Wenn der Arzt nichts findet

Buch Wenn der Arzt nichts findet

Kranksein ohne Befund

Humboldt,


Rezension

Man kommt sich schnell als Simulant und Wichtigtuer vor und zweifelt an sich selbst: Seit Monaten von höllischen Kopf­schmerzen gepeinigt, rennt man von Arzt zu Arzt, und keiner ist in der Lage, eine Diagnose zu stellen. Für viele Menschen ist das zermürbende Realität. Über 80 % der Bevölkerung leiden gemäß diesem Buch zumindest zeitweise an so­mato­for­men Störungen. Sie sind krank ohne Befund, die Ärzte sind oft überfordert. Wilhelm Girstenbrey beschreibt in seinem Buch Krankheits­bilder, Ursachen, Therapiemöglichkeiten und fasst sie am Ende in einer übersichtlichen Tabelle zusammen. An die Ärzte appelliert er, ihre Patienten ganzheitlich zu betrachten. Das geht nur, wenn sie sich von der herrschen­den Annahme lösen, dass jede körperliche Krankheit auch körperliche Ursachen haben muss. Viele Wieder­hol­un­gen und eine klinisch nüchterne Sprache stehen einer angenehmen Lektüre leider im Weg. Aber das Buch eröffnet Betroffenen in jedem Fall neue Per­spek­tiven und macht ihnen Mut. BooksInShort empfiehlt es darum allen, die unter ungeklärten Beschwerden leiden.

Take-aways

  • Wer krank ist, ohne dass der Arzt etwas findet, leidet möglicher­weise an einer so­mato­for­men Störung.
  • Das sind körperliche Beschwerden, die harmlos, aber auch richtig schlimm sein können und deren Ursache zunächst nicht medizinisch ergründet werden kann.
  • Beispiele sind das Reiz­darm-Syn­drom, das Fi­bromyal­gie-Syn­drom, die Herzphobie oder das chronische Erschöpfungssyn­drom.
  • Gefühle und Gedanken schlagen sich in körperlichen Schmerzen nieder.
  • Eine wichtige Rolle spielt dabei das vegetative Ner­ven­sys­tem, das den Körper mit der Psyche verbindet.
  • Daneben sind ver­schiedene Hirn­re­gio­nen und Hormone in kom­plizierten Wech­sel­beziehun­gen beteiligt.
  • Ob einen Menschen so eine Erkrankung trifft, hängt von Persönlichkeit, Veranlagung, trau­ma­tis­chen Erlebnissen sowie aktuellem Stresspegel ab.
  • Arzt und Patient müssen gemeinsam nach einer geeigneten Therapie suchen.
  • Die kognitive Ver­hal­tens­ther­a­pie gilt als am er­fol­gver­sprechend­sten.
  • Sie klärt den Kranken darüber auf, was mit ihm passiert, und führt schrit­tweise aus der Krise.
 

Zusammenfassung

Krank, obwohl der Arzt nichts findet

Vermutlich werden Sie jubeln, wenn Ihr Arzt nach ausgiebiger Un­ter­suchung zum Ergebnis kommt: „Ohne Befund.“ Das heißt, Sie sind gesund. Es gibt aber auch Menschen, die deswegen deprimiert und entmutigt sind und hoffen, dass endlich irgendein Arzt eine Krankheit bei ihnen di­ag­nos­tiziert. Sie leiden an so­mato­for­men Störungen, haben also körperliche Schmerzen, für die kein Arzt organische Ursachen findet.

„Organisch nicht erklärbare Schmerzen stellen für die Betroffenen wie für ihre Ärzte ein besonders uner­freuliches Kapitel dar.“

Die Beschwerden decken nahezu alle medi­zinis­chen Fachgebiete ab. Sie reichen von Blähungen oder der Unverträglichkeit bestimmter Lebens­mit­tel bis hin zu Atemnot, epilep­tis­chen Anfällen, Schwindel­gefühlen oder Sehstörungen. Leben­squalität, Leistungsfähigkeit und Fam­i­lien­leben sind stark eingeschränkt. Frauen trifft es häufiger als Männer. Warum es manche ereilt und andere verschont bleiben, hängt von Persönlichkeit, Veranlagung, trau­ma­tis­chen Lebenser­fahrun­gen und aktuellem Stresspegel ab.

„Der Betroffene lernt körperliche Mis­sempfind­un­gen falsch zu in­ter­pretieren: Der Kopfschmerz wird so zum Hirntumor.“

Sowohl für den Patienten als auch für den Arzt ist das eine sehr un­be­friedi­gende Situation. Letzterer ärgert sich über sein schwieriges Gegenüber, und der Patient geht ohne Diagnose und zunehmend verwirrt nach Hause. Oft fängt für ihn eine Odyssee durch alle möglichen Arztpraxen an, das so genannte Doc­tor-Hop­ping.

Regeln für Arzt und Patient

In der Regel führt der erste Weg zum Hausarzt. Ist der erfahren und gut, wird er den Kranken nicht als Simulanten abstempeln, sondern mit ihm nach den Ursachen suchen. Dafür braucht er Zeit, Geduld und Fin­ger­spitzengefühl. Er darf nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig untersuchen. Fünf Regeln erleichtern den Umgang zwischen Arzt und Patient:

  1. Um sich ein ganzheitliches Bild von seinem Patienten zu machen, muss der Arzt erfragen, wie sein Patient lebt, wie er sich fühlt und wie lange er schon leidet. Am besten führt der Patient ein Beschw­erde­tage­buch.
  2. Langes Herum­dok­tern hilft niemandem. Die Diagnose wird zügig gestellt und in einem offenen Gespräch besprochen.
  3. Nur ein einziger Arzt behandelt. Regelmäßige Termine festigen die Beziehung und verhindern das Doc­tor-Hop­ping.
  4. Wenn klar ist, dass organisch alles in Ordnung ist, suchen beide gemeinsam nach Lösungen und Ther­a­piefor­men. Je besser der Betroffene versteht, was mit ihm passiert, desto besser sind die Aussichten auf Erfolg.
  5. Medikamente sind nur als Zwischenlösung erlaubt.
„Dass bestimmte körperliche Symptome und Beschwerden etwas mit Psyche zu tun haben können und mit dem Ärger am Ar­beit­splatz, mit Problemen in der Part­ner­schaft, mit Stress verbunden sind, spiegelt sich schon wieder in alten überliefer­ten Redensarten.“

Somatoforme Störungen sind nicht auf einmal heilbar. Je kürzer die Symptome zu Beginn der Therapie vorliegen, desto größer sind die Chancen, gesund zu werden. Kleine Änderungen im Alltag helfen den Betroffenen, wieder einigermaßen normal zu leben. Im Prinzip sollten sie das tun, was ihnen gut tut. Sie sollten sich bewegen und vernünftig essen, Sport treiben, Fre­und­schaften und Fam­i­lien­beziehun­gen pflegen.

Vegetatives Ner­ven­sys­tem verbindet Körper und Psyche

„Das ist mir auf den Magen geschlagen“ oder „Mein Herz ist so schwer“: Diese und noch viele andere Re­dewen­dun­gen zeigen, dass nicht unsere Verdauung das Problem ist, sondern der Stress mit dem Chef oder der Familie. Wie Gefühle und Gedanken unseren Körper bee­in­flussen, ist sehr kompliziert und noch nicht ganz erforscht.

„Immunsystem und Konzen­tra­tion bestimmter Aminosäuren spielen offenbar eine Schlüsselrolle bei so­mato­for­men Störungen.“

Das vegetative oder autonome Ner­ven­sys­tem verbindet Körper und Psyche miteinander. Mit dem zentralen Ner­ven­sys­tem ist es eng verbunden. Sind Sie traurig, wütend, ärgerlich oder fröhlich, wirkt diese Stimmung auf viele Ihrer Organe. Sie werden blass, rot, der Blutdruck steigt oder Gänse­hautschauer jagen über Ihren Körper. Wenn diese Reaktionen nicht nur kurz auftreten, sondern für längere Zeit bleiben und sogar stärker werden, sind somatoforme Störungen möglich.

„Ein probates Mittel gegen das Grübeln über die Krankheit: leichtes körperliches Training in Form von Wandern oder Schwimmen, Sauna und kalt-warmes Duschen.“

Daneben spielen der im Zwis­chen­hirn sitzende Hy­po­thal­a­mus, die Hypophyse, das limbische System des Mittelhirns und die Nebenniere eine wichtige Rolle. Sie alle schütten Botenstoffe aus, die Hormone. Diese bee­in­flussen den Menschen stark. Sind Sie z. B. von der Arbeit gestresst, schickt der Hy­po­thal­a­mus Stresshormone auf den Weg, die über das vegetative Ner­ven­sys­tem zu Bauch- oder Kopfweh führen. Wiederholt sich das oft, kann es chronisch werden. Der Körper erlernt ein bestimmtes Leiden, es wird normal für ihn. Die gute Nachricht: Man kann ihm schlechte Ange­wohn­heiten auch wieder ab­trainieren.

Ver­hal­tens­ther­a­pie hilft langfristig

Derzeit gilt die kognitive Ver­hal­tens­ther­a­pie als die er­fol­gver­sprechend­ste Ther­a­pieform. Zu Beginn der Psy­chother­a­pie muss der Therapeut das Vertrauen seines Patienten gewinnen. Er vermittelt ihm, dass er ihn ernst nimmt. Gle­ichzeitig macht er ihm klar, dass sein Bauchweh nicht zwingend organische, sondern auch psychische Ursachen haben kann. Die Ver­hal­tens­ther­a­pie kann allerdings auch keine Wunder bewirken. Nur in kleinen Schritten geht es bergauf.

„Durch ein Biofeed­back-Train­ing lernt der Betroffene, dass er viele seiner körperlichen Reaktionen positiv bee­in­flussen kann.“

Ver­hal­tens­ther­a­peutis­che Techniken ermöglichen es dem Kranken, zu erkennen, dass körperliche Schmerzen nicht unbedingt körperliche Ursachen haben müssen. Er begreift das Wech­sel­spiel zwischen Körper und Psyche, z. B. mit einem Symp­tom­tage­buch oder durch Ver­hal­ten­sex­per­i­mente. In Biofeed­back-Übungen erfährt er, dass er mit seinen Gedanken und Gefühlen sein körperliches Wohlbefinden bee­in­flussen kann, und lernt, sich abzulenken. Positive Gedanken lösen negative ab. Der von Bauch­schmerzen geplagte argwöhnt dann nicht mehr sofort, dass sich in seinem Darm ein Tumor breitmacht. Oft bringt die Krankheit dem Menschen auch etwas, z. B. die ungeteilte Aufmerk­samkeit des Partners, oder sie erlaubt ihm, vor Problemen davonzu­laufen. Wer sich in der Firma gemobbt fühlt, muss den Konflikt nicht offensiv angehen, wenn er immer krank geschrieben ist. Dies zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt zur Besserung.

„Als überzeu­gend­ste Be­hand­lungs­form bei so­mato­for­men Störungen gilt heute die kognitive Ver­hal­tens­ther­a­pie, deren Wirksamkeit sich in einer Reihe von Ther­a­pi­es­tu­dien erwiesen hat.“

Stockt die Therapie, muss der Kranke zur stationären Behandlung in eine psy­cho­so­ma­tisch orientierte Fachklinik eingewiesen werden. Hier hängt der Erfolg größtenteils davon ab, ob der Betroffene nach der Entlassung vom Arzt oder vom Psy­chother­a­peuten weiterhin betreut wird. Am besten empfehlen die Klinikärzte ihren Kollegen, wie es weitergehen soll. Eine andere Art der Hilfe, die bei Betroffenen gut ankommt, ist die minimale In­ter­ven­tion in Kle­in­grup­pen. Experten klären drei bis vier Patienten in einer einmaligen etwa vierstündigen Sitzung darüber auf, was somatoforme Störungen sind und wie sie ihre Krankheit positiv bee­in­flussen können.

Häufige somatoforme Störungen

Die häufigsten so­mato­for­men Störungen sind im Folgenden erklärt. Die Ursachen sind oft nicht eindeutig, sondern bleiben meist ein Stück weit spekulativ.

  1. Das Reiz­darm-Syn­drom macht sich mit kramp­far­ti­gen Bauch­schmerzen, Durchfall, Verstopfung, Völlegefühl, Blähungen und depressiven Gefühlen bemerkbar. Die Organe sind gesund, aber das vegetative und das zentrale Ner­ven­sys­tem verarbeiten Reize auf besondere Art und Weise.
  2. Wer unter dem Fi­bromyal­gie-Syn­drom leidet, hat rheuma­tis­che Schmerzen, aber kein Rheuma. Schuld sind das Immun- und Hor­mon­sys­tem. Die Betroffenen schlafen schlecht, haben kalte Hände, Finger, Füße, Zehen, Nase und Kinn, Kopf­schmerzen oder geschwol­lene Arme und Hände. Meistens trifft es Frauen, die kaum noch normal leben können. Ein Hoff­nungss­chim­mer bleibt: Oft ver­schwindet die Krankheit spontan nach dem 60. Lebensjahr.
  3. Die Ursachen für eine Herzphobie sind nicht ve­r­ar­beit­ete Ängste oder funk­tionelle Störungen. Die betroffenen Personen haben Herzklopfen bis zum Herzjagen. In ihrer Brust drückt und sticht es. Der Schmerz strahlt in den linken Arm aus. Sie beobachten sich ständig, weil sie Angst haben, an einer schlimmen Herzkrankheit zu leiden. So ist der Körper dauernd in Alarm­bere­itschaft. Herz­pho­biker sind müde, erschöpft, schlaflos, niedergeschla­gen, nervös, unruhig, sie schwitzen, zittern und es wird ihnen schwarz vor Augen.
  4. Bei der so­mato­for­men Schmerzstörung spüren die Patienten Schmerzen im Gesicht, im Unterleib, in Armen und Beinen. Die meisten werden krank, bevor sie 35 Jahre alt sind. Oft trifft es sogar Kinder und Jugendliche. Frauen leiden häufiger darunter als Männer. Viele dieser Menschen haben trau­ma­tis­che Dinge in ihrer Kindheit erlebt. Sie haben ein niedriges Selb­st­wert­gefühl und möchten anerkannt werden. Viele haben Probleme im Umgang mit ihren Gefühlen und ihren Mitmenschen.
  5. Gefühlskon­flikte und psy­chosoziale Probleme verursachen den chronischen Un­ter­bauch­schmerz der Frau. Der führt zu starken, andauernden Schmerzen im Unterleib. Viele Frauenärzte sind davon überfordert und schlagen fragwürdige Therapien vor: Entweder werden die Frauen mit Medika­menten betäubt oder operiert. Zeitweise führen die Operationen dank Placebo-Ef­fekt zu einer Besserung, langfristig hilft aber nur eine Therapie.
  6. Das chronische Erschöpfungssyn­drom ist schwer zu di­ag­nos­tizieren. Wer über ein halbes Jahr lang erschöpft ist und sich wie gelähmt fühlt, leider wahrschein­lich darunter. Aber auch Kopf-, Hals-, Muskel- und Ge­lenkschmerzen, geschwol­lene Lymphknoten, Schlaf-, Konzen­tra­tionsstörungen und ein allgemeines Unwohlsein sind möglich. Vermutlich löst nicht nur eine Ursache das Syndrom aus, sondern viele spielen eine Rolle. Eventuell ist oder war die Person psychisch krank.
  7. Unter umwelt­be­zo­ge­nen Körperbeschw­er­den leiden vor allem gebildete Frauen im mittleren Alter. Sie reagieren sehr sensibel auf Umweltreize. Das können chemische Stoffe sein, Elektrosmog oder minimale Strahlen­be­las­tun­gen. Kopf­schmerzen, Schwindel, gereizte Augen, Nase und Mund sowie Müdigkeit, Schwäche, Ma­gen­prob­leme, Atemnot, gereizte und trockene Haut sind die Folge. Die Betroffenen empfinden viele Gerüche als sehr unangenehm. Auch ihr Geschmackssinn ist sehr empfindlich. Die Ver­hal­tens­ther­a­pie lindert langfristig. Weniger hilfreich ist es, alle poten­ziellen Reize zu vermeiden.
  8. Wer sich krankhaft um sein Äußeres sorgt, leidet an der körperdys­mor­phen Störung. Die betroffenen Frauen und Männer empfinden sich als hässlich. Daran ändern auch Schönheit­sop­er­a­tio­nen wenig. Ursachen sind Erlebnisse in Kindheit und Jugend, ein gestörter Stof­fwech­sel sowie gesellschaftliche Zwänge.
  9. Menschen mit hypochon­drischer Störung sind von der Idee besessen, unheilbar krank zu sein. Körperliche Schmerzen deuten sie als Vorboten der Todeskrankheit. Wer Kopfweh hat, glaubt, ein Hirntumor sei schuld.

Über den Autor

Wilhelm Girstenbrey ist Medi­z­in­pub­lizist. Er hat für Tages- und Wochen­zeitun­gen sowie für den Hörfunk und die Fachpresse gearbeitet. Seine Spezial­ge­bi­ete sind Gesund­heit­spoli­tik, Psy­cho­so­matik, Rheuma­tolo­gie, Gynäkologie und En­dokri­nolo­gie.