Die Harzreise

Buch Die Harzreise

Berlin, 1826
Diese Ausgabe: Hoffmann und Campe,


Worum es geht

Die Geburt des modernen Feuilletons

Als der Jurastudent Heinrich Heine 1824 von lang­weili­gen Vorlesungen und staub­trock­e­nen Lehrbüchern die Nase voll hatte, brach er zu einer Wanderung durch den Harz auf. Zu Fuß durch die wilde Natur wollte er das wirkliche Leben jenseits von Hörsälen und Bib­lio­theken wieder­ent­decken. Die Begeis­terung und die unbändige Lebens­freude, die ihn unter freiem Himmel ergriff, vermittelt seine im­pres­sion­is­tis­che, bewusst subjektiv gehaltene Harzreise bis heute. Das Werk des jungen Dichters lässt sich in keine Schublade stecken. Es ist politisch und privat, romantisch und realistisch zugleich. Das un­mit­tel­bare Nebeneinan­der von lyrisch-schwärmerischen Naturschilderun­gen und bissiger Zeitkritik, von Ironie und Poesie, jour­nal­is­tis­chem und lit­er­arischem Stil macht seine Modernität aus. Es quillt nur so über von geistre­ichen Beobach­tun­gen, tr­e­ff­sicheren Wortneuschöpfungen und witzigen An­spielun­gen auf das politische und kulturelle Zeit­geschehen. Trotz dieser Zeitbezüge wirken Heines Reisebeschrei­bun­gen, die stilprägend für das moderne Feuilleton wurden, noch heute frisch wie am ersten Tag.

Take-aways

  • Heinrich Heines Harzreise zählt zu den Klassikern der modernen Reiselit­er­atur.
  • Inhalt: Ein junger Dichter und Student kehrt der Universität und Wis­senschaft für eine Weile den Rücken, um durch den Harz zu wandern. Auf seiner Reise lässt er die Gedanken schweifen, erfreut sich an der schönen Natur und an Begegnungen mit Menschen. Den städtischen Zeitgeist erkennt und entlarvt er hier umso schärfer; er gewinnt neue Einsichten und befreit sich vom akademis­chen Staub.
  • Heines Harzreise ist bewusst frag­men­tarisch und liefert vor allem im­pres­sion­is­tis­che Reiseeindrücke.
  • Obgleich deutlich von der Romantik inspiriert, ve­r­ab­schiedet sich die Harzreise von gängigen Motiven der ro­man­tis­chen Reiselit­er­atur.
  • Das Werk ist reich an ironischen An­spielun­gen auf Politik und Gegen­wart­skul­tur.
  • Heine kritisiert nicht nur Spießbürgertum und restau­ra­tive Tendenzen, sondern auch übertriebe­nen Ver­nun­ft­glauben und Zweck­ra­tional­is­mus.
  • In Österreich und in Göttingen war Die Harzreise zeitweise verboten.
  • Typisch Heine ist das un­mit­tel­bare Nebeneinan­der von Ironie und Poesie, von satirischer Gegen­wart­skri­tik und lyrischer Naturschwärmerei.
  • Die Harzreise bee­in­flusste den feuil­leton­is­tis­chen Stil einer ganzen Generation von Autoren.
  • Zitat: „Wie im Leben überhaupt geht’s uns auch auf dem Harze.“
 

Zusammenfassung

Göttingen – eine staub­trock­ene Wis­senschaftswüste

Göttingen, bekannt für seine Würste und seine Universität, ist eine schöne Stadt. Am schönsten ist sie jedoch, wenn man ihr den Rücken zukehrt. Vor fünf Jahren ist der Ich-Erzähler als Jurastudent dorthin gezogen, und schon damals hatte die Stadt einen grauen, griesgrämigen und altklugen Ruf. Neue Ideen kommen mit reichlich Verspätung nach Göttingen. Die dortige Universität, Mittelpunkt der Stadt, lehrt nur trockenes, lebloses Wissen, keineswegs aber irgendeine Art von höherer Weisheit. Alles wird hier streng logisch und von einem rein wis­senschaftlichen Standpunkt aus betrachtet. Selbst die Frage, ob die Frauen in Göttingen allzu große Füße hätten – der Erzähler kann sie aufgrund eigener intensiver Studien eindeutig verneinen –, wird in einer solchen Atmosphäre zum Gegenstand eines trockenen, akademis­chen Disputs.

„Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover, und enthält 999 Feuer­stellen, diverse Kirchen, eine Ent­bindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist.“ (S. 11 f.)

Die Bewohner der Stadt lassen sich in vier Kategorien unterteilen: Studenten, Professoren, Philister und Vieh, wobei die Grenzen fließend sind. Von allen Kategorien ist die letzte am be­deu­tend­sten. Studenten kommen und gehen in Göttingen, nur die alten Professoren verharren auf ihren Posten – und sie beharren auf ihren verstaubten Positionen. Auf Schritt und Tritt begegnet einem abstoßende pro­fes­so­rale Ignoranz und akademis­ches Philis­ter­tum. Manche behaupten, die Stadt sei in der Zeit der Völk­er­wan­derung gebaut worden. Jedenfalls scheinen die strengen regionalen Ein­teilun­gen und die blutigen Riten der schlagenden Stu­den­ten­verbindun­gen noch aus jener Zeit zu stammen. Selbst die Kinder zeigen hier schon jene dünkelhafte Haltung, die die gesamte Stadt auszeichnet.

„Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht.“ (S. 12)

Kaum hat der Reisende Göttingen hinter sich gelassen, fühlt er sich froh und aus dem engen Para­grafenko­rsett befreit. Im Gegensatz zu der grauen, vom Staub gelehrter Bücher überzogenen Stadt herrscht auf der Landstraße buntes Leben und Treiben. Die Sonne scheint vom blauen Himmel, Milchmädchen und Es­el­streiber, Krämer und aus­ge­lassene Studenten ziehen ihrer Wege. Das Essen im Wirtshaus schmeckt besser als die salzlose akademische Kost, die man in Göttingen aufgetischt bekommt. Bis in die Träume hinein verfolgen den Verfasser die Göttinger Juristen und die altehrwürdigen Rechts­gelehrten mit ihren schweren Gewändern und weißen Perücken, die unter dem Blick der gestrengen Göttin Themis eifrig über Systeme, Hypothesen und andere Kopfge­burten disputieren. Der Ich-Erzähler zieht, wenn er ehrlich ist, der gewaltigen Göttin der Gerechtigkeit dann doch den lieblichen Anblick der Schönheitsgöttin Venus und die süßen Lyraklänge des Dichter­gotts Apoll vor.

Gemein­samkeiten von Natur und Dichtung

Der Ich-Erzähler wandert Richtung Osterode und Clausthal, wo er von einer Anhöhe den Blick auf grüne Tannenwälder und rote Dächer im Son­nen­schein genießt. Die Berge sind steil, die dichten Wälder wogen hin und her wie ein grünes Meer, und am Himmel ziehen bizarre Wolken vorbei. Es ist eine wilde Gegend, doch dieser Eindruck wird durch ihre Einheit und Schlichtheit abgemildert. Alles wirkt harmonisch und beruhigend, die Farben gehen sanft ineinander über. Schroffe Übergänge sucht man hier – wie übrigens auch in gelungenen dich­ter­ischen Werken – vergeblich. Wie ein guter Dichter erschafft auch die Natur mit wenigen, einfachen Mitteln die allerschönsten Effekte. Allerdings erkennt nur derjenige ihre Schönheit, der sie liebevoll und ohne jedes wis­senschaftliche Interesse betrachtet – mit den Augen eines Kindes. Im Unterschied zu Erwachsenen, deren Geist durch Sorgen, Studien und schlechte Dichtung verdorben ist, haben Kinder noch einen un­mit­tel­baren Zugang zu Bäumen, Blumen und Vögeln.

Lebendige Anschauung statt trockenem Buchwissen

Beim Besuch der Clausthaler Berggruben „Dorothea“ und „Carolina“ zeigt sich der Wanderer beeindruckt vom Leben unter Tage. Das ständige Brausen und Sausen, das an den Wänden hi­n­un­tertropfende Wasser und der Qualm haben etwas Furchteinflößendes. Der Blick der Bergleute, die den ganzen Tag einsam im Dunkeln verbringen und mühsam das Erz aus dem Gestein heraushämmern, ist trotz allem hell und klar. Ihre hübschen Lieder, Märchen und Gebete geben ihnen Kraft und steigern das Gemein­schafts­gefühl. Der alte Bergmann, der den Besucher durch die Schächte führt, schwärmt vom Herzog, der schon einmal den Stollen besucht hat, und vom Haus Hannover. Solche einfache, schlichte Un­ter­ta­nen­treue ist schön – und typisch deutsch. Andere Völker mögen mehr Witz und Esprit besitzen, in Sachen Treue aber ist das deutsche Volk unübertroffen.

„Ich war müde wie ein Hund und schlief wie ein Gott.“ (S. 19)

Im Bergstädtchen Zellerfeld, wo die meisten Bergar­beiter leben, gewinnt der Reisende Einblick in den Alltag der Bergar­beiter ebenso wie in ihre kleinen, heimeligen Häuser. Dem Fremden scheint es, als würde das Leben dort stillstehen. Die uralte Frau, die seit Jahrzehnten hinter dem Ofen gegenüber dem mit Schnitzereien verzierten Schrank sitzt, ist in ihrem Denken und Fühlen ganz mit diesen Möbeln verwachsen, ihre Seele ist sozusagen in sie eingegangen. Aus genau dieser Geis­te­shal­tung sind übrigens auch die deutschen Märchen entstanden, in denen Gegenstände wie Strohhalm, Kohle oder Besen belebt sind und menschliche Charak­tereigen­schaften besitzen.

„Jeder von den übrigen Herren trat jetzt ebenfalls näher und hatte etwas hin zu bemerken und hin zu lächeln, etwa ein neu ergrübeltes Systemchen, oder Hy­potheschen, oder ähnliches Mißgebürtchen des eigenen Köpfchens.“ (S. 20)

Die Menschen hier haben sich das Staunen der Kinder bewahrt, das noch für alle Eindrücke offen ist, das weder Absichten verfolgt noch sich in Einzel­heiten verzettelt. Mit zunehmendem Alter tauschen wir die kindliche, auf sinnlicher Anschauung beruhende tiefe Erken­nt­niswelt gegen trockenes Buchwissen ein – ein denkbar schlechtes Geschäft. Wir wachsen zu vornehmen Leuten heran, beziehen feine Wohnungen, die wir vom Di­en­st­per­sonal aufräumen und reinigen lassen, stellen unsere Möbel nach Lust und Laune um und wechseln alte Kleidungsstücke, an die sich doch auch Erin­nerun­gen und Gefühle knüpfen, gegen neue aus. Wir wissen nicht einmal, wie viele Knöpfe die Jacke hat, die wir tragen. So entfremden wir uns ganz allmählich von uns selbst. Die alte Frau hinter dem Ofen dagegen kann ihrem Urenkel Geschichten von ihrem geblümten Rock erzählen, in dem schon ihre Mutter geheiratet hat. Der Urenkel wird sie dann später seinen eigenen Enkeln erzählen – und die Tradition auf diese Weise lebendig halten.

Vernunft und Realismus töten Poesie und Fantasie

Weiter geht es nach Goslar. Die alte Kaiserstadt erweist sich als eine einzige Enttäuschung. Der Dom wurde niederg­eris­sen, der Kaiserstuhl nach Berlin gebracht, und der Christus in der Stephan­skirche mit seinem überaus realistisch geschnitzten, blutver­schmierten Gesicht, das nichts von der Poesie des Schmerzes zeigt, gehört eher in einen anatomis­chen Lehrsaal als in eine Kirche. Besser gefällt dem Wanderer da schon das hübsche Mädchen, das aus einem Fenster schaut und mit dem er anbändelt. „Morgen reise ich fort und komme wohl nie wieder“, flüstert er ihr später am Abend im Hausflur zu – nach seiner Erfahrung die ultimative Za­uber­formel, um das wider­strebende Herz einer Frau zu gewinnen. Und tatsächlich erwidert die schöne Fremde – wenn auch zaghaft – seinen Kuss.

„Das ist schön bei uns Deutschen; keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“ (S. 22)

Nachts im Wirtshaus, angeregt durch die Lektüre einer Schauergeschichte, kommen ihm allerlei Gedanken über Un­sterblichkeit, Furcht und Vernunft. Un­sterblichkeit ist eine feine Sache, meint der Ich-Erzähler. Sie wurde wahrschein­lich von einem braven Nürnberger Bürger mit Pfeifchen im Mund erfunden, der in einem behaglichen Augenblick seines Lebens meinte, so sollte es ewig weitergehen. Und die Vernunft? Doktoren behaupten, die Vernunft sei das höchste Prinzip, und bestreiten die Kraft des Gemüts. Damit philoso­phieren sie die Her­rlichkeit und den Glauben, alle Son­nen­strahlen und Blumen aus unserem Leben heraus. Die Fantasie lässt sich zudem nicht so leicht un­terkriegen, wie sie in ihrer unbedingten Vernunftgläubigkeit behaupten. Mögen Philosophen auch mit allen Mitteln der Logik beweisen, dass es keine Gespenster gibt und dass unsere Gespen­ster­furcht somit absurd ist – wir schlottern dennoch vor Angst, wenn wir einem begegnen.

Die Entza­uberung der Natur durch Rationalität

Von Goslar geht der Wanderer auf allerlei Umwegen und ver­meintlichen Abkürzungen weiter durch den Harz. Ein wohlgenährter Bürger bringt ihn zurück auf den rechten Pfad und klärt ihn nebenbei über die Zweckmäßigkeit der Natur auf – die er so ihres ganzen Zaubers beraubt. Die Bäume seien grün, weil grün gut für die Augen sei, doziert er. Dann habe Gott wohl auch die Rinder erschaffen, damit sich der Mensch daraus eine schöne Fleis­chsuppe koche, ergänzt der Ich-Erzähler, doch seinem Begleiter entgeht die Ironie. Kaum ist der Reisende wieder allein, beginnen die Bäume zu sprechen, die Blumen tanzen und der Himmel umarmt die Erde. Er ist sich sicher: Gott hat den Menschen geschaffen, damit er die Her­rlichkeit der Natur bewundere.

„Eben wie ein großer Dichter, weiß die Natur auch mit den wenigsten Mitteln die größten Effekte hervor zu bringen.“ (S. 24)

Die Schönheit der Gegend treibt ihm die Tränen in die Augen. Am Fuß des weltberühmten Brocken, eines großen Berges inmitten einsamer Wälder, lädt ihn ein Hirte zu Brot und Käse ein – ein wahrhaft königliches Mahl, wie der Reisende meint. Bei der anschließenden Besteigung des Berges erscheinen ihm Wälder, Bäche und Felsen wie verzaubert, Geschichten von Hexen und bösen Geistern fallen ihm ein. Die Vögel singen von Sehnsucht und zwischen den Bäumen erscheint ihm die Geliebte. Vom Gipfel des Brockens hat er einen Blick über viele Hundert Städte, Dörfer, Berge, Wälder und Flüsse. Das bis ins Detail überblick­bare, schar­fgeze­ich­nete Panorama verleiht dem Ort etwas Urdeutsches – ebenso wie die romantische, märchenhafte Verrücktheit des Brockens.

Männliche Vernunft und weibliches Gefühl

Der Son­nenun­ter­gang, den er auf dem Brocken sieht, hat etwas Erhabenes, geradezu Religiöses, und der Son­nenauf­gang, den er am nächsten Morgen nach einer feuchtfröhlichen Nacht erlebt, regt ihn zu einem Gedicht über Naturschönheit und die Sehnsucht nach der Geliebten an. Die pa­thetis­chen Ergüsse und Gemeinplätze, die die anderen Reisenden im Gästebuch hin­ter­lassen haben, holen ihn indes schlagartig auf den Boden der Realität zurück; er wendet sich lieber dem guten Frühstückskaffee zu. Vor der Abreise schenkt er noch einer schönen Dame, die mit ihrer Mutter und einem Begleiter unterwegs ist, eine selbst gepflückte Blume – und ärgert sich über die trockene Wis­senschaftlichkeit, mit der der Begleiter der beiden Damen die Blume nach ihren Staubfäden klas­si­fiziert. Blumen und Menschen aufgrund von Äußer­lichkeiten in Klassen einzuteilen, liegt dem Erzähler gar nicht. Er hat da sein eigenes System entwickelt und teilt alles danach ein, ob es essbar ist oder nicht.

„Un­sterblichkeit! Schöner Gedanke! Wer hat dich zuerst erdacht?“ (S. 40)

Beim Abstieg vom Brocken begeistern ihn die zwischen Gestein und umgestürzten Bäumen plätschernden Quellen. Sie vereinigen sich bald zu einem Bach, der in zahlreichen Wasserfällen ins Tal hinunterstürzt. Die Ilse – so der Name des Baches – erinnert ihn an ein wildes, fröhliches Mädchen, das den Berg hinabläuft, im weißen Schaumge­wand, mit flatternden Bändern und in der Sonne funkelnden Diamanten. Die Frauen kennen noch dieses wunderbare Gefühl, wenn Natur und Seele ver­schmelzen, wenn Bäume und Gedanken, Vogelgesang und Wehmut, Kräuterduft und Erin­nerun­gen eins werden. Männer dagegen neigen dazu, alles logisch zu klas­si­fizieren und in Schubladen einzuteilen. Dadurch verpassen sie das Wesentliche.

Frühling in der Natur und im Herzen

Es ist der 1. Mai, und der Wanderer staunt über den Frühling, der sich über die Erde ausbreitet. Die Bäume blühen, die Städte wirken aufgeräumt und frisch geputzt, die Vögel bauen ihre Nester und auf den Straßen freuen sich die Menschen. Überall herrscht Grün, die Farbe der Hoffnung. Überall blühen die Blumen, und auch das Herz des Dichters blüht in Gedanken an eine Ilse oder Agnes, oder wie auch immer sie heißen möge, wieder auf. Dieses Herz ist kein Veilchen, keine Lilie oder Rose, die heute blüht und morgen welkt, um bald wieder aufzublühen; vielmehr gleicht es einer aben­teuer­lichen, wildfremden Blume aus den brasil­ian­is­chen Wäldern, die angeblich nur alle 100 Jahre einmal blüht und an der man sich leicht verletzen kann.

„In seinem Streben nach dem Positiven hatte der arme Mann sich alles Herrliche aus dem Leben heraus philoso­phiert, alle Son­nen­strahlen, allen Glauben und alle Blumen, und es blieb ihm nichts übrig, als das kalte, positive Grab.“ (S. 42)

Das letzte Mal, als sein Herz blühte, ging die Blume mangels Sonne und Wärme elendig ein. Jetzt aber regt sich das Herz wieder in seiner Brust, eine Knospe schießt hervor und wird bald aufplatzen. Ihr Duft raubt ihm jetzt schon den Verstand, sodass er nicht mehr weiß, wo er noch ironisch ist und wo er beginnt, sentimental zu werden. Am liebsten würde er zerfließen und sich in einzelne Atome auflösen – wie soll das dann erst nachts, unter freiem Ster­nen­him­mel werden? Aber wie gesagt, es ist der 1. Mai, da hat jeder ein Recht auf Sen­ti­men­talität, ganz besonders der Dichter.

Zum Text

Aufbau und Stil

Heinrich Heines Harzreise ist bewusst frag­men­tarisch gehalten und enthält vor allem im­pres­sion­is­tis­che Reiseeindrücke. In die für die damalige Zeit eher um­gangssprach­liche Prosa sind stim­mungsvolle lyrische Passagen und volk­slied­hafte Gedichte eingestreut. Heines ro­man­tisch-schwärmerische Natur- und Land­schafts­beschrei­bun­gen verzichten weitgehend auf objektive In­for­ma­tio­nen und stellen stattdessen die persönlichen Empfind­un­gen des Wanderers in den Vordergrund. Kennze­ich­nend für die Harzreise ist neben dem für Heine typischen trockenen Humor auch der ständige Wechsel zwischen re­al­is­tis­chem und ro­man­tis­chem, satirischem und lyrischem Tonfall, zwischen Persiflage und Poesie. Wo der Autor eben noch in genussvollem Spott über Zeitgenossen herzieht, taucht er wenige Sätze weiter begeistert in die Welt der Sagen und Märchen ein. Die Per­son­ifizierung von Naturge­genständen verleiht dem Reise­bericht bisweilen selbst etwas Märchenhaftes, beinahe Naives. Immer wieder ersinnt der Autor Wortneuschöpfungen („tran­szen­den­tal­grau“, „deutschruhig“), um Personen oder Situationen mit wenigen Strichen treffsicher zu skizzieren.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Wenn Heine schreibt, wie im Harz ginge es auch im Leben zu, fasst er damit das Programm seines Reise­berichts zusammen: nicht nur Naturschönheiten und Sehenswürdigkeiten zu beschreiben, sondern auch das Leben allgemein zu re­flek­tieren.
  • Heine war ein Verehrer Goethes und besuchte ihn auf der Weiterreise in Weimar, gle­ichzeitig dis­tanzierte er sich aber mit seinem betont sub­jek­tiv-as­sozia­tiven Stil deutlich von dessen klassischem, objektivem Lit­er­aturverständnis.
  • Heine zeigt ein am­biva­lentes Verhältnis zu seiner Zeit. Seine Kritik richtet sich gegen das Restau­ra­tive, Ewiggestrige, Spießbürgerliche ebenso wie gegen das allzu laute Rev­o­lu­tion­s­getöse. Aufklärerischer Drang und strikter Ver­nun­ft­glauben sind ihm ebenso ein Dorn im Auge wie religiöser Übereifer und Sin­nes­feindlichkeit.
  • Heines Reise­bericht ist reich an An­spielun­gen auf gegenwärtige politische Ereignisse und wis­senschaftliche Au­seinan­der­set­zun­gen, auf lit­er­arische Moden und prominente Gelehrte seiner Zeit wie Kant oder Hegel. Mit trockenem Humor karikiert er den ra­tio­nal­is­tisch-util­i­taris­tis­chen Blick auf die Natur ebenso wie übertrieben sen­ti­men­tale lyrische Ergüsse zeitgenössischer Schrift­steller.
  • Ob es sich um die Rückständigkeit der Göttinger Universität, den Na­tion­al­is­mus der Burschen­schaften oder den allgegenwärtigen An­ti­semitismus handelt – Heine kleidet seine Zeitkritik in Ironie und nimmt ihr damit alles Bittere, Verbohrte, Dogmatische. Mitunter ist sie kaum spürbar, etwa wenn er scheinbar ehrlich überzeugt, aber doch mit leichtem Au­gen­zwinkern die deutsche Treue lobt.
  • Immer wieder spricht Heine den Verlust von Traditionen und die Entfremdung des modernen Stadt­men­schen von sich selbst und von der Natur an. Eine der Ursachen dafür erkennt er in der Zweck­ra­tionalität, die alle Lebens­bere­iche erfasst hat.
  • Heines Erzählweise ist durch ide­al­is­tis­che Auf­bruch­stim­mung gekennze­ich­net, die immer wieder durch die de­sil­lu­sion­ierende Realitätserfahrung aufgehoben wird. Dieser Kontrast wie auch das un­mit­tel­bare Nebeneinan­der von Hohem und Alltäglichem machen den Witz und die Modernität der Harzreise aus.

His­torischer Hintergrund

Abschied vom ro­man­tis­chen Bild der Reise

Vor dem Hintergrund der neu entste­hen­den In­dus­triege­sellschaft erlebte das Reisen im späten 18. Jahrhundert einen tief greifenden Be­deu­tungswan­del. Waren zuvor vor allem Handwerker und Kaufleute zu Fuß unterwegs gewesen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, so wurde die Wanderung in der Romantik zum Selbstzweck. Wandern beinhaltete nun nicht mehr bloß – wie noch in der altständischen Gesellschaft – ziel­ge­bun­denes Vorwärtskommen. In den Vordergrund rückten die Erfahrungen und Eindrücke, die auf der Wanderung gesammelt wurden. Indem er Schwierigkeiten und natürliche Hindernisse aus eigener Kraft bewältigte, versprach sich der Wanderer eine persönliche Reifung und innerliches Wachstum. Die Beobachtung der Natur bot ihm zudem Anlass zur Selb­st­be­tra­ch­tung, die Landschaft wurde zum Spiegel des eigenen Denkens und Fühlens.

Die Anfänge der touris­tis­chen Erkundung des Harzes reichen bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhun­derts zurück. Meist waren es Adlige und Bürger, Studenten und Künstler, die sich auf den damals noch beschw­er­licheren Weg durch den Harz machten. Zu den bevorzugten Aus­flugszie­len zählten Höhlen, Felsen, Bergwerke, historische Ruinen und natürlich der sagenum­wobene Brocken, der damals noch „Blocksberg“ genannt wurde und als alpin­is­tis­che Her­aus­forderung galt. Im Jahr 1777 unternahm der junge Johann Wolfgang Goethe eine winterliche Reise durch den Harz und bestieg den ver­schneiten, schwer zugänglichen Berg. Mit seinem Gedicht Harzreise im Winter prägte er in den folgenden Jahrzehnten den Diskurs der ro­man­tis­chen „Winterreise“ als Wanderung des einsamen, auf sich selbst zurück­ge­wor­fe­nen Subjekts. Die leblose Natur und frostige Landschaft gerieten – am promi­nen­testen in Wilhelm Müllers Zyklus Winterreise – zum Symbol einer ex­is­ten­ziellen Krise und eines ziellos wandernden Ich. In der Nachfolge Goethes bereisten auch Ludwig Tieck und Novalis den Harz. Ihre Texte erhoben die urtümliche Landschaft zu einem nationalen Topos und zu einer poetischen Chiffre des Erhabenen.

Mit seiner innigen Naturschwärmerei und der ironisch gefärbten Kritik an Aufklärungswahn, Zweck­ra­tionalität und deutschem Philis­ter­tum knüpfte Heines Harzreise an die Tradition ro­man­tis­cher Reiselit­er­atur an. Das abrupte Ende und der bewusst frag­men­tarische Charakter seines Werks wie auch das Berg­w­erk­mo­tiv sind noch typisch romantisch; in seiner Verwendung zeitkri­tis­cher, satirischer Elemente hob sich Heine aber deutlich vom Tonfall reisender Schöngeister ab. Anders als Goethe und seine Nachfolger richtete er den Blick nicht auf Kunst und Kultur vergangener Epochen, sondern bewusst auf das Hier und Jetzt, auf die aktuellen politischen und sozialen Verhältnisse. Er entführte seine Leser nicht – wie etwa Joseph von Eichendorff mit seinem 1826 er­schiene­nen Taugenichts – in eine fan­tastis­che Märchenwelt, sondern zeigte ihnen die Gegenwart. Indem er den ro­man­tis­chen Reise­bericht mit Sozialkri­tik und politischer Satire verband, entwickelte Heine ein ganz neues lit­er­arisches Genre.

Entstehung

Schon seit seinem ersten Aufenthalt in Göttingen und seiner Ausweisung aus der Stadt 1821 wegen einer Duellaffäre hatte Heine eine Wanderung durch den Harz geplant. Sein Arzt hatte dem Studenten, der häufig unter Kopf­schmerzen litt, dazu geraten. Im September 1824 brach er zu der „Gesund­heit­sreise“ auf, die von Göttingen über Northeim, Osterode, Clausthal und Goslar bis zum Brocken und durch das Ilsetal führte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Heine, der sich seit acht Jahren mit seinem Jurastudium herumquälte, zwei Werke veröffentlicht und war als Dichter in engeren lit­er­arischen Kreisen bekannt. Gleich nach seiner Rückkehr nach Göttingen machte er sich daran, seinen Reise­bericht zu schreiben. Die erste Fassung der Harzreise erschien im Januar und Februar 1826 in der Berliner Zeitschrift Der Gesellschafter, allerdings mit einigen Änderungen, die einer Zensur zuvorkommen sollten. Aus Ärger über diese Eingriffe des Her­aus­ge­bers Friedrich Wilhelm Gubitz plante Heine, den Text zusammen mit anderen Prosastücken und Gedichten in einem Band zu veröffentlichen. Für dieses Buch, das im Mai 1826 unter dem Titel Reisebilder erschien, übe­rar­beit­ete Heine die Harzreise noch einmal maßgeblich, ohne jedoch den frag­men­tarischen Charakter zu verändern. Dank der Bemühungen des Hamburger Verlegers Julius Campe hielten die Zensoren sich zurück. In Österreich und in Göttingen war das Buch allerdings zeitweise verboten.

Wirkungs­geschichte

Die Harzreise erzielte schon bald nach dem Erscheinen 1826 trotz am­biva­len­ter Lit­er­aturkri­tiken einen überraschen­den Erfolg beim Publikum und ermöglichte Heine eine unabhängige Existenz als Schrift­steller. Die Reisebilder, die bis 1831 in vier Bänden erschienen, ins­beson­dere die darin einge­bet­tete Fassung der Harzreise, wurden zum Vorbild für eine ganze Generation von Autoren. Mit dem Werk begründete Heine in Deutschland einen modernen feuil­leton­is­tis­chen Stil, der jour­nal­is­tis­ches mit lit­er­arischem Schreiben verbindet und sich an ein breiteres Publikum wendet.

Über den Autor

Heinrich Heine wird am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf als Harry Heine geboren. Seine Eltern sind Juden. Die politischen Wirren dieser Zeit prägen seine Kindheit: Mal steht Düsseldorf unter französischer Verwaltung, mal gehört die Stadt zu Bayern, dann wird sie von russischen Truppen besetzt und kommt 1815 zu Preußen. Unter französischer Herrschaft sind die Juden gle­ich­berechtigt; danach hat Harry unter wachsender Diskri­m­inierung zu leiden. So ist es nicht ver­wun­der­lich, dass er sich bald für die Ideale der Französischen Revolution begeistert. Sein Versuch, in einem bürgerlichen Beruf Fuß zu fassen, gestaltet sich schwierig: Mehrmals beginnt er eine kaufmännische Ausbildung, schließt sie jedoch nicht ab. Er nimmt ein Jurastudium auf, doch auch das macht ihm Mühe. Bereits ab 1817 veröffentlicht er aber Gedichte und arbeitet ab 1822 als Journalist. Wegen seiner politischen Einstellung gerät er jedoch bald in Konflikt mit der Zensur. Um seine Beruf­schan­cen zu verbessern, lässt er sich kurz vor der Promotion taufen und erhält die Vornamen Christian Johann Heinrich. Vergebens bleibt sein Versuch, sich als Recht­san­walt in Hamburg niederzu­lassen, aber dort lernt er immerhin den Verleger Campe kennen, der den jungen Schrift­steller fördert. Obwohl getauft, bleibt Heine wegen seiner jüdischen Herkunft in seinen beruflichen Möglichkeiten begrenzt. Nachdem auch eine Bewerbung um eine Professur scheitert, siedelt er 1831 nach Paris über, wo nach der Julirev­o­lu­tion von 1830 das politische Klima deutlich liberaler ist als in Preußen. Hier arbeitet er als Schrift­steller und Journalist. Er veröffentlicht weiterhin auch in Deutschland und hat durch seine kritischen Texte Ärger mit der Zensur. Als 1844 ein Gren­zhaft­be­fehl gegen ihn aus­ge­sprochen wird, wird Frankreich für ihn endgültig zum Exil. In seinen letzten Leben­s­jahren leidet Heine zunehmend unter Lähmungser­schei­n­un­gen; ab 1848 ist er bettlägerig, am 17. Februar 1856 stirbt er schließlich. Er wird auf dem Friedhof von Montmartre beerdigt. Zu seinen wichtigsten Werken gehören die Liebesgedichte Buch der Lieder (1827) und die satirischen Reisebilder (1826–1831).