Bhagavad Gītā

Buch Bhagavad Gītā

Der Gesang des Erhabenen

Indien, 200 bis 300 n. Chr.
Diese Ausgabe: Verlag der Weltreligionen,


Worum es geht

Durch Selb­st­be­herrschung zum See­len­frieden

Was ist dran an diesem über 2000 Jahre alten religiösen Lehrgedicht, dass es Hindus und westliche Philosophen, Dichter, Hippies und Esoteriker gleichermaßen in seinen Bann zieht? Zum einen ist es wohl die archaische, poetische Sprache, die nach all den Jahrhun­derten nichts an Kraft und Schönheit eingebüßt hat; zum anderen sind da die zeitlosen philosophis­chen Prinzipien, die Krishna als per­son­ifizierter Gott dem Prinzen Arjuna verkündet. Der Weg zum Glück liegt ihnen zufolge nicht in totaler Wel­tentsa­gung, sondern in einem auf Gott aus­gerichteten Leben, das durchaus ein tätiges sein kann. Die Idee, mithilfe bestimmter Atem- und Meditationsübungen zu einem in sich ruhenden Menschen zu werden, der sich nicht von seinen Lei­den­schaften beherrschen lässt, macht bis heute den Reiz dieser schmalen Schrift aus. Nicht weniger interessant – allerdings auch bedenklich – ist die Konsequenz der Reinkar­na­tion­slehre, wie sie dem kriegss­cheuen Arjuna dargelegt wird: Es ist nicht die Seele, die tötet oder getötet wird – also ist Krieg in Ordnung. Das steht in schroffem Gegensatz zu den Lehren, die etwa Mahatma Gandhi aus der Bhagavad Gītā gezogen hat. So haben denn auch ver­schiedene Kom­men­ta­toren angemerkt, dass in diesem Sam­mel­surium indischer Philosophie fast jeder findet, was er sucht.

Take-aways

  • Das Lehrgedicht Bhagavad Gītā ist eine der wichtigsten Schriften des Hinduismus.
  • Inhalt: Prinz Arjuna weigert sich, auf dem Schlacht­feld gegen seine Verwandten zu kämpfen. Daraufhin empfiehlt ihm der göttliche Krishna, sich durch Yoga von Selbstsucht und Begierden zu befreien. Krishnas Lehre: Wer die Gottesliebe zur einzigen Richtschnur seines Handelns macht, kann auch töten, ohne schuldig zu werden. Er befreit sich aus dem Kreislauf der Wiederge­burten und gelangt zu ihm, Krishna.
  • Die Bhagavad Gītā entstand zwischen 200 v. Chr. und 300 n. Chr. und verschmilzt religiöse Traditionen miteinander, die viel weiter zurückreichen.
  • Im Gegensatz zum Buddhismus fordert die Gītā keine Wel­tentsa­gung, sondern ein selbst- und ab­sicht­sloses Handeln.
  • Nach der Bibel ist die Bhagavad Gītā das meistübersetzte Werk der Weltlit­er­atur.
  • In Deutschland hatte das Buch großen Einfluss auf die Sturm-und-Drang-Be­we­gung und die Frühromantik.
  • Die Gītā ist aufgrund ihrer vielfältigen Quellen widersprüchlich. So ruft Krishna Arjuna zum Kampf auf, nennt aber an anderer Stelle Gewalt­losigkeit als Tugend.
  • Mahatma Gandhi leitete aus der Schrift seinen Weg des passiven Wider­standes ab. Den Aufruf zum Kampf in­ter­pretierte er als Allegorie.
  • In den 1960er Jahren galt die Gītā den Hippies als Evangelium der Selb­stver­wirk­lichung.
  • Zitat: „Ein Mensch erlangt Vol­lkom­men­heit, wenn er in seinem je eigenen Handeln Genüge hat.“
 

Zusammenfassung

Arjunas Zwiespalt

Auf die Bitte des blinden alten Königs Dhritarāshtra berichtet sein Kund­schafter Samjaya von dem Krieg, der wegen Stre­it­igkeiten um die Thronfolge aus­ge­brochen ist. Samjaya erzählt von Prinz Arjuna, einem Neffen Dhritarāshtras, der, als die Heere schon zum Kampf bere­it­ste­hen, die Söhne des Königs und viele seiner eigenen Verwandten und Lehrer unter den feindlichen Kriegern erblickt. Zutiefst erschüttert wendet er sich an den göttlichen Krishna, der als Wagenlenker des Prinzen in Erscheinung tritt, und erklärt ihm, er werde seine Angehörigen nicht töten, selbst wenn diese Böses im Schilde führten. Eher wolle er auf die Königsh­errschaft verzichten, als sich an seinen Nächsten zu vergehen. In der Zerstörung der Familie liege der Keim für Geset­zlosigkeit, Sit­ten­ver­fall und eine schädliche Vermischung der Kasten.

Weisheit durch Gleichgültigkeit

Krishna, berichtet Samjaya weiter, rät Arjuna zu mehr Gleichmut. Die äußeren Dinge des Lebens, Sinneseindrücke, Lust und Leid – all das sei vergänglich wie der menschliche Körper. Das Selbst hingegen sei unzerstörbar. Nicht dieses Selbst töte oder werde getötet, sondern nur der Körper. Krishna erinnert den Prinzen an seine Pflicht als Angehöriger der Fürsten- und Kriegerkaste: Er habe für Gerechtigkeit zu kämpfen; sich seiner Kas­tenpflicht zu entziehen, wäre eine Schande. Vor allem aber soll Arjuna sein Handeln nicht an Ergebnissen orientieren und sich nicht von den Sinnen leiten lassen, sondern in tiefer Versenkung der Stimme der Vernunft lauschen. Der Weise, dem Erfolg oder Misserfolg seiner Handlungen gleichgültig sind, erlöst sich laut Krishna von dem Kreislauf der Wiederge­burten und ist frei von Leid. Er strebt keinen Besitz an, hat seine Sinne unter Kontrolle und verspürt weder Zorn noch Furcht, weder Begehren noch Hass. Wer diesen Zustand der Lei­den­schaft­slosigkeit erreicht habe, genieße Gemütsruhe und inneren Frieden.

Yoga zur Selb­stkon­trolle

Auf Arjunas Einwand, Vernunft und Handeln würden einander wider­sprechen, reagiert Krishna, indem er zweierlei Arten von Handeln un­ter­schei­det: einerseits das zielo­ri­en­tierte Handeln der Unwissenden, das auf Wirkung bedacht und in den ewigen leidvollen Kreislauf von Taten und Folgen eingebettet ist; an­der­er­seits das zweckfreie, ab­sicht­slose, von allen Begierden und egozen­trischen Wünschen losgelöste Handeln des Weisen, das die Harmonie in der Welt befördert. Handeln an sich wider­spreche also nicht der Erkenntnis, im Gegenteil: Würden die Menschen nicht handeln, so würde die Welt im Chaos versinken.

„Es gibt kein Werden aus dem Nicht-Seien­den / und kein Vergehen des Seienden.“ (S. 18)

Jetzt erst gibt sich Krishna seinem Gegenüber als Schöpfer der Welt und Herr über alle Wesen zu erkennen, der immer dann in neuer Gestalt wiederge­boren wird, wenn die Weltordnung bedroht ist. Wer in ihm den Gott erkennt und seinem Vorbild folgt, indem er keine Absichten und Wünsche verfolgt und Erfolge ebenso gleichmütig hinnimmt wie Misserfolge, wer sich selbst beherrscht und seine Begierden zügelt, der befreit sich von dem un­heil­brin­gen­den Kreislauf von Geburt und Tod. Er muss nicht wiederge­boren werden, sondern wird eins mit dem Höchsten, Absoluten, mit Gott. Krishna fordert Arjuna auf, mithilfe von Yoga seine Zweifel zu besiegen und so zur Erkenntnis zu gelangen.

„Wer das Selbst für den Tötenden / oder wer es für den Getöteten hält – / sie beide begreifen nicht, / dass das Selbst weder tötet noch getötet wird.“ (S. 19)

Wer sich in Yoga übt, entsagt laut Krishna allen Absichten und handelt, ohne sich um die Folgen, um das Gute oder Schlechte seiner Taten zu kümmern. Indem er sein Bewusstsein zu beherrschen und seine Sinne zu zügeln lernt, erkennt er, dass er selbst – wie alle Wesen – vom Brahman, vom Höchsten, Absoluten durch­drun­gen ist. Jenseits aller rein körperlichen, sinnlichen Genüsse, frei von Besitz und egozen­trischen Wünschen findet der Asket Glück und Frieden in sich selbst. Durch bestimmte Med­i­ta­tions- und Körperübungen, durch Be­herrschung des Atems wie auch durch die Mäßigung beim Essen und Schlafen gelingt es ihm, seine umher­schweifenden Gedanken zu sammeln und zur Ruhe zu bringen. Alle Begierden werden aus­geschal­tet, und er kann sich auf sein wahres Selbst konzen­tri­eren. Wer Yoga praktiziert, ruht fest in sich selbst und wird in seinem Gleichmut weder von Freude noch von Leid erschüttert.

Das Ende der Wiederge­burten

Krishna offenbart dem immer noch zwei­flerischen Arjuna seine wahre Natur, die nur wenige erkennen. Als Gott ist er in allen Elementen anwesend: in der Erde, im Wasser, im Wind, im Licht, in der Vernunft des Weisen, in der Kraft des Starken und in der Liebeslust. Er ist der Schöpfer der Welt, ihr Anfang und ihr Ende, er gleicht einer Schnur, auf der die Dinge des Universums aufgefädelt sind. Alle belebten und unbelebten Wesen befinden sich in ihm, zugleich ist er in seiner unvergänglichen Schöpferkraft mehr als nur die Summe der Wesen.

„So wie die Wasser in den Ozean fließen, / der gefüllt wird und doch unbewegt derselbe bleibt, / so erlangt Frieden jener, in den zwar alle Begierden einströmen / und der doch die Begierden nicht begehrt.“ (S. 26)

Die meisten Menschen, so Krishna, lassen sich vom Schein blenden, nur wenige erkennen Gott hinter den äußeren Dingen. Doch nach vielen Wiederge­burten gewinnt schließlich jeder diese Erkenntnis. Wer durch lange Yogapraxis zu einem höheren Bewusstsein gelangt ist und in seiner Todesstunde an Gott denkt, kommt zu ihm und braucht nicht länger wiederge­boren zu werden. Auch der genaue Zeitpunkt des Sterbens – Sommer oder Winter, abnehmender oder zunehmender Mond – bestimmt mit, ob ein Yogi leidvoll wiederge­boren oder mit dem Göttlichen eins wird. Sicher ist: Wer Gott liebt und bei ihm Zuflucht sucht, ist nicht verloren und kann das höchste Ziel der Vereinigung erlangen, selbst wenn er böse oder von schlechter Herkunft ist.

Gott als Weltschöpfer und Zerstörer

Auf Arjunas Frage, in welcher Gestalt er Gott erkennen könne, zählt Krishna ver­schiedene Er­schei­n­ungs­for­men auf – wie er betont, nur ein Bruchteil all seiner Ent­fal­tungsmöglichkeiten: Unter den Buchstaben ist er das A, unter den Jahreszeiten der Frühling, unter den Männern der König, unter den Gestirnen der Mond, unter den Gewässern der Ozean, unter den Sinnen das Denken und vieles mehr. Ob Na­tur­erschei­n­ung oder Tier, Kämpfer oder mythol­o­gis­che Figur: Stets ist er der Erste, Beste und Größte.

„Deshalb tue ständig das, was zu tun ist, / ohne daran anzuhaften.“ (S. 29)

Krishna verleiht Arjuna als einzigem Menschen die Fähigkeit, ihn – jenseits seiner sichtbaren, materiellen Formen – einmal in seiner ganzen Macht und Grausamkeit betrachten zu können. Der Prinz staunt beim Anblick der riesigen, un­be­gren­zten, wunderbaren und zugleich furchter­re­gen­den Gestalt mit ihren vielen Mäulern, Armen, Bäuchen und Augen. In ihrem weit aufgeris­se­nen Rachen blitzen schreck­liche Zähne, zwischen denen Könige, die zermalmten Söhne Dhritarāshtras und auch Arjunas eigene Kämpfer hängen. Krishna erklärt seinem zitternden Gegenüber, er selbst, der Weltzerstörer, habe die Krieger schon längst getötet. Arjuna sei bloß sein Werkzeug und solle sie nun in der Schlacht besiegen. Der Prinz erkennt die grenzenlose, göttliche Allmacht Krishnas und bittet diesen um Verzeihung dafür, dass er ihn für einen Menschen gehalten und nicht mit der gebührenden Ehrfurcht behandelt hat. Nachdem Krishna wieder seine menschliche Gestalt angenommen hat, beruhigt sich Arjuna.

Tugenden und Charak­tereigen­schaften

Arjuna fragt, welche Menschen denn nun am höchsten stehen. Daraufhin un­ter­schei­det Krishna drei Stufen der Vol­lkom­men­heit. Die Weisen, die ihr ganzes Denken auf ihn richten, sind ihm die Liebsten. Es folgen diejenigen, die durch Med­i­ta­tion­spraxis ihr Handeln vollkommen an ihm orientieren. Wer dazu nicht fähig ist, der sollte zumindest selb­st­be­herrscht und frei von egozen­trischen Motiven handeln sowie auf die Kraft Gottes vertrauen. Zu den höchsten Tugenden zählen Gewalt­losigkeit, Beschei­den­heit und Beständigkeit, Entsagung und Be­gierde­losigkeit ebenso wie Geduld und Gottesliebe. Ob es sich nun um einen Freund oder einen Feind, um ein Stück Lehm oder um Gold handelt, der Tugendhafte muss alle äußeren Dinge des Lebens mit demselben Gleichmut behandeln und darf sich weder an Gegenstände noch an Menschen oder Ziele fes­tk­lam­mern.

„Es ist besser, die eigene Pflicht un­vol­lkom­men, / als die Pflicht eines anderen gut zu erfüllen.“ (S. 32)

Die drei natürlichen Grun­deigen­schaften sind Reinheit, Energie und Trägheit. Alle drei, die in ihrer speziellen Mischung den Charakter eines Menschen ausmachen, lenken diesen in eine bestimmte Richtung. Überwiegt die Reinheit, so strebt er nach dem Angenehmen und nach Erkenntnis; die Energie dagegen, die aus Lei­den­schaft und Verlangen geboren ist, lässt ihn äußere Dinge wertschätzen und treibt ihn zum Handeln an; die Trägheit schließlich, die schlecht­este dieser drei Eigen­schaften, macht ihn nachlässig, antriebslos und faul, sie beschränkt seinen Wis­sens­drang und trübt sein Erken­nt­nisvermögen.

„Wer ohne Wünsche, mit gezügeltem Bewusstsein / und sich selbst be­herrschend alles Habenwollen losgelassen hat / und nur mit dem Körper handelt, / lädt kein Übel auf sich.“ (S. 37)

Das in­di­vidu­elle Verhältnis dieser drei Grun­deigen­schaften entscheidet auch darüber, wie ein Mensch wiederge­boren wird: Wer zu einem Zeitpunkt stirbt, in dem er von Reinheit dominiert ist, wird in einer reinen Welt der Erkenntnis wiederge­boren. Wer in der Todesstunde von Energie oder Trägheit beherrscht ist, wird unter Menschen wiederge­boren, die ebenfalls gierig oder unwissend sind. Derjenige aber, der die drei Grun­deigen­schaften überwindet, der unbetroffen von Freude und Leid, Liebe und Hass, Ehre und Schande den Lauf der Dinge betrachtet, befreit sich vom Kreislauf von Geburt und Tod. Auch wer sich Gott konzen­tri­ert hinwendet und ihn liebt, legt diese Eigen­schaften ab und erlangt Un­sterblichkeit.

Göttliche und widergöttliche Existenzen

Wer sich von Stolz und Verblendung befreit hat, wer Selb­st­be­zo­gen­heit und Begierden überwunden hat, gelangt an den höchsten Ort, an den Wohnsitz des Göttlichen, von dem man nicht mehr in den Kreislauf der Geburten zurückkehrt. Gott existiert in den Seelen, wenn er körperliche Gestalt annimmt. Mithilfe der in der Natur schon vorhandenen sechs Sinne, dem Hören, Sehen, Tasten, Schmecken, Riechen und Denken, formt er die Seelen und tritt zugleich in ihnen in Erscheinung. Die Verblende­ten sehen das Göttliche in sich selbst nicht, nur geübte Yogi erkennen Gottes Existenz in ihrem eigenen Wesen. Das Göttliche aber ist in der Welt allgegenwärtig: im Licht der Sonne, des Mondes und des Feuers, in den Kreaturen und Pflanzen, in der Lebensen­ergie aller Wesen, in ihrem Herzen, Gedächtnis und Verstand. Gott existiert in der Welt also auf doppelte Weise – zum einen in der wandelbaren Gestalt aller Lebewesen, zum anderen als höchster, un­wan­del­barer Geist.

„Wessen Selbst unberührt ist von der Berührung mit äußeren Dingen, / findet das Glück in seinem Selbst.“ (S. 44)

Neben den göttlichen Existenzen, zu denen Krishna auch Arjuna zählt, gibt es Wesen, die zu einer widergöttlichen, unreinen Lebensweise bestimmt sind. Nicht in Gott, sondern in der Begierde erkennen sie den letzten Grund und die treibende Kraft der Welt. Sie sind stolz, heuch­lerisch und selb­st­gerecht. Gierig nach Lust und Reichtum begehen sie Grausamkeiten, die zum Untergang der Welt führen. Die Opfer, mit denen sie sich reinwaschen wollen, bestehen nur in leeren Riten. In Wirk­lichkeit hassen sie Gott, der doch in ihrem eigenen Körper wohnt. Gott schleudert solche unreinen, zornigen, habgierigen Menschen in den Kreislauf der Widergeburt zurück. Nach dem Tod werden sie jedes Mal in der niedrigsten Seinsweise, in der Hölle, wiederge­boren, aus der sie sich nicht befreien können.

Handeln ohne Berechnung

Entsprechend den drei Grun­deigen­schaften un­ter­schei­det Krishna drei Arten des Glaubens. Menschen, bei denen die Reinheit dominiert, glauben an die wahren Götter. Die von Energie Geprägten dagegen beten Dämonenwesen an, während die von Trägheit Be­herrschten Gespenstern Opfer bringen. Anders als die En­ergiemen­schen, die mit ihren Opferriten stets einen bestimmten Zweck verfolgen, vollziehen die Reinen ihre Opfer aus Pflichterfüllung – ohne dabei auf Ergebnisse zu schielen. Auch bei der Askese und bei wohltätigen Handlungen kommt es auf die reine Haltung an. Beides muss in tiefem Glauben und ohne Blick auf Resultate vollzogen werden. Menschen, die mit Askeseübungen etwas erreichen wollen und sich auf grausame Weise selbst kasteien, sind heuch­lerisch und handeln egozen­trisch.

„Denn das Selbst allein kann einem selbst Freund sein, / und man selbst allein kann sich selbst Feind sein.“ (S. 46)

Der Schlüssel zum Glück liegt nicht etwa im Verzicht auf jegliches Handeln oder im Rückzug aus der Welt, sondern in einem Handeln, das nicht auf Resultate aus­gerichtet ist. Frei von Hass und Begierde in Abgeschieden­heit leben, leichte Kost zu sich nehmen, Körper und Geist kon­trol­lieren, Yoga und Meditation üben, sich von Eigennutz und Selbstsucht frei machen – das ist der Weg, um mit Brahman, dem Göttlichen, eins zu werden. Wer seine naturgegebe­nen Aufgaben und Kas­tenpflichten erfüllt und nicht aus einer egozen­trischen Haltung heraus handelt, der kann sogar töten, ohne sich schuldig zu machen. Mit diesen Worten zerstreut Krishna Arjunas letzte Zweifel. In seinem Glauben gefestigt tritt der Prinz den Kampf an.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die 700 Strophen der Bhagavad Gītā sind eingebettet in das Epos Mahābhārata, das rund 100 000 Verse umfasst. Die Gītā unterteilt sich in 18 Kapitel, die ver­schiedene Formen von Yoga beschreiben. Die Zwischenüberschriften, die in den ältesten Fassungen fehlen und nachträglich von Kom­men­ta­toren eingefügt wurden, deuten den the­ma­tis­chen Schwerpunkt des jeweiligen Abschnitts an. Dennoch hat das Werk keine strenge Systematik: Zwar fügt fast jeder neue Abschnitt eine weiteren Aspekt hinzu, im Wesentlichen aber wird schon Gesagtes in ähnlichen For­mulierun­gen wiederholt oder näher erläutert. Kurze Zwis­chen­fra­gen Arjunas treiben Krishnas Monolog voran; der Charakter eines Gesprächs bleibt stets gewahrt. Die bisweilen ermüdenden Wieder­hol­un­gen verleihen dem Text etwas Gebetsmühlenhaftes, bisweilen auch Meditatives. Das in Sanskrit verfasste Langgedicht besteht im Original aus acht­sil­bi­gen, gereimten Versen. Es ist reich an suggestiven Bildern, deren Kraft und Schönheit auch in der deutschen Übersetzung spürbar bleiben.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Bhagavad Gītā (deutsch: „Gesang des Erhabenen“) lehrt eine liebende, mystische Ver­schmelzung von Gott und Mensch. Entgegen der frühro­man­tis­chen Deutung vertritt sie kein pan­the­is­tis­ches, sondern ein theopanis­tis­ches Gottesbild: Die Welt ist in Gott, aber Gott ist nicht die Welt. Er ist zwar in all ihren Er­schei­n­un­gen präsent, geht aber nicht ganz in ihr auf, sondern tran­szendiert sie.
  • Der Fokus der Bhagavad Gītā liegt auf einer bestimmten Seinsweise des Menschen, aus der Tugenden und Untugenden sich ganz von selbst ergeben. Anders als etwa die Bibel stellt der Text keine konkreten Gebote und Verbote auf, sondern propagiert Gottesliebe und Gottver­trauen als Richtschnur allen Handelns.
  • Wie in der indischen Philosophie im Allgemeinen ist auch in der Bhagavad Gītā das Konzept des Karmas von zentraler Bedeutung. Karma bedeutet, dass jede Handlung, jeder Gedanke auf seinen Urheber zurückwirkt – wenn auch erst im nächsten Leben. Der Mensch besitzt keinen freien Willen, sondern ist durch sein Karma kon­di­tion­iert und in den ewigen Kreislauf eingebunden: Das Karma bestimmt von Geburt an sein Handeln wie auch seine nächste Verkörperung nach dem Tod.
  • In deutlicher Abgrenzung zum Buddhismus verteidigt die Gītā Kasten als starre, unüberwindliche Größen. Wer aufgrund seines Karmas in eine bestimmte soziale Schicht hineinge­boren wurde, ist sein Leben lang an deren Pflichten gebunden und kann erst mit seiner Wiederge­burt auf- oder absteigen.
  • Obwohl die Gītā an manchen Stellen Gewalt­losigkeit als Tugend lobt, bleibt sie letztlich ein Aufruf zum Kampf. Der mar­tialis­che Ton ist eine Konsequenz der Reinkar­na­tion­slehre: Es ist nur der Körper des Kämpfers, der tötet, seine Seele kann dabei rein bleiben. Umso er­staunlicher ist, dass die Gītā zum wichtigsten Buch des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi werden konnte. Gandhi in­ter­pretierte die Erlaubnis zum Töten als Allegorie: Nicht auf einem äußeren Schlacht­feld, sondern im Herzen der Menschen finde der Kampf zwischen Gut und Böse statt.

His­torischer Hintergrund

Brah­man­is­mus und Buddhismus

Indien wurde vom fünften Jahrhundert v. Chr. bis zum vierten nachchristlichen Jahrhundert von teils wider­stre­i­t­en­den, teils sich überschnei­den­den Re­li­gions­be­we­gun­gen geprägt. Ins­beson­dere der Jainismus und der Buddhismus stellten die tra­di­tionelle Religions- und Sozialord­nung des Brah­man­is­mus (des Vorläufers des Hinduismus) mit ihrem starren Kas­ten­sys­tem infrage. Angehörige der adligen Kriegerkaste wie auch zu Wohlstand gelangte Händler und Handwerker wandten sich selb­st­be­wusst gegen die Vorherrschaft der Brahmanen, jener Priester, die als Experten für das Opferritual und als Vermittler zwischen Menschen und Göttern eine her­aus­ra­gende gesellschaftliche Rolle spielten.

Der Buddhismus, der sich ab dem dritten Jahrhundert v. Chr. über den indischen Sub­kon­ti­nent hinaus in Asien ausbreitete, betonte die rigorose Askese als das einzige Mittel, sich von der karmischen Bindung und dem leidvollen Kreislauf von Geburt und Tod zu befreien. Erlösung findet nach dieser Auffassung außerhalb der Alltagswelt statt, und es bedarf keiner Priesterkaste, die durch kom­plizierte Op­fer­rituale für die Fortdauer und den Wohlstand der Gesellschaft sorgt.

Entstehung

Vor dem Hintergrund des er­stark­enden Buddhismus kann die Bhagavad Gītā als ein Versuch gesehen werden, zwischen Buddhismus und Brah­man­is­mus zu vermitteln und eine Synthese herbeizuführen. Auf der einen Seite fordert die Gītā Entsagung von weltlichen Dingen, auf der anderen betont sie die Notwendigkeit, handelnd in das Welt­geschehen einzu­greifen. Sie kennt in­di­vidu­elle Ve­r­ant­wor­tung, aber auch die Verpflich­tung, als Angehöriger der Kriegerkaste zu kämpfen und die soziale Ordnung zu stützen. Einerseits spricht sie sich für die Werte der Brah­ma­nenkaste aus, an­der­er­seits kritisiert sie die leeren, auf Wunscherfüllung zielenden Op­fer­rituale. Der oftmals widersprüchliche Charakter des Werks zeugt von seinem langen Entste­hungszeitraum und den ver­schiede­nen religiösen Lehren, die sich darin niedergeschla­gen haben.

Aufgrund der unsicheren Quellenlage ist es schwierig, die genaue Entste­hungszeit der Bhagavad Gītā zu bestimmen; der Text wurde zunächst mündlich weit­ergegeben und stetig erweitert. Wahrschein­lich nahm das Gedicht zwischen 200 v. Chr. und 300 n. Chr. seine heutige Gestalt an. Auch darüber, ob die Gītā von Beginn an Teil des gewaltigen, über Jahrhun­derte gewachsenen Epos Mahābhārata war oder ob sie nachträglich eingefügt wurde, besteht bis heute keine Einigkeit. Unter frommen Hindus wird dem sakralen Gedicht jedenfalls ein weitaus höheres Alter zugeschrieben. Nach indischer Überliefer­ung schrieb der mythische Weise Vyāsa einer göttlichen Eingebung folgend die Mahābhārata – und damit auch die Gītā – in grauer Vorzeit nieder.

Wirkungs­geschichte

Als wichtigste religiöse Schrift des Hinduismus hat die Bhagavad Gītā in Indien seit dem Mittelalter Hunderte von Kommentaren angeregt. Der früheste stammt aus der Feder des Wandermönchs Shankara (um 800 n. Chr.), der um­strit­ten­ste von Mahatma Gandhi, der aus der Gītā seine Theorie der Gewalt­losigkeit ableitete und darin nach eigener Aussage „einen Trost“ fand, „den ich selbst in der Bergpredigt vermisse“. Jenseits aller gelehrten Debatten prägt das Werk bis heute die Vorstel­lungswelt und das Lebensideal frommer Hindus. In allen Bevölkerungss­chichten werden Verse der Gītā auswendig gelernt und rezitiert, sie sind ein beliebter Stoff populärer Bücher, Fernsehse­rien und sogar Comics.

Auch in Europa stieß das Werk auf großes Interesse und trug maßgeblich zum neuen Indienbild im späten 18. Jahrhundert bei. Auf die erste englische Übersetzung von 1785 folgten 1787 eine französische und 1802 eine deutsche Übertragung. In Deutschland wurde Indien im Zuge der Sturm-und-Drang-Be­we­gung und der frühro­man­tis­chen Natur­philoso­phie zu einer Pro­jek­tionsfläche für die Sehnsucht nach einem ganzheitlichen, ursprünglicheren Leben, nach spir­itueller Erlösung und der Einheit von Körper und Geist. Johann Gottfried Herder, der ver­schiedene Nachdich­tun­gen des Werkes anfertigte, rühmte die intuitive, an­ti­ra­tional­is­tis­che Haltung in der al­tindis­chen Religion, die nicht alles mit abstrakten Ver­nun­ft­be­grif­fen zu erklären versuche. August Wilhelm Schlegel, der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Indologie in Deutschland, ließ 1823 eine San­skrit-Fas­sung mit lateinis­cher Übersetzung drucken, die unter den Gelehrten der Zeit große Verbreitung fand. Wilhelm von Humboldt nannte die Gītā „wohl das Tiefste und Erhabenste, was die Welt aufzuweisen habe“; ähnlich urteilten Arthur Schopen­hauer und Hermann Hesse. In den 1960er Jahren erlebte die Bhagavad Gītā, die mit über 2000 Übertra­gun­gen in 70 Sprachen nach der Bibel das am häufigsten übersetzte Werk der Weltlit­er­atur ist, in Europa und den USA eine Renaissance. Zivil­i­sa­tionsmüden Aussteigern, Esoterikern und Hippies galt sie als Evangelium der Befreiung und Selb­stver­wirk­lichung.

Über den Autor

Obwohl die Bhagavad Gītā offiziell nicht zu den vier Veden, also den archaischen, zunächst mündlich tradierten heiligen Schriften des Hinduismus zählt, kann sie doch eine ursprüngliche Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen und wird oftmals sogar als fünfte Veda bezeichnet. Der Legende nach schrieb der Weise Vyāsa (wörtlich: „Ordner“, „Sammler“) im Zustand der Erleuchtung das Heldenepos Mahābhārata und das in ihr enthaltene Lehrgedicht Bhagavad Gītā nieder. Der genaue Zeitpunkt der Nieder­schrift spielt in der tra­di­tionellen indischen Überliefer­ung eine un­ter­ge­ord­nete Rolle: Ihr zufolge wurde das Gedicht in einer nicht näher bestimmten Urzeit vor Zehn­tausenden von Jahren verfasst. Der Text, in dem sich Gott in der Person Krishnas dem Menschen offenbart und ihm das zeitlose, ewig gültige Weltgesetz verkündet, markiert nach sakraler Vorstellung überhaupt erst den Beginn der men­schlichen Kultur. Re­li­gion­swis­senschaftler und Indologen sehen das freilich etwas anders: Die Bhagavad Gītā, die zunächst an Fürstenhöfen von Barden mündlich vorgetragen wurde und in mehreren Fassungen existierte, nahm vermutlich zwischen dem zweiten Jahrhundert v. Chr. und dem dritten nachchristlichen Jahrhundert allmählich die heutige Gestalt an (wobei es auch hier abweichende Einschätzungen des Entste­hungszeitraums gibt). Tatsächlich deuten die vielen Bruch­stellen, redak­tionellen Einschübe und auch in­haltlichen Widersprüche darauf hin, dass die Gītā im Lauf der Jahrhun­derte aus vielen Quellen und Überliefer­un­gen ver­schiedener Traditionen zusam­mengewach­sen ist. Auch die frühen Kom­men­ta­toren des Werkes, unter ihnen Shankara, Rāmānuja und Bhāskara, drückten der Bhagavad Gītā mit ihren sich z. T. wider­sprechen­den In­ter­pre­ta­tio­nen einen jeweils eigenen Stempel auf.