Das Märchen vom Erfolgsrezept
Im Grunde lieben alle einfache Antworten und klare Handlungsanweisungen. Viel beschäftigte Manager sind da keine Ausnahme, und deshalb haben Ratgeber über die „fünf Schritte zum Erfolg“, die „acht Prinzipien der Topunternehmen“ usw. Hochkonjunktur. Das Problem: Viele dieser angeblichen Patentrezepte beruhen auf Täuschungen. Sie gründen auf fehlerhaften Daten oder verwechseln Begleiterscheinungen mit Ursachen und verstellen so den Blick auf die wahren Herausforderungen eines Unternehmens. Ähnlich wie in der Wirtschaftspresse wird in vielen Managementratgebern vorschnell vom Ergebnis auf die Performance geschlossen: Stimmt die Bilanz, dann muss auch die angewandte Strategie die richtige sein. Werden dagegen rote Zahlen geschrieben, dann ist es eben die falsche. Dass andere Faktoren wie Wechselkursschwankungen, verstärkter Wettbewerb oder veränderte Kundenwünsche eine viel wichtigere Rolle spielen können, wird meist übersehen.
„Wovon hängt die Performance eines Unternehmens ab? Das ist die Mutter aller Business-Fragen, das Wall-Street-Äquivalent zum Heiligen Gral.“
Ein klassisches Beispiel ist die Geschichte von Cisco. Das Unternehmen aus dem Silicon Valley war der Darling der New-Economy-Ära. Nach Auffassung der Wirtschaftsjournalisten machte es einfach alles richtig: die beste Kundenorientierung, großes Geschick bei der Akquisition von Start-ups, eine einzigartige Unternehmenskultur usw. Im März 2000 war es mit einer Marktkapitalisierung von 555 Milliarden Dollar das wertvollste Unternehmen der Welt. Doch schon im folgenden Jahr fiel die Cisco-Aktie von 80 auf 14 $. Und die gleichen Journalisten warfen dem Unternehmen nun Arroganz im Umgang mit Kunden, desaströses Übernahmemanagement und so ziemlich jeden anderen Kardinalfehler vor.
Täuschung Nr. 1: Der Halo-Effekt
Das Konzept des Halo-Effekts stammt aus der Psychologie und beschreibt einen Wahrnehmungsfehler: Hervorstechende Eigenschaften „überstrahlen“ andere Attribute und lassen sie in einem positiveren Licht erscheinen. Produkte eines Herstellers, der einen guten Ruf besitzt, werden z. B. automatisch als qualitativ wertvoll wahrgenommen, selbst wenn es dafür keine objektiven Gründe gibt. Der Halo-Effekt ist im menschlichen Bedürfnis verwurzelt: Wir versuchen kognitive Dissonanzen zu vermeiden und ein einheitliches Weltbild zu bewahren.
„In guten Zeiten werfen wir mit Lob um uns und küren Helden. In schlechten Zeiten suchen wir nach den Schuldigen.“
In einem Experiment wurde den Teilnehmern nach dem Zufallsprinzip gesagt, dass ihre Gruppe die gestellten Fragen richtig oder falsch beantwortet habe. Die vermeintlich Erfolgreichen beschrieben ihre Kollegen daraufhin als angenehm und kollegial, während die scheinbaren Versager sich über mangelhafte Gruppenarbeit beklagten. So auch in der Wirtschaft: Aus Fakten, z. B. der finanziellen Situation eines Unternehmens, schließen wir automatisch auf schwieriger fassbare Eigenschaften wie die Güte des Managements.
„Die besten Unternehmen machen nicht das eine oder andere richtig, sie machen alles richtig.“
Der Einfluss des Halo-Effekts schlägt sich auch gut sichtbar in der berühmten Fortune-Liste der meistbewunderten Unternehmen der Welt nieder: Eigentlich geht es darin um die auf Umfragen basierende Bewertung bestimmter Erfolgskriterien, darunter Managementqualität, Innovationsfreude oder Produktqualität. Tatsächlich spiegelt die Platzierung der Unternehmen jedoch in erster Linie ihre finanzielle Performance wider.
Täuschung Nr. 2: Die Verwechslung von Korrelation und Kausalität
Der Satz ist fester Bestandteil jedes Management-Mantras: „Eine gute Firmenkultur und Mitarbeitermotivation erhöhen die Unternehmensperformance.“ – Tatsächlich? Oder sind die Mitarbeiter motivierter, weil die Firma Erfolg hat? Der Fehler vieler Studien zur Performance liegt darin, dass sie auf Interviews mit Führungskräften und Mitarbeitern aufbauen – der Halo-Effekt lässt grüßen. Um ihn auszuschalten, messen einige Forscher performanceunabhängige Faktoren wie etwa die Fluktuation der Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum hinweg, um so auf deren Motivation zu schließen. Doch auch dann ist nicht erwiesen, ob die längere Verweildauer der Motor für den Erfolg oder seine Begleiterscheinung ist. Korrelationen deuten auf Ursachen hin, Beweise sind sie aber nicht.
Täuschung Nr. 3: Die Illusion der einzig wahren Erklärung
Einigen seriösen Untersuchungen gelingt es, den Halo-Effekt und das Korrelationsproblem so gut wie auszuschließen. Nicht selten kommen sie zu Ergebnissen wie: „Gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein (Corporate Social Responsibility, CSR) ist für mehr als 40 % der finanziellen Performance eines Unternehmens verantwortlich.“ Das Problem: Viele Faktoren der Unternehmensperformance ergänzen und beeinflussen einander. CSR-bewegte Firmen zeigen sich beispielsweise meist sehr marktorientiert und mitarbeiterfreundlich. Welche dieser Eigenschaften ist nun ausschlaggebend für den Erfolg? Fest steht: Eine einzige ist es nicht. Es ist schwierig bis unmöglich, die einzelnen Faktoren voneinander zu isolieren.
Täuschung Nr. 4: Der ausschließliche Siegervergleich
Die meisten Business-Studien beruhen auf einer schwachen oder fehlerhaften Datenbasis und ziehen unzulässige Schlüsse. Anfang der 1980er Jahre identifizierten Tom Peters und Bob Waterman für ihren Business-Bestseller Auf der Suche nach Spitzenleistungen 43 der erfolgreichsten US-amerikanischen Unternehmen und machten sich auf die Suche nach deren Erfolgsfaktoren. Das Ergebnis waren acht goldene Regeln des Spitzenmanagements, darunter „Handeln hat Vorrang“ oder „Bei seinem Leisten bleiben“. Seltsamerweise fiel ein Großteil der 43 Spitzenunternehmen schon fünf Jahre nach der Studie hinter den Marktdurchschnitt zurück. Wie ist das zu erklären? Ein Fehler war die Stichprobenauswahl: Wer ausschließlich Sieger miteinander vergleicht, wird niemals herausfinden, was diese von den Verlierern oder vom Mittelmaß unterscheidet. Wer außerdem noch die Sieger selbst über die Gründe für ihren Erfolg befragt, wird vor allem die Strahlkraft ihres eigenen Heiligenscheins messen. Das Buch wurde dennoch zum ersten Megahit der Wirtschaftsliteratur. Denn in einer Zeit, als in Amerika die Angst vor der japanischen Konkurrenz umging, verkündete es die frohe Botschaft von durchsetzungsstarken US-Unternehmen, die nichts weiter taten, als acht Gebote zu befolgen.
Täuschung Nr. 5: Die Illusion wissenschaftlicher Gründlichkeit
Den Autoren Jim Collins und Jerry I. Porras war das Stichprobenproblem bewusst. Für ihren Bestseller Immer erfolgreich suchten sie deshalb eine Gruppe von 18 „visionären“ Unternehmen heraus, die über Jahrzehnte hinweg um den Faktor 15 besser abgeschnitten hatten als der Marktdurchschnitt. Außerdem setzten sie der Spitzenklasse eine mittelmäßige Vergleichsgruppe entgegen. Sie sammelten Unmengen an Daten, lasen Hunderte Bücher und Tausende Zeitschriften und überzeugten so die wichtigsten Rezensenten von der Gründlichkeit ihrer Analyse. Tatsächlich erreichte rund die Hälfte der „immer erfolgreichen“ Unternehmen fünf Jahre nach der Untersuchung nicht einmal mehr den Marktdurchschnitt. Fazit: Daten, die vom Halo-Effekt infiziert sind, werden auch dann nicht besser, wenn sie ganze Schränke füllen.
Täuschung Nr. 6: Die Illusion vom anhaltenden Erfolg
Nicht nur die Methode, auch die Prämisse von Immer erfolgreich war fehlerhaft: Die wenigsten Firmen halten sich über einen langen Zeitraum ganz oben. Nur 74 Unternehmen aus dem S&P 500 des Jahres 1957 befanden sich 40 Jahre später noch in dem Index, und nur zwölf schnitten besser ab als dieser. Unternehmerische Unsterblichkeit ist und bleibt ein Mythos. Innovation und Veränderung setzen zwangsläufig voraus, dass neue Spieler es nach ganz oben schaffen und die älteren verdrängen. Denn Erfolg zieht immer Nachahmer an, die sich ein Stück von dem Marktkuchen abschneiden.
Täuschung Nr. 7: Die Illusion absoluter Performance
Kein Unternehmen existiert für sich allein. Unzählige äußere Einflüsse wirken auf seine Performance ein, darunter Konkurrenzunternehmen, Kundenvorlieben, Schwankungen auf dem Weltmarkt usw. Eine Firma kann objektiv gesehen alles richtig machen und trotzdem zurückfallen – wenn es ein Wettbewerber noch besser macht.
Täuschung Nr. 8: Die Verwechslung von Ursache und Wirkung
In seinem Bestseller Der Weg zu den Besten arbeitete Jim Collins mit dem berühmten Bild des Fuchses und des Igels: Igelartige Unternehmen arbeiten laut Collins beharrlich, bleiben ihrem Ziel treu und sind deshalb erfolgreich. Fuchsartige Unternehmen hingegen agieren sehr wendig, verzetteln sich aber mitunter. Die Frage ist nur: Wie viele Igel sind wegen ihrer Beharrlichkeit unter die Räder gekommen? Jeder Spieler weiß, dass er ein großes Risiko eingeht, wenn er alles auf eine Karte setzt. Möglicherweise haben Collins’ Topunternehmen es nicht deshalb geschafft, weil sie wie Igel agierten, sondern weil sie das Glück hatten, mit ihrer einzigen, großen Idee zu überleben.
Täuschung Nr. 9: Die trügerische Metapher von den Naturgesetzen
In Der Weg zu den Besten vergleicht Collins die von ihm aufgestellten Regeln der unternehmerischen Spitzenleistung mit physikalischen Gesetzen. Er erfüllt damit den sehnlichsten Wunsch aller Verantwortlichen in der Wirtschaft: verlässliche Formeln, mit deren Hilfe jeder es bis ganz nach oben schaffen kann. Leider funktioniert die Ökonomie aber nicht nach naturwissenschaftlichen Gesetzen. Nicht einmal die gewissenhaftesten Wirtschaftsforscher werden jemals die Genauigkeit und Wiederholbarkeit der physikalischen Forschung erreichen.
Vom Märchen zur Performance
Bücher wie Auf der Suche nach Spitzenleistungen, Immer erfolgreich oder Der Weg zu den Besten erzählen gute, hoffnungsvolle Geschichten, arbeiten mit einprägsamen Slogans und fordern zum Handeln auf. Sie bedienen die Sehnsucht nach modernen Märchen – nicht mehr und nicht weniger. Solide Forschungsarbeit ist dagegen meist unspektakulär und ernüchternd.
„Wann immer es heißt: ,Wir haben die richtige Strategie, aber wir müssen sie besser umsetzen‘, lohnt es sich, bei der Strategie besonders genau hinzuschauen.“
Eine der wirklich ernsthaften Studien kam z. B. zum Ergebnis, dass gerade mal 10 % der Performancevarianz eines Unternehmens mit der Anwendung von Managementpraktiken erklärt werden können. Das ist zwar nicht wenig, aber sicher nicht genug für die absolute Erfolgsgarantie. Freilich schadet es nicht, wenn Manager ihren Werten treu bleiben, ihre Mitarbeiter motivieren und Innovationen fördern. Doch der Glaube an die einzig richtige Lösung kann auch den Blick für reale Probleme verstellen und so mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen.
„Ein Unternehmen, das kluge strategische Entscheidungen trifft, hart an ihrer Umsetzung arbeitet und noch dazu eine Portion Glück hat, kann seine Rivalen möglicherweise abhängen – zumindest vorübergehend.“
Wirklich performancerelevant sind zwei Dinge: die Unternehmensstrategie und ihre Ausführung. Strategie heißt, sich im Wettbewerb von anderen zu unterscheiden. In die Ausführung fließen die praktischen Arbeitsschritte aller Mitarbeiter ein. Strategieentscheidungen, z. B. für oder gegen die Expansion in neue Märkte, sind riskant.
„Die Suche nach den Erfolgsgeheimnissen verrät wenig über die Welt der Unternehmensführung, aber viel über die Forschenden – ihre Wünsche und ihr Sicherheitsbedürfnis.“
Erfahrene Manager wissen: Die Entwicklung der Märkte, der Zukunftstechnologien, der Wettbewerber und des Mitarbeiterverhaltens ist letztlich unberechenbar. Überdenken Sie Ihre Strategie laufend und stützen Sie sich auf Daten ab, die vom Halo-Effekt unbeeinflusst sind.
Setzen Sie bei der Ausführung Prioritäten: Worauf kommt es in Ihrem Unternehmen am meisten an? Die Marktreife neuer Produkte zu beschleunigen? Lieferverzögerungen zu beseitigen? Oder auf noch etwas ganz anderes? Die gängige Forderung nach „tadelloser Umsetzung“ allein genügt nicht. Schließlich: Akzeptieren Sie, dass auch Glück und Zufall im Wirtschaftsleben eine Rolle spielen. Erfolgreiche Manager verdanken ihren Erfolg nicht ausschließlich ihren Taten, und die Gescheiterten sind nicht unbedingt an allem schuld.