Mehr denn je gilt: Think global – act local
Als der mexikanische Zementhersteller Cemex 2005 das britische Konkurrenzunternehmen RMC kaufte, zu dem auch die deutsche Tochter Readymix gehört, arbeiteten deutsche Angestellte plötzlich für einen mexikanischen Eigner. Genauso sind Briten für den indischen Tata-Konzern tätig, und längst haben auch koreanische Erfolgsunternehmen wie Samsung Angestellte in anderen Teilen der Erde. In gleicher Weise stehen russische, arabische, brasilianische und türkische Unternehmen an der Schwelle zu einem weltweiten unternehmerischen Engagement. Diese zweite Stufe der Globalisierung stellt eine neue Dimension der Weltwirtschaft dar. Globalisierung bedeutet nicht mehr nur Export aus den USA, Europa und Japan in die Dritte Welt oder Fertigungsverlagerung an Billiglohnstandorte. In der neuen, multipolaren Welt müssen Märkte vor Ort mit lokalen Mitteln und Kräften bearbeitet und Fachkräfte weltweit gesucht werden, zudem ist eine multipolare Organisation des Rohstoff- und Energiezuflusses vonnöten. Umgekehrt kann man in den wohlhabender werdenden Schwellenländern auch immer mehr Waren und Dienstleistungen verkaufen.
Der liberalisierte Weltmarkt
Im Zuge der Liberalisierung sind in den vergangenen Jahrzehnten durch die GATT- und WTO-Prozesse Zölle und Handelsbeschränkungen für Güter und Waren immer weiter abgebaut worden. Davon profitieren alle, besonders aber die Schwellenländer. Zudem wird der Schutz geistigen Eigentums vereinheitlicht und verstärkt. Die IT-Revolution beschleunigt die Entwicklung hin zum „globalen Dorf“ in ungeahntem Ausmaß. Multinationale Großkonzerne verstärken ihre internationale Präsenz massiv. Bekannte Beispiele finden sich in Singapur oder am Forschungs- und Entwicklungsstandort Bangalore in Südindien, wo sich die großen Elektronik- und Softwarefirmen von General Electric über Microsoft bis SAP gegenseitig auf die Füße treten und sich vernetzen. Einer der größten wirtschaftlichen Erfolge der jüngsten Zeit ist das robuste und preiswerte Nokia-Handy 1100, das eigens für den indischen Markt entwickelt wurde.
„Die Zeiten, da die USA, Japan und Westeuropa die Weltwirtschaft beherrscht haben, gehen unwiderruflich zu Ende.“
Die Herausforderungen der multipolaren Welt
- Arbeitskräfte: Die besten Spezialisten und Talente werden weltweit gesucht. Von ihnen wird Flexibilität verlangt, sie müssen von den Unternehmen aber auch vorurteilslos integriert werden. Forschung und Entwicklung und spezielle Fertigungsschritte werden heute bereits oft dort betrieben, wo die besten Kräfte zur Verfügung stehen, z. B. in Indien.
- Kapitalströme: Sie fließen nicht mehr nur in Nord-Süd-, sondern zunehmend auch in Süd-Süd-Richtung: China etwa investiert sehr aktiv in Afrika und Lateinamerika, auch um sich dort Rohstoffquellen zu sichern. Finanzanleger investieren verstärkt in die neuen Boomregionen. Umgekehrt besorgen sich innovative Firmen Kapital dort, wo sie es bekommen können, wie der Sprung von Qiagen an die New Yorker NASDAQ zeigt.
- Rohstoffe: Welche Dimensionen die Rohölnachfrage angenommen hat, sieht man täglich an der Zapfsäule. Umso wichtiger wird die Entwicklung alternativer und umweltfreundlicher Energien. China hat in dieser Hinsicht bereits ehrgeizige Ziele und engagiert sich außerdem bevorzugt in Ländern, wo wichtige Bodenschätze abgebaut werden. Wasser wird zu einer Ressource von strategischer Bedeutung.
- Absatzmärkte: Die Erfolgsformel für den Absatz von Fertigprodukten auf dem Konsumentenmarkt lautet in Zukunft: Think local. Produkte müssen den lokalen Erfordernissen, Kundenbedürfnissen und Geschmackstrends angepasst sein. Der Nachholbedarf und die Kaufkraft in den Schwellenländern sind immens. In China gibt es bisher 400 Millionen Handynutzer. Selbst bei den Ärmsten der Armen sind Marktpotenziale vorhanden – wenn man sie zu nutzen versteht, wie etwa durch den Verkauf sehr klein portionierter Shampoo-Packungen für eine Rupie in Indien.
- Forschung und Entwicklung: In der flexiblen Handhabung dieses Bereichs liegt der Schüssel zum Erfolg für die Zukunft. Informatikern und Ingenieuren müssen beste Arbeitsbedingungen geboten werden, um sie zu engagieren – und zu halten. Jedes Land, auch Deutschland, sollte optimale, anwendungsorientierte Bildungs- und Ausbildungsvoraussetzungen bieten. __
„Die Zukunft gehört nicht dem regionalen Protektionismus, sondern einer Freihandelszone mit gleichen Bedingungen für alle Teilnehmer, die den gesamten Erdball umfasst.“
__Stärken und Schwächen der neuen Mitspieler Rohstoffreiche Länder entwickeln sich derzeit in hohem Tempo. Zu ihnen gehören u. a. Brasilien, Russland, Australien und die Golfstaaten. Brasilien ist zudem ein bedeutender Exporteur landwirtschaftlicher Produkte, eine wahre Agrarsupermacht. Mexiko ist ebenfalls ein Rohstoffexporteur und zugleich ein Niedriglohnland mit einer gewissen Abhängigkeit von der US-Konjunktur. Unter unzureichender oder regelrecht maroder Infrastruktur sowie schwerfälliger Bürokratie bis hin zu übler Korruption leiden Brasilien, Mexiko und Russland. Bürokratie und Korruption sind auch ein Problem in China und Indien. Vielfach kommen noch kulturelle und sprachliche Barrieren hinzu. Geradezu mustergültig sind dagegen die Verhältnisse in Singapur, in den baltischen Staaten und in Irland. Dort ist die Infrastruktur intakt und die Steuern sind niedrig, die Bürokratie ist kein Hindernis und der Ausbildungsstand hoch. Das sind die Erfolgsfaktoren der Zukunft. Ähnlich sieht es in Südkorea aus: Das Land verfügt mittlerweile über eine höheres Bruttoinlandsprodukt als Kanada, Australien oder Singapur. Südkorea profitiert besonders vom Aufschwung in China und ist inzwischen am Weltmarkt völlig etabliert. Die Golfstaaten planen mit ihren gigantischen Finanzressourcen gezielt für die Zukunft nach dem Öl. Indien bietet ein gespaltenes Bild: einerseits weltweit führender Hightech-Standort mit einer boomenden Mittelschicht, andererseits stets im Kampf gegen große soziale, infrastrukturelle und bürokratische Probleme. China ist allein aufgrund seiner Größe und Dynamik ein Global Player.
Deutschlands Stärken und Schwächen
Noch hält Deutschland in diesem Umfeld seinen Platz als Exportweltmeister, weil es als rohstoffarmes Land über zwei besondere Stärken verfügt: Innovation und Qualität, auf denen bereits Deutschlands im 19. Jahrhundert erworbener Ruf als führende Erfinder- und Bildungsnation beruhte. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts begann dieser gute Ruf an allen Ecken und Enden zu bröckeln:
- Die PISA-Studie hat gezeigt: Das deutsche Bildungssystem ist nicht mustergültig. Es ist überaltert, sozial ungerecht und nicht anwendungsorientiert. Nicht einmal der Fremdsprachenunterricht ist praxisbezogen – eine Grundvoraussetzung für eine starke Exportnation in einer multipolaren Welt. Ausländische Studenten kommen nur noch in geringer Zahl nach Deutschland. Die mangelhafte Förderung zugewanderter Kinder führt zu sozialen Problemen wie Langzeitarbeitslosigkeit.
- Tolle Erfindungen werden zwar noch in Deutschland gemacht, aber nicht mehr dort umgesetzt und vermarktet. Ein paar Beispiele: Faxgerät, Hybridmotor, MP3-Technik, LCD-Technologie.
- Spitzenforschung wird nach wie vor bürokratisch gegängelt.
- Die Verkehrsinfrastruktur ist nicht auf dem Stand, auf dem sie sein könnte: Deutschland steht im Stau. Das gilt auch für die Daten-, Strom- und Schienennetze.
- Risikokapital ist schwer zu beschaffen.
- Die Bevölkerung ist überwiegend innovationsskeptisch: Kernkraft, Genmais, Transrapid und Stammzellenforschung werden kritisch beäugt.
- Das Unternehmensmanagement ist vielerorts demotivierend, nicht innovationsfreudig und zu hierarchisch.
- Die Unternehmensmentalität ist ingenieurs- statt serviceorientiert.
- Die Arbeitnehmer sind nicht flexibel genug in puncto Weiterbildung oder Standortveränderung.
- Der Arbeitsmarkt ist überreguliert, die Arbeitskosten und die Steuerlast sind sehr hoch.
Warum Deutschland noch wettbewerbsfähig ist ...
Deutschland könnte seine Stellung in der globalisierten Wirtschaft aber nicht behaupten, wenn alles schlecht wäre. Es gibt durchaus positive Entwicklungsansätze für die Zukunft, z. B. diese:
- Die Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen erhöht die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen.
- Die Bildung von Exzellenz-Clustern, z. B. die Förderprojekte im Bereich der Spitzenforschung und der regionalen Entwicklung in Baden-Württemberg oder das Zusammenwirken von Wissenschaft und Wirtschaft im Rhein-Ruhr-Gebiet, trägt ebenfalls zur Wettbewerbsfähigkeit bei.
- Die staatliche Investition in Leuchtturmprojekte hat dazu geführt, dass Deutschland in der Lasertechnologie, in erneuerbaren und alternativen Energien und in einigen smarten Technologien führend ist.
„Wie weit muss Deutschland noch absinken, damit strangulierende Arbeitsmarktbestimmungen endlich abgeschafft werden?“
Auch Unternehmen liefern Beispiele, wie man sich erfolgreich auf die neuen Gegebenheiten der multipolaren Welt einstellt. Patentrezepte gibt es nicht – außer vielleicht, dass man immer flexibel und innovativ bleiben muss. So hat etwa Claas, ein führender Landmaschinen-Hersteller, Mähdrescher und Traktoren entwickelt, die besonders an die jeweiligen klimatischen Bedingungen in den Exportländern angepasst sind. Claas verbessert sich auch ständig durch ein in den Vertrieb eingebautes Feedbacksystem. SAP betreibt weltweit aktiv Talentscouting und Personalakquise und verlagert Forschung & Entwicklung ins Ausland. Die BASF wurde tief greifend restrukturiert und hat sich dadurch international völlig neu aufgestellt, womit ihr gelingt, durch Zukäufe zukunftsträchtige Geschäftsfelder zu erschließen. Das in der Diagnostik führende Unternehmen Qiagen hat sich Kapital an der New Yorker Börse besorgt und ist als einziges deutsches Unternehmen an der NASDAQ gelistet.
... und wie es dabei bleibt
Für Unternehmer gehört das Innovationsmanagement zum zentralen Aufgabenbereich. Sie müssen aktives Ideen- und Talentscouting betreiben, eine innovationsfreundliche Kultur etablieren und für eine schnelle und effiziente Umsetzung der Ideen mit entsprechendem Service sorgen. Dabei geht es nicht nur um die klassische Erfindung, sondern auch um Produkt- oder Vertriebsverbesserungen hin zu größerer Kundennähe. Deutsche Unternehmen sollten ihre Fertigungstiefe verringern und weltweit nach den günstigsten Standorten für die einzelnen Produktionsschritte suchen. Diese müssen jeweils angepasst werden, wenn sich dort die Parameter ändern. In allen innovationsträchtigen Bereichen sollte den Mitarbeitern mehr Freiraum gelassen werden, auch für eigene Projekte. Besonderes Augenmerk verdient gerade in Deutschland mit seiner Ingenieursmentalität das Branding von Erfindungen und Produkten zu emotionsbesetzten Marken. Der Staat sollte sich verschlanken und das Vorschriftendickicht lichten.
„Einzig und allein die Schritte mit dem höchsten Wertschöpfungsanteil können auch im Hochlohn- und Hochsteuerland Deutschland profitabel umgesetzt werden: Forschung & Entwicklung, Branding, Vertrieb, Technologie und hoch automatisierte Produktion und Prozesse.“
In der multipolaren Welt treten neue Mitspieler auf den Absatz- wie auf den Ressourcen- und Arbeitskräftemärkten auf und verschärfen nicht nur dort den Wettbewerb, sondern auch auf den Heimatmärkten der klassischen Industrienationen USA, Europa und Japan. Um an der Spitze zu bleiben, müssen Deutschland und die deutschen Unternehmen alles dafür tun, den Qualitäts- und Innovationsvorsprung zu halten, und vor allem auf Premium- und High-End-Produkte setzen.