Multipolare Welt

Buch Multipolare Welt

Die Zukunft der Globalisierung und wie Deutschland davon profitieren kann

Murmann,


Rezension

Die Glob­al­isierung ist in ihre zweite Phase eingetreten, postuliert der Ac­cen­ture-Be­rater Stephan Scholtissek: Glaubt man ihm, gehen die Impulse für die Weltwirtschaft nun nicht mehr nur von der klassischen Triade USA, Japan, Europa aus. In der mul­ti­po­laren Welt ergreifen auch Schwellenländer wie Mexiko oder Brasilien, arabische Scheichtümer und Russland die Initiative – allen voran natürlich die kommenden Giganten Indien und China. Der Autor weist deutlich auf die Defizite hin, die Deutschland und die deutschen Unternehmen angesichts dieser neuen Konkurrenz haben. Er zeigt aber auch positive Beispiele von Unternehmen auf, die die Her­aus­forderun­gen bereits erkannt haben und sich ihnen stellen. Paten­trezepte kennt Scholtissek nicht, außer vielleicht dieses: immer schön flexibel und innovativ sein. Der Autor breitet sein Material flüssig, übersichtlich und beispielo­ri­en­tiert aus, gespickt mit Unmengen von Zahlen. Deren generelle Überzeu­gungskraft ist bekannt, aber in dieser Ballung verliert das Ganze seinen Reiz. Schließlich ist ein Buch etwas anderes als eine 20-minütige Flipchart-Präsentation. Dennoch: BooksInShort empfiehlt Multipolare Welt allen Führungskräften in Wirtschaft und Politik.

Take-aways

  • Die Zukunft der Weltwirtschaft ist multipolar, nicht mehr nur die großen Drei – USA, Europa und Japan – geben den Takt an.
  • Schwellenländer, Rohstof­friesen und Tiger­staaten treten als globale Wet­tbe­wer­ber hinzu und greifen die In­dus­tri­es­taaten auf deren Heimatmärkten an.
  • Zu den neuen Konkur­renten zählen u. a. China, Indien, Russland, Brasilien, Mexiko, Südkorea, Singapur, die Golfstaaten, die Türkei und die Turkstaaten.
  • Die Lib­er­al­isierung der Weltmärkte schafft neue Chancen für alle.
  • Die wirtschaftlich relevanten Länder konkur­ri­eren weltweit um Arbeitskräfte, Ressourcen, Kapital und Absatzmärkte.
  • Viele auf­strebende Staaten haben allerdings auch interne Probleme wie marode In­fra­struk­tur, Bürokratie, Korruption und man­gel­haften Aus­bil­dungs­stand.
  • Auch Deutschland hat Schwächen: Das Aus­bil­dungssys­tem und die In­fra­struk­tur könnten besser, die Unternehmen in­no­va­tions­freudi­ger, der Staat schlanker sein.
  • Bachelor- und Mas­ter-Ab­schlüsse, Exzel­len­zini­tia­tiven und Leucht­turm­pro­jekte verbessern inzwischen die Situation in Deutschland.
  • Deutsche Unternehmen müssen sich auf Innovation und Qualität, Spitzen­pro­dukte und Pre­mi­um­seg­mente konzen­tri­eren und immer noch flexibler werden.
  • Es gibt keine Paten­trezepte, aber viele gute Beispiele weltweiter Di­ver­si­fika­tion, Vernetzung und Flex­i­bil­isierung deutscher Unternehmen.
 

Zusammenfassung

Mehr denn je gilt: Think global – act local

Als der mexikanis­che Ze­men­ther­steller Cemex 2005 das britische Konkur­ren­zun­ternehmen RMC kaufte, zu dem auch die deutsche Tochter Readymix gehört, arbeiteten deutsche Angestellte plötzlich für einen mexikanis­chen Eigner. Genauso sind Briten für den indischen Tata-Konz­ern tätig, und längst haben auch koreanische Er­fol­gsun­ternehmen wie Samsung Angestellte in anderen Teilen der Erde. In gleicher Weise stehen russische, arabische, brasil­ian­is­che und türkische Unternehmen an der Schwelle zu einem weltweiten un­ternehmerischen Engagement. Diese zweite Stufe der Glob­al­isierung stellt eine neue Dimension der Weltwirtschaft dar. Glob­al­isierung bedeutet nicht mehr nur Export aus den USA, Europa und Japan in die Dritte Welt oder Fer­ti­gungsver­lagerung an Bil­liglohn­stan­dorte. In der neuen, mul­ti­po­laren Welt müssen Märkte vor Ort mit lokalen Mitteln und Kräften bearbeitet und Fachkräfte weltweit gesucht werden, zudem ist eine multipolare Or­gan­i­sa­tion des Rohstoff- und En­ergiezu­flusses vonnöten. Umgekehrt kann man in den wohlhaben­der werdenden Schwellenländern auch immer mehr Waren und Di­en­stleis­tun­gen verkaufen.

Der lib­er­al­isierte Weltmarkt

Im Zuge der Lib­er­al­isierung sind in den vergangenen Jahrzehnten durch die GATT- und WTO-Prozesse Zölle und Han­dels­beschränkungen für Güter und Waren immer weiter abgebaut worden. Davon profitieren alle, besonders aber die Schwellenländer. Zudem wird der Schutz geistigen Eigentums vere­in­heitlicht und verstärkt. Die IT-Rev­o­lu­tion beschle­u­nigt die Entwicklung hin zum „globalen Dorf“ in ungeahntem Ausmaß. Multi­na­tionale Großkonzerne verstärken ihre in­ter­na­tionale Präsenz massiv. Bekannte Beispiele finden sich in Singapur oder am Forschungs- und En­twick­lungs­stan­dort Bangalore in Südindien, wo sich die großen Elektronik- und Soft­ware­fir­men von General Electric über Microsoft bis SAP gegenseitig auf die Füße treten und sich vernetzen. Einer der größten wirtschaftlichen Erfolge der jüngsten Zeit ist das robuste und preiswerte Nokia-Handy 1100, das eigens für den indischen Markt entwickelt wurde.

„Die Zeiten, da die USA, Japan und Westeuropa die Weltwirtschaft beherrscht haben, gehen un­wider­ru­flich zu Ende.“

Die Her­aus­forderun­gen der mul­ti­po­laren Welt

  • Arbeitskräfte: Die besten Spezial­is­ten und Talente werden weltweit gesucht. Von ihnen wird Flexibilität verlangt, sie müssen von den Unternehmen aber auch vorurteil­s­los integriert werden. Forschung und Entwicklung und spezielle Fer­ti­gungss­chritte werden heute bereits oft dort betrieben, wo die besten Kräfte zur Verfügung stehen, z. B. in Indien.
  • Kapitalströme: Sie fließen nicht mehr nur in Nord-Süd-, sondern zunehmend auch in Süd-Süd-Richtung: China etwa investiert sehr aktiv in Afrika und Lateinamerika, auch um sich dort Rohstof­fquellen zu sichern. Fi­nan­zan­leger investieren verstärkt in die neuen Boom­re­gio­nen. Umgekehrt besorgen sich innovative Firmen Kapital dort, wo sie es bekommen können, wie der Sprung von Qiagen an die New Yorker NASDAQ zeigt.
  • Rohstoffe: Welche Dimensionen die Rohölnachfrage angenommen hat, sieht man täglich an der Zapfsäule. Umso wichtiger wird die Entwicklung al­ter­na­tiver und umwelt­fre­undlicher Energien. China hat in dieser Hinsicht bereits ehrgeizige Ziele und engagiert sich außerdem bevorzugt in Ländern, wo wichtige Bodenschätze abgebaut werden. Wasser wird zu einer Ressource von strate­gis­cher Bedeutung.
  • Absatzmärkte: Die Er­fol­gs­formel für den Absatz von Fer­tig­pro­duk­ten auf dem Kon­sumenten­markt lautet in Zukunft: Think local. Produkte müssen den lokalen Er­fordernissen, Kundenbedürfnissen und Geschmack­strends angepasst sein. Der Nach­holbe­darf und die Kaufkraft in den Schwellenländern sind immens. In China gibt es bisher 400 Millionen Handynutzer. Selbst bei den Ärmsten der Armen sind Mark­t­poten­ziale vorhanden – wenn man sie zu nutzen versteht, wie etwa durch den Verkauf sehr klein por­tion­ierter Sham­poo-Pack­un­gen für eine Rupie in Indien.
  • Forschung und Entwicklung: In der flexiblen Handhabung dieses Bereichs liegt der Schüssel zum Erfolg für die Zukunft. In­for­matik­ern und Ingenieuren müssen beste Ar­beits­be­din­gun­gen geboten werden, um sie zu engagieren – und zu halten. Jedes Land, auch Deutschland, sollte optimale, an­wen­dung­sori­en­tierte Bildungs- und Aus­bil­dungsvo­raus­set­zun­gen bieten. __
„Die Zukunft gehört nicht dem regionalen Pro­tek­tion­is­mus, sondern einer Frei­han­del­szone mit gleichen Bedingungen für alle Teilnehmer, die den gesamten Erdball umfasst.“

__Stärken und Schwächen der neuen Mitspieler Rohstof­fre­iche Länder entwickeln sich derzeit in hohem Tempo. Zu ihnen gehören u. a. Brasilien, Russland, Australien und die Golfstaaten. Brasilien ist zudem ein bedeutender Exporteur land­wirtschaftlicher Produkte, eine wahre Agrar­su­per­ma­cht. Mexiko ist ebenfalls ein Rohstof­f­ex­por­teur und zugleich ein Niedriglohn­land mit einer gewissen Abhängigkeit von der US-Kon­junk­tur. Unter un­zure­ichen­der oder regelrecht maroder In­fra­struk­tur sowie schwerfälliger Bürokratie bis hin zu übler Korruption leiden Brasilien, Mexiko und Russland. Bürokratie und Korruption sind auch ein Problem in China und Indien. Vielfach kommen noch kulturelle und sprachliche Barrieren hinzu. Geradezu mustergültig sind dagegen die Verhältnisse in Singapur, in den baltischen Staaten und in Irland. Dort ist die In­fra­struk­tur intakt und die Steuern sind niedrig, die Bürokratie ist kein Hindernis und der Aus­bil­dungs­stand hoch. Das sind die Er­fol­gs­fak­toren der Zukunft. Ähnlich sieht es in Südkorea aus: Das Land verfügt mit­tler­weile über eine höheres Brut­toin­land­spro­dukt als Kanada, Australien oder Singapur. Südkorea profitiert besonders vom Aufschwung in China und ist inzwischen am Weltmarkt völlig etabliert. Die Golfstaaten planen mit ihren gi­gan­tis­chen Fi­nanzres­sourcen gezielt für die Zukunft nach dem Öl. Indien bietet ein gespaltenes Bild: einerseits weltweit führender High­tech-Stan­dort mit einer boomenden Mit­telschicht, an­der­er­seits stets im Kampf gegen große soziale, in­fra­struk­turelle und bürokratische Probleme. China ist allein aufgrund seiner Größe und Dynamik ein Global Player.

Deutsch­lands Stärken und Schwächen

Noch hält Deutschland in diesem Umfeld seinen Platz als Ex­portwelt­meis­ter, weil es als rohstof­farmes Land über zwei besondere Stärken verfügt: Innovation und Qualität, auf denen bereits Deutsch­lands im 19. Jahrhundert erworbener Ruf als führende Erfinder- und Bil­dungsna­tion beruhte. Im Verlauf des 20. Jahrhun­derts begann dieser gute Ruf an allen Ecken und Enden zu bröckeln:

  • Die PISA-Studie hat gezeigt: Das deutsche Bil­dungssys­tem ist nicht mustergültig. Es ist überaltert, sozial ungerecht und nicht an­wen­dung­sori­en­tiert. Nicht einmal der Fremd­sprache­nun­ter­richt ist prax­is­be­zo­gen – eine Grund­vo­raus­set­zung für eine starke Ex­port­na­tion in einer mul­ti­po­laren Welt. Ausländische Studenten kommen nur noch in geringer Zahl nach Deutschland. Die mangelhafte Förderung zuge­wan­derter Kinder führt zu sozialen Problemen wie Langzeitar­beit­slosigkeit.
  • Tolle Erfindungen werden zwar noch in Deutschland gemacht, aber nicht mehr dort umgesetzt und vermarktet. Ein paar Beispiele: Faxgerät, Hybridmotor, MP3-Technik, LCD-Tech­nolo­gie.
  • Spitzen­forschung wird nach wie vor bürokratisch gegängelt.
  • Die Verkehrsin­fra­struk­tur ist nicht auf dem Stand, auf dem sie sein könnte: Deutschland steht im Stau. Das gilt auch für die Daten-, Strom- und Schienen­netze.
  • Risikokap­i­tal ist schwer zu beschaffen.
  • Die Bevölkerung ist überwiegend in­no­va­tion­sskep­tisch: Kernkraft, Genmais, Transrapid und Stam­mzel­len­forschung werden kritisch beäugt.
  • Das Un­ternehmensman­age­ment ist vielerorts de­mo­tivierend, nicht in­no­va­tions­freudig und zu hi­er­ar­chisch.
  • Die Un­ternehmens­men­talität ist ingenieurs- statt ser­vice­ori­en­tiert.
  • Die Ar­beit­nehmer sind nicht flexibel genug in puncto Weit­er­bil­dung oder Standortveränderung.
  • Der Ar­beits­markt ist überreg­uliert, die Ar­beit­skosten und die Steuerlast sind sehr hoch.

Warum Deutschland noch wet­tbe­werbsfähig ist ...

Deutschland könnte seine Stellung in der glob­al­isierten Wirtschaft aber nicht behaupten, wenn alles schlecht wäre. Es gibt durchaus positive En­twick­lungsansätze für die Zukunft, z. B. diese:

  • Die Einführung von Bachelor- und Mas­ter-Stu­di­engängen erhöht die in­ter­na­tionale Wet­tbe­werbsfähigkeit der Hochschulen.
  • Die Bildung von Exzel­lenz-Clus­tern, z. B. die Förder­pro­jekte im Bereich der Spitzen­forschung und der regionalen Entwicklung in Baden-Württemberg oder das Zusam­men­wirken von Wis­senschaft und Wirtschaft im Rhein-Ruhr-Ge­biet, trägt ebenfalls zur Wet­tbe­werbsfähigkeit bei.
  • Die staatliche Investition in Leucht­turm­pro­jekte hat dazu geführt, dass Deutschland in der Lasertech­nolo­gie, in erneuer­baren und al­ter­na­tiven Energien und in einigen smarten Tech­nolo­gien führend ist.
„Wie weit muss Deutschland noch absinken, damit stran­gulierende Ar­beits­mark­tbes­tim­mungen endlich abgeschafft werden?“

Auch Unternehmen liefern Beispiele, wie man sich erfolgreich auf die neuen Gegeben­heiten der mul­ti­po­laren Welt einstellt. Paten­trezepte gibt es nicht – außer vielleicht, dass man immer flexibel und innovativ bleiben muss. So hat etwa Claas, ein führender Land­maschi­nen-Her­steller, Mähdrescher und Traktoren entwickelt, die besonders an die jeweiligen kli­ma­tis­chen Bedingungen in den Exportländern angepasst sind. Claas verbessert sich auch ständig durch ein in den Vertrieb eingebautes Feed­backsys­tem. SAP betreibt weltweit aktiv Tal­entscout­ing und Per­son­alakquise und verlagert Forschung & Entwicklung ins Ausland. Die BASF wurde tief greifend re­struk­turi­ert und hat sich dadurch in­ter­na­tional völlig neu aufgestellt, womit ihr gelingt, durch Zukäufe zukunftsträchtige Geschäftsfelder zu erschließen. Das in der Diagnostik führende Unternehmen Qiagen hat sich Kapital an der New Yorker Börse besorgt und ist als einziges deutsches Unternehmen an der NASDAQ gelistet.

... und wie es dabei bleibt

Für Unternehmer gehört das In­no­va­tion­s­man­age­ment zum zentralen Auf­gaben­bere­ich. Sie müssen aktives Ideen- und Tal­entscout­ing betreiben, eine in­no­va­tions­fre­undliche Kultur etablieren und für eine schnelle und effiziente Umsetzung der Ideen mit entsprechen­dem Service sorgen. Dabei geht es nicht nur um die klassische Erfindung, sondern auch um Produkt- oder Ver­trieb­sverbesserun­gen hin zu größerer Kundennähe. Deutsche Unternehmen sollten ihre Fer­ti­gungstiefe verringern und weltweit nach den günstigsten Standorten für die einzelnen Pro­duk­tion­ss­chritte suchen. Diese müssen jeweils angepasst werden, wenn sich dort die Parameter ändern. In allen in­no­va­tion­strächtigen Bereichen sollte den Mi­tar­beit­ern mehr Freiraum gelassen werden, auch für eigene Projekte. Besonderes Augenmerk verdient gerade in Deutschland mit seiner In­ge­nieurs­men­talität das Branding von Erfindungen und Produkten zu emo­tions­be­set­zten Marken. Der Staat sollte sich ver­schlanken und das Vorschrif­ten­dic­kicht lichten.

„Einzig und allein die Schritte mit dem höchsten Wertschöpfungsan­teil können auch im Hochlohn- und Hochs­teuer­land Deutschland profitabel umgesetzt werden: Forschung & Entwicklung, Branding, Vertrieb, Technologie und hoch au­toma­tisierte Produktion und Prozesse.“

In der mul­ti­po­laren Welt treten neue Mitspieler auf den Absatz- wie auf den Ressourcen- und Arbeitskräftemärkten auf und verschärfen nicht nur dort den Wettbewerb, sondern auch auf den Heimatmärkten der klassischen In­dus­trien­atio­nen USA, Europa und Japan. Um an der Spitze zu bleiben, müssen Deutschland und die deutschen Unternehmen alles dafür tun, den Qualitäts- und In­no­va­tionsvor­sprung zu halten, und vor allem auf Premium- und High-End-Pro­dukte setzen.

Über den Autor

Stephan Scholtissek ist Vor­sitzen­der der Geschäftsführung der Ländergruppe Deutschland, Österreich, Schweiz bei der in­ter­na­tionalen Un­ternehmens- und Man­age­ment­ber­atung Accenture. Davor war der promovierte Biochemiker beim Medi­z­in­tech­nolo­gie­un­ternehmen Dräger und ver­schiede­nen Be­ratungs­fir­men tätig. Außerdem ist er Autor mehrerer Bücher, darunter New Outsourcing.