Juliette

Buch Juliette

oder die Vorteile des Lasters

Paris, 1796 bis 1797
Diese Ausgabe: Ullstein,


Worum es geht

Umwertung aller Werte

Sicher, Sex ist in diesem Buch allgegenwärtig. Aber es als erotisches Werk zu verstehen, würde ihm nicht gerecht werden. Auch von einem Roman mit einer Entwicklung von Figuren in Konflikten kann man im eigentlichen Sinne nicht sprechen. Vielmehr ist es eine Aneinan­der­rei­hung immer monströser werdender Episoden. Angesichts der Monotonie, der ständigen Wieder­hol­ung und der Ab­scheulichkeit wird man der ebenso drastischen wie plastischen Beschrei­bun­gen von Geschlechtsverkehr schnell überdrüssig. So gesehen ist de Sades Werk Juliette kein lit­er­arisches Meisterwerk. Seine Bedeutung liegt allerdings in seiner sonst nicht mehr erreichten Radikalität. Es handelt sich um eine profunde Gesellschafts- und Herrschaft­skri­tik: De Sade brandmarkt das Frankreich seiner Zeit als Gewaltherrschaft und skizziert geradezu prophetisch die inneren Mechanismen aller nach­fol­gen­den totalitären Diktaturen bis in die Gegenwart. De Sade erreicht seine Radikalität, indem er den intimsten Bereich des Men­schlichen total ent­tabuisiert und in Verbindung mit grausamen Verbrechen bringt. Der Pakt mit dem Bösen wird als die einzig vernünftige und dem Menschen „natürlichste“ Lebensweise vorgeführt.

Take-aways

  • Gemeinsam mit dem Par­al­lel­ro­man Justine gehört Juliette oder die Vorteile des Lasters zu den Hauptwerken der sogenannten erotischen Literatur.
  • Inhalt: Schon im ju­gendlichen Alter im Non­nen­kloster verführt worden, entscheidet sich Juliette für den Weg des Lasters. Es gelingt ihr, sich durch Pros­ti­tu­tion, sexuelle Auss­chwei­fun­gen und ab­scheuliche Verbrechen die Vorteile zu verschaffen, die ihr eine selb­st­bes­timmte und wohlhabende Existenz ermöglichen.
  • De Sade steigert die natürliche Wollust zu immer groteskeren Formen, von Gewalt bis hin zum Verbrechen.
  • Die Laster­haftigkeit wird konsequent als materieller und moralischer Vorteil dargestellt – eine Umwertung aller tra­di­tionellen Werte.
  • Diese verkehrte Welt kann als Fun­da­mentalkri­tik am Frankreich des 18. Jahrhun­derts gesehen werden, aber auch als Analyse jeder Art von Gewaltherrschaft.
  • Psy­chol­o­gisch betrachtet zeigt sich bei de Sade, dass der Macht- und Gewal­trausch den Charakter einer Sucht hat, die ständig gesteigert werden muss.
  • In sprach­licher und erzählerischer Hinsicht wirkt das Buch eintönig; seine Bedeutung liegt in der Radikalität der Darstellung.
  • Das Werk muss vor dem Hintergrund der in­tellek­tuellen und sozialen Spannungen und der Dekadenz der Adelsklasse kurz vor der Französischen Revolution gesehen werden.
  • De Sade verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis und in der Ir­re­nanstalt, wo er auch starb.
  • Zitat: „Das Laster macht viel mehr Glückliche als die Tugend, ich diene also viel mehr der allgemeinen Wohlfahrt, wenn ich das Laster schütze, als wenn ich die Tugend belohne.“
 

Zusammenfassung

Juliette wird entjungfert

Die 13-jährige Juliette kommt gemeinsam mit ihrer Schwester Justine zur Erziehung in das Frauen­kloster Panthemont in Paris. Dessen Vorsteherin ist die 30-jährige Äbtissin Délben, eine reiche und in den Pariser Adel­skreisen gut vernetzte Frau. Sie führt die hübsche Juliette in die Praktiken der lesbischen Liebeskunst ein. Délben geht es um das Erleben physischer Ekstasen der Wollust, auch unter Beteiligung mehrerer Personen, um das Abhalten ritueller Liebesmahle, um En­tjungfer­un­gen mit künstlichen, umgeschnall­ten Gliedern und dergleichen mehr.

Die Hure und der Lebemann

Nach dem Tod von Juliettes Eltern verwehrt Délben Juliette die Rückkehr ins Kloster. Sie tritt darum in die Dienste der Edelkup­p­lerin Duvergier und durch deren Vermittlung alsbald in den Haushalt des reichen Monsieur de Noirceuil ein. Er zwingt seine junge Gattin, Madame de Noirceuil, zum Zusehen und Mitmachen bei den Auss­chwei­fun­gen mit Juliette, an denen noch zwei Lustknaben beteiligt sind. Zudem überträgt er Juliette sogar die häusliche Ober­herrschaft und gönnt ihr allerlei Luxus bis zum Besitz eines eigenen Wagens. Wegen einer Verleumdung für anderthalb Tage ins Gefängnis geworfen, wird Juliette vom ein­flussre­ichen Noirceuil befreit, der sich seiner guten Beziehungen zu dem korrupten Minister Saint-Fond rühmt. Noirceuil erteilt Juliette nun eine Lektion in Dankbarkeit: Er entlarvt jede Wohltat als getarnten Egoismus. Da er also Juliette nur aus Eigennutz aus dem Gefängnis befreit habe, wolle er ihre Dankbarkeit nicht. Zugleich bringt er Juliette dazu, das ihr zur Last gelegte Verbrechen einer Un­schuldigen in die Schuhe zu schieben, der dafür der Tod durch den Strang droht.

Der allmächtige Minister bringt den Prunk

Juliette diniert mit dem etwa 50-jährigen, enorm ein­flussre­ichen und wohlhaben­den Jus­tizmin­is­ter Saint-Fond, der aus einem alten Adels­geschlecht stammt. Aufgrund seiner Stellung kann Saint-Fond willkürlicher schalten und walten als selbst der König. So kann er verhaften lassen, wen er will. Zudem versteht er es vorzüglich, sich aus der Staatskasse zu bedienen. Während gemeinsamer Auss­chwei­fun­gen zusammen mit Noirceuil, dessen Gattin und dem Pariser Gerichtspräsidenten nebst einer stattlichen Anzahl von männlichen und weiblichen Lust­per­so­nen erteilt der geistreiche und hochmütige Saint-Fond Juliette eine Lektion über seine Auffassung von Wohlfahrt: Dieser sei am besten gedient, wenn mächtige Männer wie er wenigstens für sich selbst täten, was sie für nützlich hielten. Da es von vornherein unmöglich sei, die All­ge­mein­heit zu beglücken, sei es nur recht, wenn die Priv­i­legierten sich selbst glücklich machten. Und da das Laster viel mehr Glück schenke als die Tugend, beschütze und belohne er lieber Ersteres.

„Die obersten Grundsätze meiner Philosophie (...) bestehen darin, der öffentlichen Meinung zu trotzen.“ (Madame Délben zu Juliette, S. 8)

Eines Tages verlangt Saint-Fond von Juliette, dass sie sich im Lauf der Orgie an der Tötung der „lang­weili­gen Zierpuppe“ Madame de Noirceuil beteiligt. Nachdem Saint-Fond diese ausgiebig misshandelt hat, schüttet Juliette ihr ein Giftpulver in den Wein. Die Leiche wird anschließend im Garten vergraben. Saint-Fond schlägt dem mit­beteiligten Noirceuil eine Heirat mit einer seiner Töchter vor.

Sie gehen bis zum äußersten Exzess

Saint-Fond glaubt, in Juliette eine ebenbürtige Gle­ich­gesin­nte des Lasters vor sich zu haben. Zunächst macht er sie zu seiner Komplizin, indem er ihr gegen hohe Belohnung aufträgt, auf seine Anweisung politische oder persönliche Gegner mit Gift aus dem Weg zu räumen. Auch einen zweiten Pakt bietet er ihr an, wiederum gegen großzügige Entlohnung: In der palais­ar­ti­gen Residenz, über die sie mit­tler­weile verfügt, soll sie für Saint-Fond und einen kleinen Kreis Vertrauter so erlesene wie auch ab­scheuliche Orgien ve­r­anstal­ten. Als Juliette angesichts dieses Ansinnens zu feilschen anfängt und den Preis in exorbitante Höhen treibt, ist Saint-Fond entzückt – über ihre Eigensucht und Habgier. Durch willkürliche Haftbefehle darf sie fortan ihre persönliche Rachsucht nach Belieben befriedigen. Für die Orgien bewilligt Saint-Fond ihr 10 Millionen Franc, wovon sie die Kosten decken muss. Or­gan­isieren muss sie neben einer Fülle der erlesensten Speisen, Weine und Lust­per­so­nen auch raffinierte the­atralis­che Effekte, mit denen die Gewalt­fan­tasien der teilweise ziemlich lenden­lah­men Lüstlinge aufs Äußerste anges­tachelt werden sollen.

Be­friedi­gung durch ruchlose Verbrechen

Auf ihre Bitte nach einer ebenbürtigen, erfahrenen Mentorin macht Noirceuil Juliette mit Madame de Clairvil bekannt, einer reichen, umfassend gebildeten und attraktiven Witwe mit eiskaltem Herzen. Alsbald ergötzen sich beide Damen in raf­finiertestem Liebesspiel. Clairvil gibt Juliette allerlei kluge Ratschläge. Wiederholt weist sie sie darauf hin, es sich nie mit ihrem Gönner Saint-Fond zu verderben. Allein von diesem Despoten würden ihre Stellung und ihr materielles Glück abhängen. Solchermaßen innerlich bestärkt, verkleidet sich Juliette anschließend als Mann und erschießt aus purer Mordlust eine ihr völlig unbekannte Frau. Sie lässt sich mit wonnigen Schauern verhaften und vor Saint-Fond bringen, der sie er­wartungs­gemäß umgehend befreit.

„Oh, Juliette, lebe so wie ich glücklich im Verbrechen, (...) und du wirst nicht mehr leben können, ohne welche zu begehen; dann werden alle men­schlichen Gesetze und Übereinkünfte dir lächerlich erscheinen, du wirst aus allen men­schlichen Tugenden Laster machen, und alle Laster werden dir zur Tugend werden (...)“ (Madame Délben, S. 9 f.)

Saint-Fond spannt Juliette nun bei einem Komplott ein, das er gerade plant. Er will Cloris, seinen ehemaligen Gönner bei Hofe, dem er überhaupt seine Stellung verdankt, aus dem Weg räumen – samt dessen Familie. Dazu hat Saint-Fond ihn bereits bei der Königin dermaßen verunglimpft, dass sie seine Enthauptung verlangt. Juliette lockt die arglose Familie in ihr Landhaus. Dort wird diese gefangen gesetzt und hin­gerichtet. Bevor der Henker, aus­ges­tat­tet mit sehr großem Glied und früher auch ein Lustknabe Saint-Fonds, der un­schuldigen Familie die Köpfe abschlägt, wird er von Juliette verführt.

Wenn die Grausamkeit maßlos wird

Juliette lebt nun in großem Luxus in ihren ver­schiede­nen Besitzungen in Paris und Umgebung. Sie hat Heerscharen von Be­di­en­steten, von denen die meisten ihr auch zur täglichen sexuellen Be­friedi­gung dienen. Auf dem Land herrscht derweil große Hungersnot. Alle Bitten um Almosen lehnt Juliette mit dem Argument ab, die Anlage und der Unterhalt ihrer Gärten und Wäldchen käme sie schon teuer genug. Um ihre Wollust an dieser Art von Grausamkeit zu steigern, beschließt sie, nicht nur das Gute zu verweigern, sondern das Böse absichtlich herbeizuführen. Bei einem heuch­lerischen Besuch in einem Häuschen einer armen, kinder­re­ichen Familie legt sie heimlich Feuer. Nachdem sie sich entfernt hat, entzückt sie sich bis zum Exzess an den lodernden Flammen und der Vorstellung, dass darin Menschen umkommen. Zurück in ihrem Haus lässt sie sich sofort vom gesamten Gesinde wie eine dreckige Hure miss­brauchen. Als sie die Episode Clairvil erzählt, wirft diese ihr Feigheit und Kleinmütigkeit vor: Sie hätte lieber gleich ein ganzes Dorf nieder­bren­nen sollen.

Die „Gesellschaft der Ver­brechens­fre­unde“

Am Stadtrand von Paris führt Clairvil Juliette nun als Novizin in einen Geheimklub von „Ver­brechens­fre­un­den“ ein. Hier verkehrt man nackt, hauptsächlich zur gegen­seit­i­gen Be­friedi­gung der Wollust, die kein Mitglied dem anderen verweigern darf. Immer neue Lustknaben und -mädchen werden in speziellen Serails zusätzlich zur Verfügung gestellt, wo auch Folter und Lustmorde vollzogen werden. Die Mitglieder dieser Gesellschaft folgen ausführlichen Statuten, in denen genau das als verpflich­t­end festgelegt wird, was nor­maler­weise verboten ist – also hem­mungslose Sexualität, Verbrechen, das Verleugnen jeglicher Religion und Gotteslästerung. Standes- und Geschlechterun­ter­schiede sind für die Aufnahme in den Klub irrelevant, aber die Mitglieder müssen jung und sehr wohlhabend sein.

„Die Wollust verträgt keine Fesseln und sie ist nie süßer, wie wenn sie alle zerrissen hat.“ (S. 15)

Bei einer späteren Zusam­menkunft hält der Graf von Belmort als neuer Präsident der Gesellschaft einen langen Vortrag über den naturgegebe­nen Unwert der Frauen, die bei fast allen Völkern zu Recht unterdrückt und möglichst gering geschätzt würden. Die anders gearteten europäischen Kul­tur­sit­ten, die den Frauen Achtung zollen, seien widernatürlich und gegen dieses Naturgesetz. Ebenso sei das emotionale Liebes­begehren, das sich nur auf eine Person richte und nach der meta­ph­ysis­chen Vereinigung mit dieser strebe, strikt abzulehnen. Es führe lediglich zu Verlustängsten und damit in die Unfreiheit. Belmort wird neben Juliette, Clairvil, Noirceuil und Saint-Fond der fünfte im engeren Verbund der laster­haftesten Sexver­brecher.

Der Griff nach dem Gift und die Flucht

Gemeinsam mit Clairvil besucht Juliette am Stadtrand eine Gift­mis­cherin und Wahrsagerin namens Durand. Von der Meisterin ihres Fachs wollen sie sowohl Aphro­disi­aka als auch Gifte erwerben. Die Wirkung der Gifte wird an hübschen, armen Kindern oder Ju­gendlichen erprobt und die Damen ergötzen sich daran, wie sie in Krämpfen sterben. Nach einer Aus­peitschung der beiden Damen sagt Duran ihnen aus ihrem Blut die Zukunft voraus. Juliette wird prophezeit: „Wo das Laster endet, beginnt das Unglück.“

„Er war ein Verbrecher, folglich achtete ich ihn.“ (über Noirceuil, S. 28)

Ungefähr zwei Jahre später be­wahrheitet sich die Prophezeiung. Juliette ist nun 22 Jahre alt und Saint-Fond schlägt ihr vor, sich an einem Entvölkerung­spro­jekt Frankreichs zu beteiligen. Er möchte die Menschen verhungern lassen, um so die Hungersnot zu bekämpfen. Davor schreckt Juliette zurück. Saint-Fond betrachtet sie damit schlagartig als Verräterin. Noirceuil gibt Juliette zu verstehen, dass sie nach dem Entzug von Saint-Fonds Gunst aus Frankreich fliehen muss. Da ihr ganzer auss­chweifender Luxus und der größte Teil ihrer Einkünfte als Edelkup­p­lerin von Saint-Fond abhängig waren, ist sie nun fast mittellos.

„Das Laster macht viel mehr Glückliche als die Tugend, ich diene also viel mehr der allgemeinen Wohlfahrt, wenn ich das Laster schütze, als wenn ich die Tugend belohne.“ (Saint-Fond, S. 39)

Sie reist mit der erstbesten Kutsche nach Angers, wo niemand sie kennt. Schnell findet sie in dem vermögenden Grafen von Lorsange einen neuen Gönner. Der will sie allerdings zur Tugend bekehren. Juliette fällt es nicht schwer, sich durch Heuchelei und Betrug ein neues Wohlleben zu sichern. Sie heiratet den Grafen sogar und bekommt eine Tochter. Da sie aber immer noch Saint-Fonds Rache fürchten muss, beschließt sie, nach Italien zu fliehen. Um sich Lorsanges Eigentum und seine Einkünfte zu sichern, bringt sie ihn mit einem Gift Durand um.

Lustreise durch Italien mit Papstbesuch

Die erste größere Station ist ein Aufenthalt am Hof Leopolds, des Herzogs der Toskana. Dort ve­r­anstal­tet Juliette Orgien. Mit einem Empfehlungss­chreiben Leopolds reist Juliette nach Rom. Hier kommt es zu Orgien mit den ein­flussre­ich­sten Kardinälen und schließlich mit dem Papst, den Juliette mit „du alter Affe“ anredet.

„Das wäre doch ein recht närrischer Staatsmann, der sich seine Vergnügungen nicht vom Staat zahlen ließe; was kümmert uns das Elend des Volkes, wenn wir nur unsere Lei­den­schaften befriedigen können?“ (Saint-Fond, S. 51)

Auf der Weiterfahrt nach Neapel wird Juliettes Reisegruppe von dem schw­er­re­ichen Räuber­haupt­mann Brisa-Testa gefangen genommen und auf dessen Schloss in einen Kerker geworfen. Man befürchtet das Schlimmste, vor allem von der berüchtigten Gattin des Hauptmanns. Als die Gefangenen ihr vorgeführt werden, entpuppt sie sich als Juliettes Pariser Komplizin Clairvil, die Juliette einige Jahre lang nicht gesehen hat. Clairvil ist in Wahrheit die leibliche Schwester des Räubers Brisa-Testa, mit dem sie in inzestuöser Ehe lebt. Brisa-Testa erzählt ausführlich von seiner Jugend und von seinem unsteten Leben, das ihn nach Holland, England, Schweden und Russland führte, wobei er in Schweden in ein Königsmord­kom­plott verwickelt war.

Blut säumt den Weg zurück nach Paris

Juliette und Clairvil begehen weitere Schandtaten: Sie werfen Olympia Borghese, eine Herzogin, die in Juliette verliebt ist und ihr aus Rom nachgereist ist, in den Krater des Vesuv und bringen Charlotte von Habsburg, die Gattin des Königs von Neapel, dazu, für sie den halben Staatss­chatz Neapels zu stehlen. Dann beschließen die beiden Freundinnen die Heimkehr nach Paris. Unterwegs treffen sie zufällig in Ancona auf die Gift­mis­cherin Durand. Sie verrät Juliette, Clairvil wolle sie töten, um sich in den Besitz ihres Vermögens zu bringen. Um dem zu­vorzukom­men, vergiftet Juliette ihre Freundin und reist gemeinsam mit Durand über Venedig zurück nach Frankreich. Saint-Fond ist inzwischen gestorben, sodass sie nichts mehr zu befürchten hat. Juliette lässt sich in aller Ruhe und mit dem gewohnten Luxus in Paris nieder, nimmt Kontakt mit Noirceuil auf und heckt mit ihm zur reinen Lust­be­friedi­gung weitere Verbrechen aus, darunter – als Epidemie getarnt – die Vergiftung ganzer Dörfer mit Hunderten von Toten.

Zum Text

Aufbau und Stil

Bei Juliette handelt es sich um ein vieltausend­seit­iges Werk; die vorliegende Textausgabe bietet nur einen Bruchteil davon. Das Buch besteht aus sechs mit römischen Ziffern gekennze­ich­neten Kapiteln, die aber durch das Zusammenkürzen sehr un­ter­schiedliche Längen aufweisen. Das Buch ist rein episo­den­haft aufgebaut, entlang der immer weiter um sich greifenden Auss­chwei­fun­gen der Hauptfigur. Erzählt wird aus der Ich­per­spek­tive. Der Begriff „Roman“ ist bestenfalls im Sinne von „teilweise frei erfunden“ zu verstehen, nicht aber in dem einer Hand­lungs­dra­maturgie oder einer Charak­ter­en­twick­lung. Das einzige Steigerungse­le­ment ist die zunehmende Gewalttätigkeit der sexuellen Handlungen. Alle wichtigeren Figuren sind Stereotype, die sich nicht verändern, alle Neben­fig­uren sind ausschließlich zum sexuellen Gebrauch bestimmt. De Sades Stil zeichnet sich nicht durch besondere Sprachkunst aus, seine ein­fall­slosen, mech­a­nis­tis­chen Schilderun­gen sexueller Handlungen langweilen schnell. Die Bedeutung des Werks liegt allein in der Radikalität des Entwurfs einer Gewaltherrschaft.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Nach wenigen Seiten Lektüre von de Sades Juliette wird man feststellen, dass es kein erotischer Roman ist. Sexualität ist hier nie mit Emotionen verbunden, sondern wird nur zynisch behandelt, zur Be­friedi­gung reiner Wollust und oft in bewusst perverser, tabubrechen­der Form. Sexualität ist bei de Sade eine Form von Gewalt, was sehr schnell Mis­shand­lung, Folter und Verbrechen bis hin zum Mord einschließt.
  • Die Handlung ist in den obersten Machtzirkeln der Gesellschaft angesiedelt, deren moralische Verkom­men­heit und Willkürherrschaft im Buch gespiegelt werden. Die extrem auss­chweifende Gewalt­sex­u­alität bei de Sade steht daher symbolisch für die entfesselte Staats­ge­walt des Ancien Régime, also Frankreichs vor der Revolution. Insofern kann de Sades Buch als verstecktes staat­spoli­tis­ches Traktat gelesen werden. Ein anderes Vorbild für de Sades Darstellung einer Dekaden­zherrschaft war die sprichwörtlich verlotterte Kaiser­herrschaft in Rom etwa zur Zeit Neros.
  • Die Kom­plizen­schaft ist ein wesentliches Element der staats- und gesellschaft­spoli­tis­chen Analyse de Sades: Durch materielle Belohnungen und Privilegien scharen Gewaltherrscher einen kleinen Kreis der Laster­haften und Verbrecher um sich. Diese Art der Korruption, die Priv­i­legierung und Bere­icherung von eingewei­hten Macht­cliquen, gehört zur Grund­struk­tur jeder Gewaltherrschaft, nicht nur des Ancien Régime. De Sade weist hier geradezu prophetisch auf alle großen und kleinen Diktaturen des 19. und 20. Jahrhun­derts voraus – inklusive des geplanten Völkermords.
  • Der psy­chol­o­gis­che Aspekt der Handlung ist darin zu sehen, dass die Beteiligten des Macht- und Gewal­trauschs sich in ihrem inneren Zirkel durchaus bewusst sind, dass es sich um Verbrechen handelt. Heim­lichtuerei und Ver­schwiegen­heit sind integrale Be­standteile solcher Systeme. Insofern bestätigen gerade diese schlimmsten Verbrecher die Gültigkeit der Moral- und Geset­ze­sor­d­nung.
  • Die Formen tabuloser, ungezügelter Wollust haben bei de Sade die Struktur einer Sucht: Sobald eine gewisse Schwelle des Aus­pro­bierens überschrit­ten ist, wollen die Unzüchtigen immer mehr, sie wollen es immer härter, die Reize müssen ständig gesteigert werden. Schließlich werden Folter und Tötung der Sexualopfer zur Gewohnheit.

His­torischer Hintergrund

Die zwei Gesichter der Spätaufklärung

Die Aufklärung war nicht nur eine geistige Bewegung – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun­derts wurde auch auf natur­wis­senschaftlichem und technischem Gebiet der Anschub für die gewaltige Mod­ernisierung Europas gegeben. James Cook und andere Seefahrer unternahmen Wel­tendeck­ungsreisen und wis­senschaftliche Ex­pe­di­tio­nen, Carl von Linné läutete mit seinem Buch Systema Naturae die sys­tem­a­tis­che biologische Natur­forschung ein, Richard Arkwright gab mit der von Wasser- und später von Dampfkraft angetriebe­nen Spin­n­mas­chine den Auslöser für die in­dus­trielle Revolution und Antoine Laurent de Lavoisier begründete mit der Entdeckung von Sauerstoff, Kohlenstoff und anderen Elementen die moderne Chemie.

Während all diese Neuerungen und gle­ichzeitig die Ideen der Aufklärung sich ver­bre­it­eten, wurden mit Ausnahme der Niederlande und der Schweiz alle Staaten Europas von monar­chis­chen Dynastien beherrscht. Sie reagierten sehr un­ter­schiedlich auf die Veränderungen der Zeit. Etliche europäische Fürsten versuchten, ihre Länder in vielerlei Hinsicht zu reformieren, etwa was Bildung, Agrar­wirtschaft, Besteuerung, Justiz oder Tol­er­anzpoli­tik betraf. Dazu zählten in gewissem Umfang Preußen unter Friedrich II. und Österreich unter Joseph II. Andere reagierten zunehmend reaktionär – unter ihnen an erster Stelle das einst vor­bildliche, aber nunmehr dekadente, durch und durch korrupte, völlig überschuldete und reformunfähige Frankreich. Zu den klassischen politischen In­stru­menten der Reaktion gehörten Polizeis­taatlichkeit und Zensur. Beide wurden im Ancien Régime in großem Umfang eingesetzt, vor allem in Form der berüchtigten „lettres de cachet“, der willkürlichen Haftbefehle zur Beseitigung missliebiger Personen. Im Übrigen behauptete auch die Kirche bis zum Ende des Ancien Régime ihren bes­tim­menden Einfluss auf das offizielle geistige Leben, obwohl viele prominente Aufklärer teils aus philosophis­chen Gründen, teils aus einem neuen Naturverständnis heraus eine dezidiert athe­is­tis­che Haltung einnahmen, darunter Voltaire und Paul Thiry d’Holbach.

Entstehung

Der Roman Juliette oder die Vorteile des Lasters steht in engem Zusam­men­hang mit de Sades Werk Die neue Justine oder das Unglück der Tugend: Justine und Juliette sind Schwestern, die eine tugendhaft, die andere verdorben. Sade widmete sich zunächst Justines Geschichte: Justine oder das Unglück der Tugend schrieb er während seiner Kerkerhaft in der Bastille, wenige Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution. Zunächst als „philosophis­che Erzählung“ bezeichnet, veröffentlichte Sade das Werk 1791, kurze Zeit, nachdem er im Zuge der Revolution auf freien Fuß gesetzt worden war. 1796 verfasste er mit Juliette oder die Vorteile des Lasters die Geschichte über Justines Schwester. 1797 folgte dann Die neue Justine oder das Unglück der Tugend, sowie die Geschichte der Juliette, ihrer Schwester als wesentlich erweiterte Ausgabe in zehn Bänden mit über 4000 Seiten und zahlreichen pornografis­chen Il­lus­tra­tio­nen.

De Sade war in seiner langjährigen Haftzeit ein eifriger Leser klassischer Literatur sowie philosophisch-staat­spoli­tis­cher Schriften von Cicero über Machiavelli bis zu seinem Zeitgenossen Montesquieu. Intensiv verarbeitet hat er auch die Schriften des deutschstämmigen Aufklärers Thiry d’Holbach, eines entsch­iede­nen Re­li­gion­s­geg­n­ers und Vertreters einer mech­a­nis­tisch-ma­te­ri­al­is­tis­chen Welt- und Nat­u­ran­schau­ung. Es liegt daher nahe, in de Sades Schilderun­gen von Sex­ualmiss­brauch und Gewalt auch politische Im­p­lika­tio­nen zu sehen.

Wirkungs­geschichte

Abgesehen von der schock­ieren­den Wirkung, die die Lektüre von de Sade zweifellos hat, war und ist die geis­tes­geschichtliche Wirkung vielfältig. Werke wie Juliette, kurz nach ihrem Erscheinen auch als Raubdrucke viel gelesen, kamen im 19. Jahrhundert unter Verschluss. Autoren und Denker von den Romantikern Edgar Alan Poe und Thomas De Quincey über Charles Baudelaire bis zu den Symbolisten setzten sich aber mit den Schriften und Gedanken de Sades auseinander, ebenso die Sur­re­al­is­ten im 20. Jahrhundert sowie zahlreiche philosophisch-lit­er­arische Denker bis in die Gegenwart. So widmeten etwa Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Die Dialektik der Aufklärung ein Kapitel der Juliette. Da gerade in Juliette die wichtigsten Figuren Frauen sind und sich völlig unabhängig von tra­di­tionellen weiblichen Rol­len­klis­chees verhalten, verwundert es nicht, dass auch führende geistige Vertreterin­nen der Frauen­be­we­gung wie Angela Carter, Simone de Beauvoir, Susan Sontag oder Andrea Dworkin sich mit de Sade und dessen Werken au­seinan­derge­setzt haben. Im deutschsprachi­gen Theater ist das Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schaus­piel­truppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1964) von Peter Weiss die bekannteste Au­seinan­der­set­zung mit de Sade.

Über den Autor

Donatien Alphonse François Marquis de Sade wird am 2. Juni 1740 in Paris geboren. Seine Eltern gehören einem alten, aber verarmten Adelshaus an. Nach der Kindheit in Paris und bei Verwandten in der Provence besucht er ab seinem zehnten Lebensjahr ein Je­suit­enkol­leg in Paris und anschließend die Militärakademie. Nach der Teilnahme am Siebenjährigen Krieg heiratet er 1763 Renée-Pélagie de Montreuil – vor allem aus fi­nanziellen Gründen. In den folgenden Jahren führt de Sade ein auss­chweifendes Leben, verkehrt mit Pros­ti­tu­ierten und verführt zusammen mit seiner Frau sogar Hausmädchen und Diener. 1768 beschuldigt ihn eine junge Frau, er habe sie zur Sodomie gezwungen und dazu, sich aus­peitschen zu lassen. Auch wenn es nicht zu einer Gerichtsver­hand­lung kommt, häufen sich die Berichte von den Orgien des Marquis. Er flieht zunächst auf sein Schloss in der Provence und 1772 nach Italien, um einem Todesurteil zu entgehen: Er ist angeklagt worden, mehrere Pros­ti­tu­ierte mit vergifteten Bonbons zu einer Lustorgie verführt und dadurch den Tod einer der Damen verschuldet zu haben. 1777 kehrt er nach Paris zurück, wird inhaftiert und in die Festung Vincennes gesperrt. Das Todesurteil wird zwar aufgehoben, aber nach einem Fluchtver­such 1784 landet de Sade im feudalen Kerker der Bastille. Hier lebt er keineswegs bescheiden, lässt sich vom Leibkoch Essen ins Gefängnis bringen und widmet sich einem aus­gedehn­ten Lit­er­aturstudium. Im Gefängnis beginnt er, sich aus­ge­fal­l­ene Sex­u­al­prak­tiken auszumalen, und verfasst Les 120 Journées de Sodome (Die 120 Tage von Sodom, veröffentlicht erst 1909). Später folgen unter anderem Justine (1791) sowie La Philosophie dans le boudoir (Die Philosophie im Boudoir, 1795). Kurz vor dem Sturm auf die Bastille wird de Sade in die Ir­re­nanstalt von Charenton verlegt, allerdings im Verlauf der Französischen Revolution entlassen. Unter den Jakobinern und später unter Napoleon landet er immer wieder im Gefängnis. 1803 kommt de Sade erneut nach Charenton, wo er am 2. Dezember 1814 im Alter von 74 Jahren stirbt.