Über die Religion

Buch Über die Religion

Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In: Über die Religion. Schriften. Predigten. Briefe.

Berlin, 1799
Diese Ausgabe: Verlag der Weltreligionen,


Worum es geht

Anschauung und Gefühl

„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“, lautet die berühmte Gretchen­frage aus Goethes Faust. Dass man diese Frage nicht eindeutig beantworten kann, zeigen Schleier­ma­ch­ers Reden in Über die Religion. Die erste größere Schrift des Frühro­man­tik­ers richtet sich mit geschlif­f­ener Rhetorik und profundem Wissen gegen ein eindi­men­sion­ales Re­li­gionsverständnis. „Die Kirchen waren leer und verdienten es zu sein; die Theater waren gedrängt voll, und mit Recht“, berichtete 1799 ein nor­wegis­cher Dichter über seine Reise nach Berlin. Solche Urteile konnten den Pfar­rerssohn Schleier­ma­cher natürlich nicht kaltlassen. Er un­ter­stellte seinen Zeitgenossen, sie hätten es sich in ihrer selbst geschaf­fe­nen Welt – zu der neben Kultur und Theater auch die Wis­senschaften gehörten – allzu gemütlich gemacht. Das Universum und der Schöpfer, der dieses her­vorge­bracht hätte, in­ter­essiere sie nicht mehr. Die Wis­senschaft war für Schleier­ma­cher zu kleinkari­ert und zu sehr auf die endlichen Phänomene der Welt aus­gerichtet, anstatt sich dem Unendlichen, der Religion, zu widmen. Der wohl berühmteste Satz der Reden ist der von der Religion als Anschauung und Gefühl. Das Werk begeisterte seinerzeit viele Leser. Andere kri­tisierten den Ansatz als gefühlsduselig. Trotzdem: ein großer Wurf für die Re­li­gion­sphiloso­phie.

Take-aways

  • Über die Religion legte den Grundstein für Schleier­ma­ch­ers weitre­ichende Wirkung als Theologe und Re­li­gion­sphilosoph.
  • Das Werk besteht aus fünf Reden, die gle­ichzeitig Kampf­schrift und Vertei­di­gung der Religion sind.
  • Inhalt: Die Menschen haben den Bezug zum Unendlichen und deshalb auch zur Religion verloren. Diese ist aber ein men­schliches Grundbedürfnis. Sie ist weder Morallehre oder Metaphysik noch eine Ansammlung starrer Formen, sondern die Öffnung des Menschen zum Universum. Wahre Religion ist tolerant und ohne Dogmen, sie liebt die Freiheit und hilft dem Menschen in seiner Entwicklung.
  • Die Religion war eines der zentralen und um­strit­ten­sten Themen der Aufklärung.
  • Schleier­ma­ch­ers Schrift ist eine Au­seinan­der­set­zung mit der ver­nun­ftzen­tri­erten Re­li­gion­skri­tik.
  • Der Autor setzt auf Gefühl und Anschauung, was seiner Meinung nach dem Wesen der Religion eher gerecht wird als die schiere Vernunft.
  • Die Theologie Schleier­ma­ch­ers in Über die Religion ist keine Lehre von Gott, sondern vom men­schlichen Glauben an ihn.
  • Die Reden erregten viel Aufsehen und wurden speziell von den Romantikern in den höchsten Tönen gelobt.
  • Schleier­ma­cher verteidigt die Religion und greift deren „gebildete Verächter“ an, teilt aber die Kritik am kirchlichen Dogmatismus.
  • Zitat: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ (über die Religion)
 

Zusammenfassung

Welt und Menschheit sind nur durch Religion zu begreifen

Seit Langem schon erscheint Wis­senschaftlern, Philosophen und Dichtern die Beschäftigung mit der Religion als unnötig: Diese weisen Menschen sind vollkommen mit ihren eigenen Themen beschäftigt und haben sich mit ihnen eine ausgefüllte Welt geschaffen, sodass sie darüber ihre Herkunft vergessen und für das Göttliche kein Raum bleibt. Es wird Zeit, wieder für die Religion zu streiten und sie zu verteidigen. Nicht, um ihren Untergang zu beklagen. Sondern um erneut zu erkennen, dass die Schöpfung der Ursprung des Lebens ist, aus dem heraus jedes Wesen überhaupt erst wirken kann.

„Es ist euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, dass ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem ihr euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben, an dasjenige zu denken, welches euch schuf.“ (S. 15)

Viele Wis­senschaftler konzen­tri­eren sich lediglich auf die Analyse einzelner Details, nicht auf die Betrachtung der Phänomene als Gesamtheit. Eine echte, tiefer gehende Erkenntnis ist so nicht möglich. Vielmehr drehen sich die In­tellek­tuellen um sich selbst, lediglich darauf bedacht, sich anhand ihrer Tätigkeiten Genuss und Be­friedi­gung zu schaffen, um immer wieder zu neuen Fragen überzugehen. Im Gegensatz zu ihnen verkörpern die von Gott Beseelten alle Aspekte des Daseins und können deshalb um­fan­gre­icher und langfristiger wirken. Das Streben nach dem Ewigen und Unendlichen ist auch für Forscher und Denker möglich. Sie haben sogar die Aufgabe, ihrem jeweiligen Publikum die Religion als greifbares Phänomen darzustellen.

Religion ist der Maßstab aller Dinge

Die Religion soll nicht über Wis­senschaft, Philosophie und Literatur tri­um­phieren, aber sie soll wesentliche Inhalte in diese einbringen. Beispiel­sweise sind Metaphysik und Moral schon durch ihren Gegenstand mit der Religion verbunden: das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm. Doch Metaphysik und Moral werden über eigene Gesetzmäßigkeiten und Regeln definiert, die als absolut und verbindlich gelten. Gle­ichzeitig werden religiöse Einflüsse und Gegeben­heiten bewusst aus­geklam­mert, obwohl Metaphysik und Moral im Grunde zwei Teil­bere­iche der Religion sind. Es ist daher kein Wunder, dass die Verfechter des irdischen Flickwerks nicht zu einer höheren Philosophie finden, denn das längst vorhandene Ziel vor ihren Füßen lehnen sie ab.

„Stellet euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werdet ihr finden, dass beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nämlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm.“ (S. 38)

Die Religion ist in ihrer Haltung weiter und edler als die Wis­senschaft: Sie will nicht besitzen, bestimmen oder willkürlich Ansprüche stellen, sondern anschauen, wirken und fühlen lassen. Sie sieht nicht den Menschen, sondern das Universum als Mittelpunkt und Ursache aller En­twick­lun­gen und Zusammenhänge. Sie will nichts der angestrebten Idee der Freiheit unterwerfen, wie es die Moral tut, sondern lässt jedes Individuum als Teil der Natur mit ihren Kräften gelten. Nur so können Mensch und Welt als Ganzes gefasst, verstanden und beurteilt werden.

Die Freiheit der Religion

Der Status quo der Wis­senschaft darf stets bezweifelt werden: Die Forschung ist im Fluss, immer wieder werden neue Phänomene aufgedeckt – etwa im Weltall. Die Religion hingegen will nicht anhand einzelner Ergebnisse überzeugen, sondern fördert allgemeine Werte und Fixpunkte, um zu gewährleisten, dass Neues neben Altem bestehen kann, dass keine falschen Begehrlichkeiten aufkommen und dass sich niemand von vorübergehenden Er­schei­n­un­gen blenden lässt. Sie ist somit der einzige Maßstab, der über Aktualitäten steht, jedem Individuum tatsächlich persönliche Meinungs- und Gefühlsfreiheit gestattet und die Menschen emotional adäquat begleitet. Diejenigen, die bestrebt sind, die Gesellschaft vo­ranzubrin­gen, sollten nicht verleugnen, dass sie in ihrem neugierigen Streben auch von dieser Großzügigkeit geprägt sind. Nicht zuletzt die von ihnen verfolgten Begriffe wie In­di­vid­u­alität, Einheit und Freiheit entspringen eben gerade nicht der Wis­senschaft.

„Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.“ (über die Religion, S. 43)

Die Religion nährt zudem den Kern und Motor des men­schlichen Handelns: den Drang, weit­erzukom­men. Es ist unnütz, sich immer wieder mit der Kritik an einzelnen Menschen zu verzetteln, deren Meinung zu negieren oder sie für dumm zu erklären. Was das Universum insgesamt an Vorhandenem und an Einsichten bietet, sollte man annehmen und tolerieren. Der Mensch für sich kann gar nicht all den Möglichkeiten entsprechen, die über ihn hinaus vorhanden sind – weshalb er als niedriger als das Universum betrachtet werden muss und weshalb die Religion über den Dingen steht. Un­sterblichkeit kann erst erreicht werden, wenn man sich zuvor mit all diesen Aspekten befasst hat, wenn man sie erkannt hat und wenn man versucht hat, mitten im irdischen Leben mit der Un­endlichkeit eins zu werden – durch Religion.

Religion wächst aus echter Überzeugung

Wie kann sich die Religion voll entfalten? Ihr Ziel ist es, jedes Individuum im Herzen zu berühren. Gelingt ihr das nicht, zieht sie sich zurück und drängt sich nicht auf, denn sie will nur aus sich selbst heraus überzeugen. Ein Anliegen, das angesichts der aktuellen Ori­en­tierungslosigkeit nur schwer zum Zug kommt, ja das aufgrund der vorherrschen­den Rationalität sogar noch behindert wird. Jedoch zeichnet die Religion aus, dass sie keinen Bedingungen unterliegt, alle Gedanken uneingeschränkt zulässt und jeden Diskus­sion­s­ge­gen­stand akzeptiert. Nur in dieser Gesamtheit kann der Mensch zu einer Ordnung und Or­gan­i­sa­tion finden, um sich aus sich selbst heraus zu entwickeln. Religion kann denn auch nicht im klassischen Sinne gelehrt werden: Man darf sie niemandem aufzwingen, sondern sie lebt allein durch freie, innere Überzeugung.

„Anschauen des Universums, ich bitte, befreundet euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die all­ge­me­in­ste und höchste Formel der Religion, woraus ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs Genaueste bestimmen lassen.“ (S. 46)

In der Kindheit ist die Aufgeschlossen­heit gegenüber dem Wunderbaren und Übernatürlichen noch vorhanden, später jedoch wird diese Veranlagung von falschen irdischen Regeln unterdrückt. Das führt dazu, dass die Suche der Menschen nach etwas Höherem vergeblich ist, da sie gezwungen werden, alles erst einmal durch­schauen und verstehen zu müssen. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Sinn des Lebens und der Dinge: Liegt er tatsächlich im Äußeren, dem Erkennen einzelner Details, oder doch eher im Inneren des Menschen, der sich als Teil des Ganzen begreift?

„Zur äußeren Natur, welche von so vielen für den ersten und vornehmsten Tempel der Gottheit (...) gehalten wird, führe ich euch nur als zum äußersten Vorhof derselben.“ (S. 59)

Es ist ein Irrweg, im Universum nach Dingen zu suchen, die es dort nie gab, statt einfach anzunehmen, was dort vorhanden ist. Schon Völker wie die alten Ägypter und Griechen haben gezeigt, zu welch großartigen Leistungen und Ideen sie kamen, indem sie das Unendliche als gegeben nahmen, um daraus eine vielschichtige, tolerante Kultur aufzubauen und ihre Künste daran auszurichten. Umgekehrt fand noch keine Kultur, die sich nur an ihren irdischen, beschränkten Methoden orientierte, zu solch geistigen Höhenflügen. Ver­gan­gen­heit, Gegenwart und Zukunft müssen deshalb wieder vereint, nicht getrennt betrachtet werden.

Religion lebt vom lebendigen Austausch

Heute hasst man nicht nur die Religion. Noch mehr hasst man diejenigen, die sie verbreiten. Religion wird wie eine Krankheit betrachtet, die die ganze Welt anstecken könnte. Priester werden verachtet, doch es ist nur natürlich, dass sie die Gedanken, die sie in sich tragen, teilen wollen. Es liegt zudem im Wesen der Religion, dass sie sich spiegelt: Wer an sie glaubt, will sich hin­ter­fra­gen und sich in anderen erkennen, will gemeinsam auf die Dinge schauen und sie empfinden, will den weiteren Weg zusammen gehen.

„Wenn die Menschheit selbst etwas Bewegliches und Bildsames ist, wenn sie nicht nur im Einzelnen anders darstellt, sondern auch hie und da anders wird, fühlt ihr nicht, dass sie dann unmöglich selbst das Universum sein kann?“ (S. 74)

Deshalb kann sich Religion nicht einfach in Schriften auf totem Papier darstellen; sie entfaltet sich nur im persönlichen Austausch. Sie hat nicht auf alles sofort eine kurze, eindeutige Antwort, sondern lebt und profitiert von gegen­seit­iger Befruchtung. Kurz: Sie ist überaus lebendig. Sie trans­portiert sich am besten in Gesellschaft, durch direkte Ansprache, und nimmt aus Diskus­sio­nen neue Anregungen mit. Wie bereits ausgeführt, setzt sie dabei nicht auf klassische Lehrmeth­o­den, da ihr Haupt­ge­gen­stand – das Universum, das Unendliche – nicht fassbar ist. Nicht einmal Wis­senschaftler oder Philosophen können auf diese Art agieren, weil ihre Erken­nt­nisse sich nur auf irdische Bruchstücke des Ganzen beziehen und daher das Wesen der Religion verfehlen.

Das Unbehagen in der Wis­senschaft

Ein Vorteil des religiösen Menschen ist, dass er in sich gehen, zu seinen Gedanken stehen und sein Empfinden anderen ehrlich mitteilen darf, ohne gleich durch Vorgaben gemaßregelt zu werden. Leider ist dieser offene Umgang bisher nur jenen möglich, die so ein Verhalten bereits verin­ner­licht haben und entsprechend gefestigt sind. Jedoch sollte es möglich sein, die Kirche – die Institution und Stätte der religiösen Ver­bun­den­heit – auch den Menschen zu öffnen, die noch suchen.

„Die Un­sterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Un­sterblichkeit der Religion.“ (S. 90)

Denn es steht fest, dass derzeit viele Menschen dem bloßen Schein vordergründiger Wis­senschaft misstrauen. Sie wollen sich die wis­senschaftliche Erkenntnis nicht als Form einer künstlichen, un­zure­ichen­den Religion verkaufen lassen. Das ist ein Missstand, zu dem es nicht gekommen wäre, hätte man die Religion in der Ver­gan­gen­heit einfach nur wirken lassen – damit sich harmonisch fügen kann, was zusammengehört und zueinan­der­passt. Jeder Gebildete sollte verstehen, dass das höhere Streben der Religion letztlich auch der Bildung dienlich ist, weil es die einzelnen Menschen zur Menschheit und frag­men­tarische Wis­senschaft­saspekte zu einem Ganzen vereint.

Zentrale Ideen der Religionen

Wie kann die Vielzahl der Religionen mit dem men­schlichen Alltag in Einklang gebracht werden? Der Mensch ist endlich, die Religion dagegen unendlich. Deshalb kann der Mensch nicht ausleben, was die Religion hergibt. Diese muss sich also in­di­vid­u­al­isieren und ihre uner­messliche Bedeutung reduzieren. Jede Religion besitzt eine zentrale Anschauung, auf die sie sich konzen­tri­ert. Im Judentum ist es die Idee der Vergeltung: Gottes Umgang mit den Juden und die ganze Ah­nengeschichte des Judentums beruhen auf Belohnung, Strafe und Züchtigung. Das Judentum ist deshalb eine Religion der Vergeltung für gute oder böse Taten. Beim Christentum steht das Streben alles Endlichen nach Einheit und nach dem Vollendeten im Mittelpunkt. Verderben und Erlösung, Sünde und Vergebung sind die Pole, zwischen denen sich das Christentum entwickelt hat.

„Ist die Religion einmal, so muss sie notwendig auch gesellig sein.“ (S. 115)

Es geht hier nicht darum, die richtige unter den unzähligen Religionen her­vorzuheben. Die Re­li­gion­skri­tiker sollen lediglich die grundsätzliche Tatsache anerkennen, dass jede einzelne Religion mit allen anderen verbunden ist, indem jede das Göttliche, Wahre und Ewige sucht. Nun sagen die modernen Kritiker, dass diese universalen Inhalte in letzter Zeit verloren gegangen seien. Richtig ist, dass Religion stets im Wandel begriffen ist, da jede Anschauung diverse Ausprägungen hat, die aus­ge­tauscht und debattiert werden. Daraus resultiert mal mehr, mal weniger Klarheit. Solange eine Religion im Kern eine große Idee hat, sich weit­er­en­twick­elt und eine vereinende Kraft besitzt, statt auszu­gren­zen, ist sie gut. Erst wenn sie sich selbst einengt oder sich beschränken und beschneiden lässt, ist sie in der Tat wenig wert. Genau dieses Merkmal zeichnet jedoch den modernen Glauben an die Wis­senschaft aus: Er ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, unvollständig, ohne System und schwankend in seinen Werten.

Religion und Freiheit

Es lohnt sich, nach dem Himmlischen und dessen Ordnung zu suchen, sich dabei nicht vom Unbekannten schrecken zu lassen oder das Fan­tastis­che als pure Fantasie abzutun. Auch darf man nicht den Fehler machen, der Religion aktuelle „Heiligtümer“ wie Metaphysik oder Moral un­terzu­jubeln. Ebenfalls sollte sich niemand von den Irrwegen blenden lassen, die über die Jahrhun­derte als Religion in­ter­pretiert wurden und ihre derzeitige Ver­teufelung angeblich recht­fer­ti­gen: Nicht alles, was sich bisher als unendlich darstellte und als solches verkündet wurde, entspricht tatsächlich dem unerschöpflichen Potenzial des Unendlichen.

„Alles Menschliche ist heilig, denn alles ist göttlich.“ (S. 148)

Ob diese Vorschläge beim Leser auf fruchtbaren Boden fallen, ist ungewiss. Sie verlangen die Bere­itschaft, sich voll und ganz dem komplexen religiösen Spektrum zu öffnen. Und sie verlangen, dass der Mensch auf sein Herz, nicht nur auf den Verstand hört. Die große Chance für das Christentum, die Wis­senschaft und die ganze Menschheit besteht darin, dass viele Themen in der Religion noch gar nicht bearbeitet wurden. Jedes Individuum kann mitwirken und sich bei der Beant­wor­tung der großen Fragen entfalten. Diese Freiheit ist nicht nur größer als die von den Gebildeten definierte, sie ermöglicht uns auch, Gott durch uns selbst zu erfahren und so die Welt zu umfassen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Über die Religion besteht aus fünf Reden oder Kapiteln. Das gesamte Buch ist sowohl eine Kampf­schrift als auch eine pa­thetisch-po­et­is­che Beweisführung für die Religion. Schleier­ma­cher bezieht seine Zuhörer bzw. Leser aktiv ein, spricht sie direkt (im Plural) an, fordert sie zu Reaktionen auf und entspinnt durch diese stilis­tis­chen Kniffe eine Art Gespräch. Das Buch steht demnach gleichermaßen in der Tradition der antiken Rhetorik, der protes­tantis­chen Predigt und des gemein­schaftlichen Philoso­phierens, wie es in der deutschen Romantik beliebt war. Die fünf Reden bauen aufeinander auf: Zunächst werden verbreitete Irrtümer beim Namen genannt, dann der eigentliche Charakter der Religion enthüllt, hieraus wird zuerst eine Bil­dungs­the­o­rie, dann eine Kirchen­the­o­rie abgeleitet, um schließlich die Bedeutung in­di­vidu­eller Religionen vom Wesen der Religion im Allgemeinen zu un­ter­schei­den.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Über die Religion ist in erster Linie eine Au­seinan­der­set­zung mit der Aufklärung. Schleier­ma­cher betont die Unerklärlichkeit der Religion. In Duktus und Methode spricht das Werk eher ra­tio­nal­is­tisch orientierte Leser an, als dass es ein Er­bau­ungs­buch für Gläubige wäre.
  • Die Reden richten sich aber nicht nur an Vertreter der Aufklärung, sondern auch an die Verteidiger der protes­tantis­chen Orthodoxie. Ihnen hält Schleier­ma­cher vor, dass Religion weder bloße moralische Hand­lungsan­weisung noch äußerlich erstarrte Form sei, sondern lebendiger Ausdruck und „heiliger Instinkt“ des Menschen.
  • Schleier­ma­cher bestreitet, dass der Glaube an Gott von der Theologie verordnet werden kann. Er plädiert für eine neue Funktion der Theologie: Sie schreibt keine Normen vor, sondern beobachtet und setzt bereits ein intaktes Verhältnis zwischen Mensch und Gott voraus, statt es zu begründen. Theologie ist in Schleier­ma­ch­ers Auslegung weniger die Lehre von Gott, als vielmehr jene vom men­schlichen Glauben an Gott.
  • Für Schleier­ma­cher gilt: Glaube ist Pri­vatan­gele­gen­heit – ein in­di­vidu­elles, subjektives Erlebnis, „Anschauung und Gefühl“.
  • Schleier­ma­cher übt Kritik an den exakten Wis­senschaften, indem er betont, dass das menschliche Streben auf das Unendliche aus­gerichtet sei und dieses Bedürfnis eben nicht von den Wis­senschaften, sondern nur von der Religion erfüllt werden könne.
  • Religion ist für Schleier­ma­cher probates Mittel gegen den An­thro­pozen­tris­mus, also die Sichtweise, der Mensch sei das Maß aller Dinge und stehe im Zentrum der Schöpfung. Religion macht den Menschen klein und rückt seinen Blick von irdischen Dingen fort ins Unendliche des Universums. Ergo: Religion stiftet Sinn.
  • Auf­schlussre­ich ist der Untertitel des Buches: Indem der Autor sich an die „gebildeten Verächter“ der Religion richtet, bringt er zwei wichtige Aspekte seiner Schreib­strate­gie zum Ausdruck: Er wendet sich an In­tellek­tuelle, an Gebildete im umfassenden, ro­man­tis­chen Sinn, die Leben, Philosophie, Kunst und auch Religion miteinander har­mon­isieren wollen. Die Verächter spricht er u. a. an, weil er ihre Sichtweise teilt, sofern sie sich gegen den kirchlichen Dogmatismus richtet: Es geht ihm nicht um eine Vertei­di­gung der Kirche, sondern um das Wesen der Religion.

His­torischer Hintergrund

Re­li­gion­sphiloso­phie im Zeitalter der Aufklärung

Die Aufklärung verlangte eine neue Sicht auf die Religion. Während die Vernunft in den Mittelpunkt aller Wis­senschaften und der Philosophie gerückt wurde, fragten sich viele Philosophen, welche Rolle die Religion im Leben des Menschen nun spielen und welche Bedeutung Gott für die menschliche Existenz haben sollte.

Hieraus entwickelte sich ein neuer philosophis­cher Zweig: die Re­li­gion­sphiloso­phie. Sie fragt nicht nach der Existenz Gottes oder nach der Schöpfung der Welt und in­ter­essiert sich auch nur am Rande für die Themen der klassischen Theologie oder Metaphysik. Re­li­gion­sphiloso­phie ist keine Re­li­gion­swis­senschaft im empirischen Sinn. Sie ist auch keine Theologie, weil sie völlig unabhängig vom konkreten Glaubens­beken­nt­nis die Beziehungen von Mensch und Religion untersucht. Ihre politische Relevanz beruhte von Anfang an darauf, dass ihre Erken­nt­nisse zur Aussöhnung der Kon­fes­sio­nen beitragen sollten, deren Streit seit der Reformation immer wieder in Scharmützel und sogar Kriege mündete. Die Re­li­gion­sphiloso­phie widmete sich der Überprüfung der geschichtlich überliefer­ten Religionen mit den Mitteln der Vernunft.

Erste Schritte auf diesem Weg ging Baruch de Spinoza mit seinen Un­ter­suchun­gen des Alten Testaments im The­ol­o­gisch-poli­tis­chen Traktat (1670). Über 100 Jahre später unterzog Immanuel Kant die Religion einer kritischen Un­ter­suchung. In der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft (1781) sprach er sich bereits dafür aus, den „Gerichtshof der Vernunft“ einzusetzen, um Philosophie und Religion kritisch zu hin­ter­fra­gen. Rund zehn Jahre später widmete sich Kant explizit der christlichen Religion: In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94) kam er zu dem Ergebnis, dass das Christentum eine moralische Religion sei, von Bedeutung vor allem für das sittliche Handeln des Menschen. Dieser ver­standes­gemäßen Einschätzung widersprach Schleier­ma­cher, indem er Religion als natürliches Bedürfnis des Menschen beschrieb.

Entstehung

Im 18. Jahrhundert wurde Europa mit Schriften zu religiösen Themen geradezu überschüttet. „Religion“ und „Aufklärung“ waren die beiden wichtigsten Stichworte und füllten Bücherregale und Zeitungs­seiten. Der konkrete Anlass zu seinem ersten Buch wurde Friedrich Schleier­ma­cher von seinem Freund Friedrich Schlegel gegeben, der ihm zu seinem 29. Geburtstag das Versprechen abnahm, endlich ein Buch zu schreiben; denn mit fast 30 Jahren „noch nichts gemacht“ zu haben, das gehe nun wirklich nicht. Schleier­ma­cher hatte zu dieser Zeit seiner Heimat Breslau den Rücken gekehrt und vertre­tungsweise die Stelle des Hof­predi­gers in Potsdam angenommen.

Am 15. April 1799 vollendete er das Werk, das mehrere Male ins Stocken geraten war, weil dem Autor nach einem flotten Einstieg das Thema unter den Händen zu zäh wurde. Sein Berliner Verleger begann schon mit der Druck­fahnen­er­stel­lung, als das Buch noch gar nicht fertig war. So wurde der ursprüngliche Veröffentlichung­ster­min von Ostern 1799 auf den Herbst verschoben. Schleier­ma­cher zeichnete weder mit Namen noch mit Pseudonym, sondern legte das Werk anonym der Öffentlichkeit vor. Ihm ging es darum, das Thema in den Mittelpunkt zu stellen und als Gebildeter – nicht als offizieller Prediger – zu Gebildeten sprechen.

Wirkungs­geschichte

Die Wirkung der Schleier­ma­cher’schen Reden auf die ange­sproch­enen „Gebildeten“ war un­ein­heitlich. Der ein­flussre­iche Theologe Friedrich Samuel Gottfried Sack stellte die Schrift unter Pan­the­is­musver­dacht. Der Begriff Pantheismus bezeichnet eine religiöse Weltan­schau­ung, die Gott in allen Dingen erkennt, sodass alle Na­tur­erschei­n­un­gen Gott sym­bol­isieren. Diese Beurteilung war durchaus berechtigt, schließlich trat Schleier­ma­cher für eine Vermischung der Gottes- und der Weltidee ein. Die Kritik wog aber insofern schwer, als sie Schleier­ma­cher vorwarf, die Person Gottes zu leugnen, was der Autor so nicht be­ab­sichtigt hatte. August Wilhelm von Schlegel stieß sich an Schleier­ma­ch­ers Dogmatik und reimte einen Spottvers, der den Namen des Philosophen aufs Korn nahm: „Der nackten Wahrheit Schleier machen, ist kluger Theologen Amt. Und Schleier­ma­cher sind bei so bewandten Sachen die Meister der Dogmatik insgesamt.“ Viele Romantiker aber waren von den Reden begeistert. Der Dichter Novalis etwa lobte sie in den höchsten Tönen und setzte ihrem Autor in Die Chris­ten­heit oder Europa ein lit­er­arisches Denkmal. Ausgehend von Schleier­ma­ch­ers Idee, die Religion neu zu schaffen, erträumte Novalis eine europäische Renaissance des Chris­ten­tums. 1806 erschien eine zweite Auflage von Über die Religion, 1821 eine dritte und nach Schleier­ma­ch­ers Tod wurde die vierte Auflage 1831 in den gesammelten Werken veröffentlicht. Schleier­ma­cher nahm sich die öffentliche Kritik zu Herzen und verfeinerte den Ur­sprung­s­text mit jeder Ausgabe oder fügte Erläuterungen zu den einzelnen Reden an.

Über den Autor

Friedrich Schleier­ma­cher wird am 21. November 1768 in Breslau geboren. Nach der Schulzeit besucht er ein Seminar der Herrnhuter Brüdergemeine. Er stört sich jedoch am Dogmatismus der freikirch­lichen Bewegung und beginnt 1787 in Halle ein Studium der Theologie. Er vertritt einen ro­man­tisch-christlichen Idealismus, der im Lauf seines Lebens oftmals mit den Ansichten der Kirche kollidiert. Schleier­ma­cher gerät auf privater, kirchlicher, wis­senschaftlicher und politischer Ebene immer wieder in Konflikte, in denen er sich jedoch stets selbst treu bleibt. Durch die Bekan­ntschaft mit den Brüdern Schlegel, mit Rahel Varnhagen von Ense und anderen Persönlichkeiten seiner Zeit wird er in den Kreis der Berliner Romantiker aufgenommen. Vor allem die enge Fre­und­schaft zu Friedrich Schlegel beeinflusst einige seiner Arbeiten, darunter die mehrbändige Übersetzung der Werke Platons und das Er­stlingswerk Über die Religion (1799), das den Grundstein für seine Bekanntheit legt. Nach der Ausübung diverser Predi­ger­stellen, u. a. an der Charité in Berlin, wird Schleier­ma­cher 1804 außeror­dentlicher Professor für Theologie und Philosophie in Halle. Politische Unruhen führen ihn nach Berlin zurück, wo er 1809 die 19-jährige Henriette von Willich heiratet, die Witwe eines seiner Freunde. Im selben Jahr predigt er erstmals in der Dreifaltigkeit­skirche, eine Tätigkeit, die ihm begeisterte Anhänger beschert. Ab 1810 lehrt er als Professor der Theologie an der von ihm mitbegründeten Friedrich-Wil­helms-Uni­ver­sität. In diesen Jahren entstehen ebenso berühmte wie umstrittene Werke wie Über den so genannten ersten Brief des Paulus an den Timotheus (1807). Seine im Ganzen eher unglückliche Ehe, aus der vier Kinder hervorgehen, lässt ihm Freiraum für ver­schieden­ste Aktivitäten auf wis­senschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Aller Kritik zum Trotz beeinflusst er wie kaum ein anderer maßgeblich die protes­tantis­che Theologie im 19. Jahrhundert. Schleier­ma­cher stirbt am 12. Februar 1834.