Krank, obwohl der Arzt nichts findet
Vermutlich werden Sie jubeln, wenn Ihr Arzt nach ausgiebiger Untersuchung zum Ergebnis kommt: „Ohne Befund.“ Das heißt, Sie sind gesund. Es gibt aber auch Menschen, die deswegen deprimiert und entmutigt sind und hoffen, dass endlich irgendein Arzt eine Krankheit bei ihnen diagnostiziert. Sie leiden an somatoformen Störungen, haben also körperliche Schmerzen, für die kein Arzt organische Ursachen findet.
„Organisch nicht erklärbare Schmerzen stellen für die Betroffenen wie für ihre Ärzte ein besonders unerfreuliches Kapitel dar.“
Die Beschwerden decken nahezu alle medizinischen Fachgebiete ab. Sie reichen von Blähungen oder der Unverträglichkeit bestimmter Lebensmittel bis hin zu Atemnot, epileptischen Anfällen, Schwindelgefühlen oder Sehstörungen. Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und Familienleben sind stark eingeschränkt. Frauen trifft es häufiger als Männer. Warum es manche ereilt und andere verschont bleiben, hängt von Persönlichkeit, Veranlagung, traumatischen Lebenserfahrungen und aktuellem Stresspegel ab.
„Der Betroffene lernt körperliche Missempfindungen falsch zu interpretieren: Der Kopfschmerz wird so zum Hirntumor.“
Sowohl für den Patienten als auch für den Arzt ist das eine sehr unbefriedigende Situation. Letzterer ärgert sich über sein schwieriges Gegenüber, und der Patient geht ohne Diagnose und zunehmend verwirrt nach Hause. Oft fängt für ihn eine Odyssee durch alle möglichen Arztpraxen an, das so genannte Doctor-Hopping.
Regeln für Arzt und Patient
In der Regel führt der erste Weg zum Hausarzt. Ist der erfahren und gut, wird er den Kranken nicht als Simulanten abstempeln, sondern mit ihm nach den Ursachen suchen. Dafür braucht er Zeit, Geduld und Fingerspitzengefühl. Er darf nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig untersuchen. Fünf Regeln erleichtern den Umgang zwischen Arzt und Patient:
- Um sich ein ganzheitliches Bild von seinem Patienten zu machen, muss der Arzt erfragen, wie sein Patient lebt, wie er sich fühlt und wie lange er schon leidet. Am besten führt der Patient ein Beschwerdetagebuch.
- Langes Herumdoktern hilft niemandem. Die Diagnose wird zügig gestellt und in einem offenen Gespräch besprochen.
- Nur ein einziger Arzt behandelt. Regelmäßige Termine festigen die Beziehung und verhindern das Doctor-Hopping.
- Wenn klar ist, dass organisch alles in Ordnung ist, suchen beide gemeinsam nach Lösungen und Therapieformen. Je besser der Betroffene versteht, was mit ihm passiert, desto besser sind die Aussichten auf Erfolg.
- Medikamente sind nur als Zwischenlösung erlaubt.
„Dass bestimmte körperliche Symptome und Beschwerden etwas mit Psyche zu tun haben können und mit dem Ärger am Arbeitsplatz, mit Problemen in der Partnerschaft, mit Stress verbunden sind, spiegelt sich schon wieder in alten überlieferten Redensarten.“
Somatoforme Störungen sind nicht auf einmal heilbar. Je kürzer die Symptome zu Beginn der Therapie vorliegen, desto größer sind die Chancen, gesund zu werden. Kleine Änderungen im Alltag helfen den Betroffenen, wieder einigermaßen normal zu leben. Im Prinzip sollten sie das tun, was ihnen gut tut. Sie sollten sich bewegen und vernünftig essen, Sport treiben, Freundschaften und Familienbeziehungen pflegen.
Vegetatives Nervensystem verbindet Körper und Psyche
„Das ist mir auf den Magen geschlagen“ oder „Mein Herz ist so schwer“: Diese und noch viele andere Redewendungen zeigen, dass nicht unsere Verdauung das Problem ist, sondern der Stress mit dem Chef oder der Familie. Wie Gefühle und Gedanken unseren Körper beeinflussen, ist sehr kompliziert und noch nicht ganz erforscht.
„Immunsystem und Konzentration bestimmter Aminosäuren spielen offenbar eine Schlüsselrolle bei somatoformen Störungen.“
Das vegetative oder autonome Nervensystem verbindet Körper und Psyche miteinander. Mit dem zentralen Nervensystem ist es eng verbunden. Sind Sie traurig, wütend, ärgerlich oder fröhlich, wirkt diese Stimmung auf viele Ihrer Organe. Sie werden blass, rot, der Blutdruck steigt oder Gänsehautschauer jagen über Ihren Körper. Wenn diese Reaktionen nicht nur kurz auftreten, sondern für längere Zeit bleiben und sogar stärker werden, sind somatoforme Störungen möglich.
„Ein probates Mittel gegen das Grübeln über die Krankheit: leichtes körperliches Training in Form von Wandern oder Schwimmen, Sauna und kalt-warmes Duschen.“
Daneben spielen der im Zwischenhirn sitzende Hypothalamus, die Hypophyse, das limbische System des Mittelhirns und die Nebenniere eine wichtige Rolle. Sie alle schütten Botenstoffe aus, die Hormone. Diese beeinflussen den Menschen stark. Sind Sie z. B. von der Arbeit gestresst, schickt der Hypothalamus Stresshormone auf den Weg, die über das vegetative Nervensystem zu Bauch- oder Kopfweh führen. Wiederholt sich das oft, kann es chronisch werden. Der Körper erlernt ein bestimmtes Leiden, es wird normal für ihn. Die gute Nachricht: Man kann ihm schlechte Angewohnheiten auch wieder abtrainieren.
Verhaltenstherapie hilft langfristig
Derzeit gilt die kognitive Verhaltenstherapie als die erfolgversprechendste Therapieform. Zu Beginn der Psychotherapie muss der Therapeut das Vertrauen seines Patienten gewinnen. Er vermittelt ihm, dass er ihn ernst nimmt. Gleichzeitig macht er ihm klar, dass sein Bauchweh nicht zwingend organische, sondern auch psychische Ursachen haben kann. Die Verhaltenstherapie kann allerdings auch keine Wunder bewirken. Nur in kleinen Schritten geht es bergauf.
„Durch ein Biofeedback-Training lernt der Betroffene, dass er viele seiner körperlichen Reaktionen positiv beeinflussen kann.“
Verhaltenstherapeutische Techniken ermöglichen es dem Kranken, zu erkennen, dass körperliche Schmerzen nicht unbedingt körperliche Ursachen haben müssen. Er begreift das Wechselspiel zwischen Körper und Psyche, z. B. mit einem Symptomtagebuch oder durch Verhaltensexperimente. In Biofeedback-Übungen erfährt er, dass er mit seinen Gedanken und Gefühlen sein körperliches Wohlbefinden beeinflussen kann, und lernt, sich abzulenken. Positive Gedanken lösen negative ab. Der von Bauchschmerzen geplagte argwöhnt dann nicht mehr sofort, dass sich in seinem Darm ein Tumor breitmacht. Oft bringt die Krankheit dem Menschen auch etwas, z. B. die ungeteilte Aufmerksamkeit des Partners, oder sie erlaubt ihm, vor Problemen davonzulaufen. Wer sich in der Firma gemobbt fühlt, muss den Konflikt nicht offensiv angehen, wenn er immer krank geschrieben ist. Dies zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt zur Besserung.
„Als überzeugendste Behandlungsform bei somatoformen Störungen gilt heute die kognitive Verhaltenstherapie, deren Wirksamkeit sich in einer Reihe von Therapiestudien erwiesen hat.“
Stockt die Therapie, muss der Kranke zur stationären Behandlung in eine psychosomatisch orientierte Fachklinik eingewiesen werden. Hier hängt der Erfolg größtenteils davon ab, ob der Betroffene nach der Entlassung vom Arzt oder vom Psychotherapeuten weiterhin betreut wird. Am besten empfehlen die Klinikärzte ihren Kollegen, wie es weitergehen soll. Eine andere Art der Hilfe, die bei Betroffenen gut ankommt, ist die minimale Intervention in Kleingruppen. Experten klären drei bis vier Patienten in einer einmaligen etwa vierstündigen Sitzung darüber auf, was somatoforme Störungen sind und wie sie ihre Krankheit positiv beeinflussen können.
Häufige somatoforme Störungen
Die häufigsten somatoformen Störungen sind im Folgenden erklärt. Die Ursachen sind oft nicht eindeutig, sondern bleiben meist ein Stück weit spekulativ.
- Das Reizdarm-Syndrom macht sich mit krampfartigen Bauchschmerzen, Durchfall, Verstopfung, Völlegefühl, Blähungen und depressiven Gefühlen bemerkbar. Die Organe sind gesund, aber das vegetative und das zentrale Nervensystem verarbeiten Reize auf besondere Art und Weise.
- Wer unter dem Fibromyalgie-Syndrom leidet, hat rheumatische Schmerzen, aber kein Rheuma. Schuld sind das Immun- und Hormonsystem. Die Betroffenen schlafen schlecht, haben kalte Hände, Finger, Füße, Zehen, Nase und Kinn, Kopfschmerzen oder geschwollene Arme und Hände. Meistens trifft es Frauen, die kaum noch normal leben können. Ein Hoffnungsschimmer bleibt: Oft verschwindet die Krankheit spontan nach dem 60. Lebensjahr.
- Die Ursachen für eine Herzphobie sind nicht verarbeitete Ängste oder funktionelle Störungen. Die betroffenen Personen haben Herzklopfen bis zum Herzjagen. In ihrer Brust drückt und sticht es. Der Schmerz strahlt in den linken Arm aus. Sie beobachten sich ständig, weil sie Angst haben, an einer schlimmen Herzkrankheit zu leiden. So ist der Körper dauernd in Alarmbereitschaft. Herzphobiker sind müde, erschöpft, schlaflos, niedergeschlagen, nervös, unruhig, sie schwitzen, zittern und es wird ihnen schwarz vor Augen.
- Bei der somatoformen Schmerzstörung spüren die Patienten Schmerzen im Gesicht, im Unterleib, in Armen und Beinen. Die meisten werden krank, bevor sie 35 Jahre alt sind. Oft trifft es sogar Kinder und Jugendliche. Frauen leiden häufiger darunter als Männer. Viele dieser Menschen haben traumatische Dinge in ihrer Kindheit erlebt. Sie haben ein niedriges Selbstwertgefühl und möchten anerkannt werden. Viele haben Probleme im Umgang mit ihren Gefühlen und ihren Mitmenschen.
- Gefühlskonflikte und psychosoziale Probleme verursachen den chronischen Unterbauchschmerz der Frau. Der führt zu starken, andauernden Schmerzen im Unterleib. Viele Frauenärzte sind davon überfordert und schlagen fragwürdige Therapien vor: Entweder werden die Frauen mit Medikamenten betäubt oder operiert. Zeitweise führen die Operationen dank Placebo-Effekt zu einer Besserung, langfristig hilft aber nur eine Therapie.
- Das chronische Erschöpfungssyndrom ist schwer zu diagnostizieren. Wer über ein halbes Jahr lang erschöpft ist und sich wie gelähmt fühlt, leider wahrscheinlich darunter. Aber auch Kopf-, Hals-, Muskel- und Gelenkschmerzen, geschwollene Lymphknoten, Schlaf-, Konzentrationsstörungen und ein allgemeines Unwohlsein sind möglich. Vermutlich löst nicht nur eine Ursache das Syndrom aus, sondern viele spielen eine Rolle. Eventuell ist oder war die Person psychisch krank.
- Unter umweltbezogenen Körperbeschwerden leiden vor allem gebildete Frauen im mittleren Alter. Sie reagieren sehr sensibel auf Umweltreize. Das können chemische Stoffe sein, Elektrosmog oder minimale Strahlenbelastungen. Kopfschmerzen, Schwindel, gereizte Augen, Nase und Mund sowie Müdigkeit, Schwäche, Magenprobleme, Atemnot, gereizte und trockene Haut sind die Folge. Die Betroffenen empfinden viele Gerüche als sehr unangenehm. Auch ihr Geschmackssinn ist sehr empfindlich. Die Verhaltenstherapie lindert langfristig. Weniger hilfreich ist es, alle potenziellen Reize zu vermeiden.
- Wer sich krankhaft um sein Äußeres sorgt, leidet an der körperdysmorphen Störung. Die betroffenen Frauen und Männer empfinden sich als hässlich. Daran ändern auch Schönheitsoperationen wenig. Ursachen sind Erlebnisse in Kindheit und Jugend, ein gestörter Stoffwechsel sowie gesellschaftliche Zwänge.
- Menschen mit hypochondrischer Störung sind von der Idee besessen, unheilbar krank zu sein. Körperliche Schmerzen deuten sie als Vorboten der Todeskrankheit. Wer Kopfweh hat, glaubt, ein Hirntumor sei schuld.