Land und Leute
Brasilien wird oft als „Kontinent für sich“ beschrieben: Das fünftgrößte Land der Welt macht fast die Hälfte Südamerikas aus. Sein Binnenmarkt ist gewaltig und wächst dank der steigenden Kaufkraft von Jahr zu Jahr. Ein Viertel seiner 190 Millionen Einwohner gilt offiziell als arm. Laut Definition ist arm, wer Anspruch auf Sozialhilfe hat, wer also mit einem monatlichen Pro-Kopf-Einkommen von umgerechnet unter 45 € eine Familie ernähren muss. Ein Großteil der Armen lebt im kaum industrialisierten Norden und Nordosten. Der heiße Mittelwesten ist das Zentrum der Landwirtschaft und mit Brasília Sitz der Regierung, während der Südosten mit den Städten Rio de Janeiro und São Paulo das wirtschaftliche Kraftzentrum des Landes ist. Im landwirtschaftlich geprägten Süden lebt die Mehrheit der 2,5 Millionen deutschstämmigen Brasilianer, von denen viele noch ihre Muttersprache beherrschen und Traditionen hochhalten. Die Sklaverei, obwohl offiziell längst abgeschafft, besteht in ihrer modernen Form weiter: Ungebildete Arbeiter werden mit falschen Versprechungen auf entlegene Plantagen gelockt und dann z. B. durch mangelnde oder ausbleibende Bezahlung an der Abreise gehindert.
Brasilien-Knigge für Anfänger
Die meisten Brasilianer sprühen vor Lebensfreude, sind offen und gastfreundlich. Lassen Sie dem ersten Eindruck aber immer einen zweiten folgen: Auch der liebenswürdigste Mensch wird u. U. gegen Sie arbeiten, wenn das seinem Vorteil dient. Wundern Sie sich z. B. nicht, wenn selbst Bekannte für einen kleinen Gefallen wie den Kauf eines Gebrauchtwagens eine Provision verlangen. Kritik ist in den meisten Fällen tabu. Selbst wenn Ihr Gesprächspartner wütend auf sein Land schimpft, dürfen Sie das noch lange nicht. Verteidigen Sie es lieber, denn jeder Brasilianer ist im Grunde seines Herzens ein großer Patriot. Ähnlich verhält es sich mit der Pünktlichkeit: Viele Brasilianer nehmen es damit nicht so genau. Aber Deutsche gelten nun einmal als pünktlich, also müssen Sie sich so verhalten. Beachten Sie die Unterschiede zwischen dem sachorientierten Kommunikationsstil der Deutschen und dem beziehungsorientierten der Brasilianer. Letztere verbringen viel Zeit mit dem Kennenlernen, kommen selten direkt zur Sache und deuten Wichtiges nur zwischen den Zeilen an. Ein Nein kommt ihnen kaum über die Lippen. Lieber lavieren sie endlos herum, ohne sich festzulegen. Viele deutsche Geschäftsleute geben in solchen Situationen frustriert auf. Tatsächlich ist in Brasilien aber nichts wichtiger als kulturelles Fingerspitzengefühl und viel Geduld.
Chancen und Risiken
Die Direktinvestitionen aus Deutschland in Brasilien sind seit Mitte der 1990er Jahre zurückgegangen. Das liegt zum einen am wachsenden Interesse der Deutschen an Osteuropa und China. Zum anderen hatten Länder wie Spanien oder Portugal einen großen Nachholbedarf, da die deutsche Industrie bereits seit Jahrzehnten sehr stark in Brasilien vertreten ist. Freilich sind einige wirtschaftliche Eckdaten ernüchternd: Zwischen 1980 und 2005 sank die Produktivität der brasilianischen Industrie von 7100 $ auf 5600 $ pro Kopf und Jahr, während sie in den meisten anderen Schwellenländern stark zunahm. Ausländische Unternehmen können das als Wettbewerbsvorteil nutzen, wenn es ihnen gelingt, die Produktivität zu steigern. In absoluten Zahlen steht das Land sehr gut da: 13 der 25 größten lateinamerikanischen Aktiengesellschaften sind brasilianisch, und die Zahl der Umsatzmilliardäre erhöhte sich zwischen 1997 und 2006 von 94 auf 160. Als Zulieferer der großen Unternehmen können auch Mittelständler gute Geschäfte machen. Einen ersten Überblick über den Markt verschaffen Fachzeitschriften oder Internetrecherchen. Beteiligen Sie sich an einer Messe und nehmen Sie an Delegations- und Unternehmerreisen teil. Wenn Sie sich zum Markteintritt entschieden haben, gibt es folgende Möglichkeiten:
- Indirekter Export: Sie verkaufen an eine Inlandsfirma, tragen selbst ein geringes Risiko, können aber auch die Marktchancen nur bedingt ausnutzen.
- Direkter Export: Der Aufbau einer eigenen Vertriebsorganisation vor Ort erfordert Geld und Arbeit, bietet aber auch mehr Möglichkeiten, gute Geschäfte zu machen.
- Produktion vor Ort: Oft ist dies der einzige Weg, um wettbewerbsfähig zu bleiben und den hungrigen brasilianischen Markt direkt mit erschwinglichen Produkten zu bedienen.
Brasiliens Branchen
Die folgende Liste bietet eine kleine Auswahl der aussichtsreichsten Branchen:
- Agro-Business: Schon heute produziert das Land weltweit am meisten Geflügel- und Rindfleisch, Orangensaft, Sojabohnen und Zucker. Brasilien ist führend in der Produktion von Biodiesel und Ethanol. Auch ohne Abholzung des Regenwaldes sind die potenziellen Wachstumsraten gewaltig. Der Bedarf an technischem Gerät für die Ernte und Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten ist groß.
- Bergbau: In diesem stark wachsenden Feld sind Lieferanten für Erzförder- und Verarbeitungsanlagen, aber auch Experten für die Entsorgung gefragt.
- Dienstleistungen: Dieser Sektor erzeugt ein höheres Bruttosozialprodukt als Landwirtschaft und Industrie zusammen. Großes Wachstumspotenzial gibt es für private Sicherheitsfirmen.
- Computer/Software/Internet: Die Computerpreise sind in den vergangenen Jahren stark gesunken, und brasilianische Softwarehersteller können sich bereits mit den indischen messen. Anbieter spezialisierter Firmensoftware können hier punkten.
- Energie: Der Energiehunger Brasiliens ist groß. Das Land will schon 2011 die USA als weltweit führender Produzent von Biokraftstoff ablösen. Außerdem sollen bis 2030 bis zu sieben neue Atomkraftwerke sowie zahlreiche Windkraftanlagen gebaut werden.
- Automobilindustrie: 18 % des industriellen Bruttoinlandsprodukts werden in dieser Branche erarbeitet. Sie ist der Stolz und das Rückgrat der brasilianischen Industrie. Die meisten Hersteller und Zulieferer arbeiten mittlerweile im Dreischichtenbetrieb. Chancen haben Neuankömmlinge hier vor allem mit innovativen Zusatzprodukten wie etwa Luftverbesserern für das Wageninnere.
- Pharmaindustrie: Die Artenvielfalt im Amazonasgebiet ist eine Schatztruhe für die Suche nach neuen Pharmarohstoffen. Auch in der Biotechnologie wird erfolgreich geforscht. Für Europäer bieten sich Partnerschaften mit brasilianischen Firmen an, die nicht die Mittel haben, ihre Forschungsergebnisse in Produkte umzusetzen.
„Tellerwäscher werden zwar der Legende nach vor allem in den USA reich, aber hier finden Sie Beispiele, die zeigen, dass man es auch in Brasilien ohne viel Startkapital zu etwas bringen kann.“
Vor dem Markteintritt müssen Sie folgende Fragen beantworten: Werden Sie und Ihre Produkte in Brasilien überhaupt gebraucht? Sollten Sie Ihre Produkte dem Markt anpassen? Wer sind Ihre Wettbewerber und was wird der Geschäftsaufbau kosten? Definieren Sie Ihr Ziel und überprüfen Sie systematisch seine Durchführbarkeit. Dazu gehören Markt- und Standortstudien, Risikoanalysen und Prüfungen der Rechtslage. Diese Phase sollten Sie sich mindestens 5000–10 000 € kosten lassen. Setzen Sie sich Meilensteine und überprüfen Sie zwischenzeitlich, ob diese erreicht werden. So vermeiden Sie, viel Geld zu investieren, bevor Sie am Point of no Return angelangt sind. Während der Planungs- und Realisierungsphase gründen oder übernehmen Sie Firmen, setzen Handelsvertreter vor Ort ein oder bauen Produktionskapazitäten auf. In der Anlaufphase räumen Sie die letzten unerwartet auftretenden Hindernisse aus dem Weg und überprüfen schließlich in der Kontrollphase, ob die zuvor festgelegten Ziele erreicht wurden. Wenn nicht, korrigieren Sie Ihren Kurs.
Der Firmenpool als Einstiegshilfe
Unterstützung bietet z. B. der Firmenpool Brasilien/Mercosur der Industrie- und Handelskammer Essen. Die Mitarbeiter erstellen Marktübersichten und bahnen Kontakte an, organisieren Messeauftritte und kümmern sich bei Ihrer Abwesenheit auch um den Abschluss von Verträgen, die Übersetzung von Dokumenten usw. Nach der erfolgreichen Geschäftsanbahnung können Sie die Dienste des Nachbetreuungspools in Anspruch nehmen. Wie wichtig professionelle Hilfe sein kann, zeigen die potenziellen Fallstricke, die Sie z. B. beim Erwerb eines brasilianischen Unternehmens erwarten: Viele Firmen hinterziehen massiv Steuern, indem sie ohne Rechnung kaufen und verkaufen. Natürlich ist das illegal. Wenn Sie diese Praxis aber nach der Übernahme ändern, werden Ihnen mit ziemlicher Sicherheit die Kunden davonlaufen, da sie niedrigere Preise gewohnt sind. Außerdem setzen Arbeitgeber oft auf Schwarzarbeit, um der hohen Abgabenlast auf den Bruttolohn zu entgehen. Wenn Sie dann Mitarbeiter entlassen, können diese Sie wiederum verklagen und bekommen meist Recht. Der Firmenpool rät bei solchen Unternehmen von einem Kauf ab.
Die eigene Firma gründen und führen
Angenommen, Sie möchten eine Handelsfirma gründen. Die beste Rechtsform hierfür ist die Limitada (zu Deutsch: GmbH). Die ersten Hürden beginnen bei der Registrierung: Sie müssen für die Gesellschafter brasilianische Steuernummern beantragen, was nur über einen Bevollmächtigten und eine Unzahl notariell beglaubigter Dokumente funktioniert. Machen Sie sich auf einen langen und hartnäckigen Kampf mit der Bürokratie gefasst. Dann der Mitarbeiterproporz: Für jeden aus dem Ausland Entsandten müssen zwei Brasilianer bei gleicher Entlöhnung eingestellt werden. Ausnahmen gibt es, wenn Sie glaubwürdig darstellen können, dass Sie keinen ähnlich qualifizierten Einheimischen finden konnten. Auch das brasilianische Steuersystem ist sehr kompliziert und je nach Region verschieden. Es verändert sich ständig und enthält jede Menge verdeckter Steuern. Kein Wunder, dass sich die geplante Einführung einer Mehrwertsteuer schon seit Jahren hinzieht: Um den Wegfall vieler versteckter Abgaben auszugleichen, müsste die Mehrwertsteuer so hoch ausfallen, dass niemand sie akzeptieren würde. Heben Sie auf jeden Fall immer Ihre Rechnungsbelege auf und archivieren Sie sie. Sonst kann es passieren, dass das Finanzamt Sie nach zehn Jahren noch zur Zahlung einer längst abgegoltenen Schuld verdonnert.
„Murphys Gesetz gilt auch in Brasilien! Hier ändern sich die Verhältnisse manchmal über Nacht: Land und Leute sind dynamisch, gelegentlich zu sehr.“
Wichtige Hintergrundinfo zur Personalsuche: Das brasilianische Bildungssystem ist betont antielitär und in weiten Teilen unzureichend. Die Lehrer an öffentlichen Schulen sind unterbezahlt, viele Jugendliche verlassen die Schule, ohne richtig lesen zu können, und das Niveau an den Universitäten sinkt. Die Suche nach qualifizierten Mitarbeitern wird dadurch erschwert, dass viele Bewerbungen reine Fantasiegebilde sind und es keine aussagekräftigen Arbeitszeugnisse gibt. Wenn Sie fähige Führungskräfte suchen, stützen Sie sich deshalb auf Referenzen. Für technologiebetonte Positionen können Sie deutsche Mitarbeiter entsenden, da diesen ohnehin mehr Respekt gezollt wird. Brasilianer eignen sich besser für die Mitarbeiterführung und den direkten Kontakt zu Kunden. Als Arbeitgeber müssen Sie mit unvorhergesehenen Schikanen rechnen, denn das komplizierte Arbeitsrecht steht fast immer aufseiten des Arbeitnehmers. Ehemalige Arbeitgeber zu verklagen ist in Brasilien ein Volkssport. Jährlich werden stolze zwei Millionen Prozesse angestrengt.
Mit Ehrlichkeit zum Ziel
Machen Sie sich keine Illusionen: Brasilien ist kein Niedriglohnland. Die bürokratischen Hürden und die Steuerlasten sind erheblich, und die Chancen, dass Sie übers Ohr gehauen oder Opfer korrupter Staatsdiener werden, stehen nicht schlecht. Auf jeden Fall sollten Sie – wann immer möglich – Schmiergeldzahlungen vermeiden. Mit etwas Geduld kommen Sie auf legalem Weg auch zum Ziel. Trotz aller Probleme liegen in diesem riesigen Land aber unzählige unentdeckte Schätze. Sie müssen sich nur selbst herbemühen, vor Ort Kontakte knüpfen und ein Gespür für die Brasilianer entwickeln. Menschen machen mit Menschen Geschäfte – in Brasilien mehr als anderswo.