihrem Produkt oder zu Ihrer Botschaft hat. Bloße Effekthascherei kommt nicht an.
Wissenslücken nutzen
Damit die Aufmerksamkeit nicht nachlässt, müssen Sie Interesse wecken. Gute Lehrer und Krimiautoren wissen, dass man mit einem Geheimnis oder einem Rätsel die Schüler bzw. die Leser fesseln kann. Überhaupt sind Wissenslücken in allen möglichen Formen ein hervorragender Ansatz, um dauerhaft interessant zu bleiben. Wir bleiben dann dran, wenn wir noch mehr wissen möchten:
- Bei Sportveranstaltungen: Wer gewinnt?
- Im Krimi: Wer war der Mörder?
- In der Nachrichtensendung: Was gibt es Neues?
- Im Kinofilm: Was passiert als Nächstes?
„Wenn Sie drei verschiedene Dinge sagen, sagen Sie gar nichts.“
Professionelle Drehbuchautoren platzieren solche „cliffhangers“ sehr geschickt, damit die Zuschauer nicht wegzappen. Wenn Sie es erst einmal geschafft haben, Neugierde zu wecken, wird die Bereitschaft, Informationen aufzunehmen, groß sein. Natürlich kann es sein, dass sich die Leute zunächst gar nicht für Ihr Thema interessieren oder dass die Wissenslücken zu groß sind. Dann müssen Sie sie zuerst mit Informationen anfüttern, bis die Lücke die passende Größe hat. Trailer populärer „Dokumentationssendungen“ fangen so an: „In Ihrem Haushalt gibt es eine unsichtbare Chemikalie – die Sie jetzt sofort töten könnte!“
Dinge konkret benennen
Um das Interesse und das Engagement für ein landschaftlich wenig reizvolles, aber ökologisch wichtiges Umweltprojekt zu gewinnen, kam eine Naturschutzgruppe auf die Idee, der Gegend einfach einen Namen zu geben: „Mount Hamilton Wilderness“. Schon wurde sie greifbar und weckte Emotionen. Ähnlich funktioniert das Lernen, wenn man den Schülern beim Bruchrechnen statt abstrakter Zahlen konkrete Tortenstücke zeigt, die sie auf soundso viele Kinder aufteilen sollen. Noch ein Beispiel: Bei der Konstruktion der 727 lautet die Vorgabe von Boeing nicht „das beste Passagierflugzeug der Welt“ zu bauen, sondern eine „Maschine mit Platz für 131 Passagiere, die nonstop von Miami nach New York fliegen und auf La Guardia landen kann“ (wo die Landebahn kürzer als eine Meile ist). Konkret zu werden, kann auch bedeuten, dass ein Lebensmittelhersteller die 30 Geschmacksrichtungen einer Produktlinie auf sechs verschlankt. Eine bemerkenswert konkrete politische Vorgabe war die Ansprache von Präsident Kennedy, „bis zum Ende dieses Jahrzehnts einen Mann auf den Mond zu schicken und ihn sicher wieder nach Hause zu bringen“. Sie bewegte Tausende von Menschen und Abermillionen von Dollars.
Glaubwürdige Botschaften
Manchmal kann man einer Botschaft durch einen anerkannten Experten Glaubwürdigkeit verleihen. Allerdings gibt es wohl nicht viel, wofür Stephen Hawking werben könnte. Bei einigen Sportlern oder Entertainern sieht es anders aus. In den USA löst die Talkmasterin Oprah Winfrey beachtliche werbliche Effekte aus – weil sie hinter dem steht, was sie sagt. Umgekehrt können aber auch Antiautoritäten sehr glaubwürdig sein. So gibt es in USA einen ehemals 425 Pfund schweren Studenten, der mit den Sandwichs einer bestimmten Fast-Food-Kette auf 330 Pfund abmagerte. Authentisches, Selbsterlebtes wirkt glaubwürdig. Dazu zählt auch, wenn ein Härtetest („Sinatra-Test“) bestanden wurde: „If I can make it there, I make it anywhere.“ Dies gelang etwa einer Logistik-Firma, die nachweisen konnte, dass sie sämtliche Bände des neuen Harry Potter pünktlich ausgeliefert hatte – ein schöner Beweis ihrer Zuverlässigkeit. Glaubwürdig sind ferner persönliche Empfehlungen, konkrete Details, Zahlen und Statistiken – letztere allerdings nur, wenn man sie mittels Vergleichen lebendig machen kann. Absolute Zahlen sind tot; als Laie schafft man es kaum, sie in ein Verhältnis zu setzen. Was immer wirkt, sind konkrete, überprüfbare Nachweise. So fragte Ronald Reagan im Wahlkampf gegen Jimmy Carter die Fernsehzuschauer: „Geht es Ihnen besser als vor vier Jahren?“
Die Wirkung der Emotionen
Analytisches Denken und Wissen führen selten zum Handeln. Reaktionen folgen auf Gefühlsimpulse. Nachdem eine Idee einfach und konkret formuliert und Interesse dafür geweckt wurde, gilt es, den Zuhörer oder den Leser betroffen zu machen. Nicht immer bedarf es dazu starker Gefühle wie Wut oder Mitleid, Angst oder Gier. Meist reicht es, das Eigeninteresse des Rezipienten anzusprechen: den Preisvorteil, die sorgenfreie Zeit im Urlaub, das Gefühl, Hausbesitzer zu sein. Auch eine Vorstellung zu wecken, in die sich das Publikum hineinfühlen kann – etwa das behagliche eigene Heim –, kann für starke Emotionen sorgen.
„Eine Geschichte ist effektiv, wenn sie den Kontext liefert, der in einem abstrakten Text fehlt.“
Unter Umständen lohnt es sich, nicht nur Eigeninteressen, sondern solche von Gruppen anzusprechen. Gruppen wirken identitätsstiftend, und auf diesem Weg kann man Menschen zu altruistischem Verhalten anregen. In Amerika brachte die sehr erfolgreiche Kampagne „Don’t mess with Texas“ („Leg dich nicht mit Texas an“) selbst schwer erziehbare junge Texanermachos dazu, ihren Müll nicht einfach aus ihren Pick-ups zu werfen, sondern umweltgerecht zu entsorgen. Das funktionierte nur deshalb, weil man sie bei ihrer Texanerehre packte.
Eine Geschichte erzählen
Ein einprägsamer Slogan, ein treffendes Beispiel, ein guter Vergleich: das alles kann eine Geschichte sein. Geschichten sind wie Flugsimulatoren, weil sie einen größeren Kontext lebendig abbilden und körperliche oder zumindest emotionale Reaktionen auslösen. Man unterscheidet drei Arten von Geschichten:
- Die herausfordernde Geschichte, z. B. die von David und Goliath oder jene vom Tellerwäscher, der Millionär wurde. Aus einer entmutigenden Situation heraus werden enorme Hindernisse überwunden.
- Die verbindende Geschichte: Sie führt Menschen zusammen, in der Geschichte des barmherzigen Samariters ebenso wie in einem Cola-Spot, wo gemeinsam getrunken wird.
- Die kreative Geschichte, bei der sich etwas verändert: Newton entdeckt die Schwerkraft, als ihm ein Apfel auf den Kopf fällt, Sony entwickelt das Taschenradio.
„Sie müssen wissen, wonach Sie suchen. Sie müssen nichts erfinden, müssen nicht übertreiben oder sich auf melodramatische Wendungen versteifen. Sie müssen nur erkennen, wann Ihnen das Leben ein Geschenk macht.“
Geschichten sind mentale Simulationen. Sie funktionieren ähnlich, wie wenn ein Musiker sein Stück unmittelbar vor der Ausführung in seinem Innern zum Klingen bringt oder der Eiskunstläufer seine Sprungfigur vorwegnimmt. So kann man sich die Situation oder eben die Aussage – die Moral von der Geschichte – besser einprägen. Sie bleibt haften.