Agnes Grey

Buch Agnes Grey

London , 1847
Diese Ausgabe: Manesse,


Worum es geht

Gesellschaft­skri­tis­ches und moralisches Lehrstück

Mit dem zu großen Teilen au­to­bi­ografis­chen Roman Agnes Grey hielt Anne Brontë der Gesellschaft ihrer Zeit den Spiegel vor. Sie beschreibt das vik­to­ri­an­is­che England Mitte des 19. Jahrhun­derts aus kleinbürgerlicher Sicht. Dabei zeigt sie die Situation der Frauen in un­ter­schiedlichen Ständen. Am Ende erscheinen die Frauen der Elite als die unglücklichsten: verheiratet mit rück­sicht­slosen Männern, überfordert mit der Erziehung der Kinder und ohne religiösen Trost. Anders die Titelfigur: Die min­derbe­mit­telte Gouvernante Agnes erfährt die Beschränkungen des vik­to­ri­an­is­chen England leidvoll, überwindet sie aber mit viel Selbst- und Gottver­trauen und findet am Ende ihr beschei­denes Glück. Wenn auch nicht in ihrer demütigen Ergebenheit, dafür umso mehr in der Besinnung auf ihre eigenen Kräfte und moralischen Prinzipien zeichnet Anne Brontë mit Agnes das Bild einer modernen, selbstständigen Frau. Allerdings mögen Agnes’ Monologe auf heutige Leser teilweise langatmig und jammervoll wirken, etwa wenn sie an der Re­spek­t­losigkeit und Wildheit ihrer Zöglinge verzweifelt und überdies noch bedauert, keine Züch­ti­gungsmit­tel einsetzen zu dürfen. Dennoch hat der Roman es verdient, aus dem Schatten her­auszutreten, den die Werke der anderen Brontë-Schwestern auf ihn geworfen haben.

Take-aways

  • Agnes Grey ist das Romandebüt der jüngsten Brontë-Schwester.
  • Inhalt: Um ihre mittellose Familie zu unterstützen, nimmt die junge Agnes Grey nacheinan­der zwei Stellen als Gouvernante in reichen Häusern an. Von ihren Zöglingen wie auch von ihren Vorge­set­zten wird sie respektlos behandelt. Als Untergebene erlebt sie Ignoranz und Un­gerechtigkeit. Gegen alle Widerstände und Ent­behrun­gen findet Agnes schließlich ihren beschei­de­nen Weg ins Ehe- und Familienglück.
  • Agnes Grey ist weitgehend au­to­bi­ografisch geprägt und stützt sich auf Anne Brontës Erlebnisse als Gouvernante.
  • Der Roman ist von einer starken Kritik an den herrschen­den Klassen durchzogen.
  • Soziale Klassen werden im Buch durch un­ter­schiedliche Sprachstile charak­ter­isiert.
  • Agnes Grey steht bis heute im Schatten der Werke von Anne Brontës Schwestern: Emilys Sturmhöhe und Charlottes Jane Eyre.
  • Im Gegensatz zu den Büchern von Annes Schwestern ist Agnes Grey von einer nüchternen Erzählweise geprägt.
  • Der Text beinhaltet eine Vielzahl biblischer Zitate und An­spielun­gen.
  • Anne Brontë starb mit 29 Jahren an Tuberkulose.
  • Zitat: „Geduld, Festigkeit und Ausdauer waren meine einzigen Waffen, und diese beschloss ich bis zum Äußersten einzusetzen.“
 

Zusammenfassung

Das Nesthäkchen übernimmt Ve­r­ant­wor­tung

Agnes Grey wächst im Haus ihres Vaters, des Landgeistlichen Richard Grey, in Nordengland auf. Sie ist die jüngere von zwei Schwestern. Agnes ist ein verhätscheltes Kind, das in der Abgeschieden­heit der Provinz fromm und gutmütig erzogen wurde. Der Vater hadert mit der Schuld, Agnes’ Mutter, die eigentlich aus gutem Haus stammt, durch die Heirat um ihren Reichtum gebracht zu haben, denn sie musste seinetwegen auf ihr Erbe verzichten. Er strebt danach, sein beschei­denes Vermögen zu vergrößern. Das Schuldgefühl treibt den Vater in eine unsichere Investition, bei der er sein ganzes Geld verliert. Er wird krank vor Gram. In der fi­nanziellen Not entscheidet sich Agnes, als Gouvernante Geld zu verdienen. Voller Ideale verlässt sie ihr Elternhaus und tritt die Tagesreise zum Anwesen der Bloomfields an.

„(...) aufgrund meines zurückgezogenen Lebens und der schützenden Fürsorge meiner Mutter und meiner Schwester wusste ich wohl, dass manch ein Mädchen von fünfzehn oder darunter mit einem fraulicheren Benehmen, größerer Ungezwun­gen­heit und Selb­st­be­herrschung aus­ges­tat­tet war als ich.“ (S. 31)

Agnes wird von Mrs Bloomfield frostig empfangen, was ihr den Einstand als Gouvernante erschwert. Der missglückte Beginn ist nur ein Vorbote der kommenden Strapazen. Die vier Kinder, von der Mutter als ehrlich, gelehrsam, brav und sanft geschildert, entpuppen sich als das genaue Gegenteil. Tom, von Agnes „Master Tom“ genannt und sieben Jahre alt, ist der einzige Junge und ein geltungssüchtiges Kind. Er hat eine besondere Vorliebe dafür, Tiere zu quälen. Vor Agnes haben die Kinder keinerlei Respekt: Sie sabotieren den Unterricht. Die vierjährige Fanny fällt in erster Linie durch Wutanfälle auf. Da die Eltern Agnes jede Form von Züchtigung verboten haben, müht sie sich bis zur Erschöpfung mit den verzogenen Kindern ab.

Es wird noch schlimmer

Nach einigen Wochen Aufenthalt bei den Bloomfields lernt Agnes die alte Mrs Bloomfield kennen, die Großmutter väter­lich­er­seits der Kinder. Diese redet hinter Agnes’ Rücken schlecht über sie und stellt auf lächerliche Weise ihre Got­tergeben­heit zur Schau – ein Verhalten, das die Pfar­rerstochter noch mehr abstößt. Agnes zieht sich auch das Misstrauen des Hausherrn Mr Bloomfield zu, der Agnes’ Arbeit jetzt kon­trol­liert und tadelt. Noch mehr Schwierigkeiten bereitet Agnes der dümmliche und eitle Bruder von Mrs Bloomfield, Onkel Robson. Dieser verführt seinen Neffen Tom zum Alko­holkon­sum, unterstützt dessen Tierquälereien und behandelt Bedienstete mit Verachtung. Eines Tages kommt es zum offenen Konflikt zwischen Agnes und Onkel Robson. Er hat Tom ein Nest mit hilflosen Vogeljungen geschenkt. Um zu verhindern, dass Tom seine Folterpläne mit den Tieren in die Tat umsetzt, tötet Agnes die Küken mit einem Stein – widerwillig, aber im Wissen, Schlimmeres verhindert zu haben. Dem anschließenden Einschüchterungsver­such des Onkels hält Agnes stand, die Maßregelung durch Toms Mutter muss sie letztlich aber wider­spruch­s­los über sich ergehen lassen. Nach einer für Agnes anstren­gen­den Zeit kommt das unerwartete Ende ihrer Anstellung. Sie wird entlassen, weil die Bloomfields mit den Fortschrit­ten der Kinder unzufrieden sind.

Zweiter Versuch und neue Strapazen

In der Hoffnung auf eine bessere Behandlung nimmt Agnes eine neue Stelle bei der adligen Familie Murray an. Der Empfang an ihrer neuen Arbeitsstätte fällt jedoch nicht fre­undlicher aus als bei den Bloomfields. Agnes’ neue Schützlinge sind älter als die Bloom­field-Kinder und Agnes hofft, das würde ihr den Zugang erleichtern. Sie wird enttäuscht. Rosalie Murray ist 16 Jahre alt, aus­ge­sprochen hübsch und sehr eitel. So wie ihre Erscheinung dienen auch ihre schulischen Fer­tigkeiten vor allem als Mittel zum Vorzeigen: Alles außer Sprachen, Musik, Zeichnen und Handarbeit findet Agnes vernachlässigt vor. Die kleinere Schwester Matilda ist 14, weist hohe Wissenslücke auf und ist vernünftigen Argumenten nicht zugänglich. Den elfjährigen John erlebt Agnes als lauten und un­gelehri­gen Grobian. Der jüngste Sohn der Familie, Charles, ist zehn Jahre alt und in Agnes’ Augen feige und selbstsüchtig. Agnes schafft es gegen alle inneren Widerstände, mit ihren Lehrver­suchen so lange durchzuhal­ten, bis die zwei Jungen in eine Schule gegeben werden. Nach Ablauf eines Jahres im Dienst der Familie Murray sieht Agnes erste Anzeichen von Respekt bei ihren Zöglingen.

Gute und schlechte Kirchenmänner

Zu Rosalies 18. Geburtstag ve­r­anstal­ten die Murrays einen Ball, der die junge Frau in große Aufregung versetzt. Agnes reist derweil zu ihrer Familie, um dort Weihnachten zu verbringen und der Hochzeit ihrer Schwester Mary beizuwohnen. Bei der Rückkehr überfällt Rosalie die Gouvernante mit einer auss­chweifenden Erzählung ihrer Ballnacht. Voller Stolz berichtet sie von ihrer umwerfenden Wirkung auf die Männerwelt. Nebenbei erwähnt Rosalie den neuen Hil­f­sp­far­rer Edward Weston, der ihren Reizen allerdings nicht sofort erlegen sei und folglich nur als dumm und gefühllos gelten könne. Diesen Hil­f­sp­far­rer lernt Agnes später als aufrichti­gen, ernsten und frommen Redner schätzen. Im Gegensatz zu ihm erweist sich Westons Vorge­set­zter, der Rektor Mr Hatfield, als ergebener Diener der Murrays in der Öffentlichkeit. Auf der Kanzel ist er ein erbitterter Eiferer, der Ungehorsam gegen die Kirche verdammt und sich dabei selbstgefällig in einer Mischung aus Faulheit und Hochmut präsentiert.

„Geduld, Festigkeit und Ausdauer waren meine einzigen Waffen, und diese beschloss ich bis zum Äußersten einzusetzen.“ (S. 52)

Bei ihren Besuchen mit Rosalie und Matilda bei den Häuslern, den armen Bewohnern der Ländereien der Murrays, lernt Agnes Nancy Brown, eine augenkranke Witwe, kennen, und liest ihr aus der Bibel vor. Von der frommen Frau erfährt Agnes, dass Mr Weston die armen Häusler der Gemeinde regelmäßig besucht und ihnen Trost spendet. Im Gegensatz zu Rektor Hatfield zeigt sich Weston als in­ter­essierter Zuhörer und Ratgeber. Ohne ihn bisher persönlich getroffen zu haben, beginnt Agnes Sympathie für den Hil­f­sp­far­rer zu entwickeln. Bei ihrem zweiten Besuch bei Nancy Brown begegnet sie ihm: Sie ist von seiner Güte und Fre­undlichkeit beeindruckt.

Echte Liebe kontra le­icht­fer­tige Spielerei

Agnes begleitet ihre Zöglinge jetzt häufiger auf dem Fußweg von der Kirche oder aus dem Dorf zurück nach Horton Lodge, dem Anwesen der Murrays. Rosalie und auch Matilda unternehmen diese Gänge vor allem, um „Huldigungen ent­ge­gen­zunehmen“, während Agnes weitgehend ignoriert wird. Doch eines Tages trifft sie auf Mr Weston, der zufällig denselben Weg hat. Er überrascht Agnes mit dem Angebot, Blumen für sie zu pflücken, und es entspinnt sich ein Gespräch. Agnes erfährt, dass Mr Westons keine lebenden Angehörigen mehr hat, aber dennoch nicht mit seinem Schicksal hadert. Er findet Trost und Glück in seiner Aufgabe als Seelsorger. Dass Agnes’ Zuneigung zu Weston stärker wird, merken auch die jungen Damen. Sie necken ihre Gouvernante, Agnes streitet aber ab, Gefühle für Weston entwickelt zu haben. Zurück im Haus der Murrays betet sie inbrünstig für Westons Glück – und für ihr eigenes.

„(...) alle Bemühungen werden von denen, die man unter sich hat, vereitelt und verlacht, und von denen, die man über sich hat, ungerecht kritisiert und falsch beurteilt.“ (über die Bloomfields, S. 67)

Rosalie trifft sich in der Folge heimlich mit Rektor Hatfield und macht sich vor Agnes über ihn lustig. Wissend, dass Hatfield sich in sie verliebt hat, erklärt sie Agnes, er tauge als un­ter­halt­samer Zeitvertreib. Doch dass er offenbar ernste Absichten hat, obwohl er wenig begütert ist, empfindet sie als Beleidigung. Obwohl sie weiß, dass ihre Mutter sie mit dem reichen Lord Ashby verheiraten will, nimmt Rosalie jede Gelegenheit zum Kokettieren mit dem Rektor wahr. Mrs Murray trägt Agnes nun auf, Rosalie ständig zu begleiten. Unter einem Vorwand schickt Rosalie ihre Gouvernante weg, um sich erneut mit Hatfield zu treffen. Agnes ahnt dies, lässt ihren Schützling aber dennoch gewähren und trifft Mr Weston, der durch seine freundliche, verbindliche Art einmal mehr Agnes’ Zuneigung gewinnt.

„Allein, sie kannten keine Scham; sie verachteten Autorität, die keinen Schrecken im Gefolge hatte, und was Güte und Liebe betraf, so besaßen sie entweder kein Herz, oder es war so streng bewacht, daß ich trotz aller Anstren­gun­gen noch nicht her­aus­ge­fun­den hatte, wie es zu erreichen sei.“ (über die Bloom­field-Kinder, S. 92)

Rosalie erzählt Agnes anschließend, dass Hatfield ihr einen forschen Heirat­santrag gemacht hat. Ausführlich schildert sie die Ehrerbi­etun­gen des Rektors und ihren eigenen kühlen Stolz, mit dem sie ihn hat abblitzen lassen. Hatfield, enttäuscht von der Abfuhr, habe ihr das Versprechen abgenommen, niemandem von seinem Antrag und seinen Gefühlen zu erzählen. Agnes ist entsetzt über Rosalies Spielchen und ihren Wortbruch. Der gekränkte Hatfield zieht sich jetzt vollständig von Rosalie zurück. Beleidigt und gelangweilt richtet sich ihr Spieltrieb auf Mr Weston. Agnes muss sich eingestehen, dass sie eifersüchtig auf ihre Schülerin ist.

Verzwei­flung und Vergebung, Hoffnung und Trauer

Auf einem Ball macht Lord Ashby Rosalie den erwarteten Heirat­santrag. Schon sechs Wochen später soll die Vermählung stattfinden. Die Zeit bis dahin will sich die angehende Braut mit Mr Westons Gesellschaft vertreiben. Für Agnes beginnen sechs Wochen voller Selb­stzweifel und banger Hoffnung. Während die intriganten Mur­ray-Schwest­ern aus lauter Eigennutz und Spielerei versuchen, Agnes von Mr Weston fernzuhal­ten, wird der Gouvernante auch noch der einzige Gefährte, ein kleiner Hund, weggenommen. Als Rosalies Hochzeit­stag kommt, erlebt Agnes das Mädchen zum ersten Mal sehr emotional und voller Angst vor dem mondänen, endgültig fest­gelegten Leben, das ihr nun mit dem reichen, aber wenig attraktiven Lord Ashby bevorsteht. In einer zärtlichen Umarmung vergibt Agnes ihrer ehemaligen Schülerin.

„Unglück hatte mich abgehärtet und Erfahrung geschult, und mich verlangte danach, meine verlorene Ehre in den Augen derjenigen wiederzugewin­nen, deren Meinung mir mehr galt als die der ganzen Welt.“ (über Agnes’ Familie, S. 95)

Nun kümmert sich Agnes um ihren verbliebe­nen Zögling: Matilda. Als die Mutter Druck auf Matilda ausübt, hat Agnes erstmals den Eindruck, dass die Umstände tatsächlich eine ernsthafte Erziehung ermöglichen. Auf einem Gang ins Dorf begegnen Agnes und Matilda Mr Weston. Agnes nutzt die Gelegenheit, mit ihm ein paar Worte zu wechseln, und freut sich darüber, dass Weston sich an ihr tatsächlich in­ter­essiert zeigt. Auf einen hoff­nungs­fro­hen Abend folgt ein trauriger Morgen: Agnes erfährt von ihrer Mutter, dass ihr Vater todkrank ist. Die Gouvernante erbittet sich vorgezogene Ferien und reist in die Heimat ab. Am späten Abend trifft sie dort ein – zu spät. Ihr Vater ist bereits gestorben.

Abschied und neue Pläne

Nach der Bestattung des Vaters beschließt Agnes’ Mutter, in einem belebten Ort eine Schule zu eröffnen. Agnes verspricht, mit ihr zu kommen und Horton Lodge endgültig zu verlassen. Da trifft ein Brief von Mrs Greys Vater, Agnes’ wohlhaben­dem Großvater, ein: Er bietet seiner Tochter die Wiedere­in­set­zung in alte Rechte an. Die Bedingung, die er daran knüpft: Sie soll eingestehen, dass ihre Ehe mit dem mittellosen Pfarrer ein Irrtum war. Agnes’ Mutter weist das Gesuch empört zurück und verzichtet. Noch einmal kehrt Agnes zu den Murrays zurück. Es folgen sechs Wochen in der ständigen Hoffnung, Mr Weston zu begegnen. Es kommt zu einem einzigen Gespräch, das ihn ihr aber nicht entschei­dend näherbringt. Weder hat sie den Mut, sich ihm zu offenbaren, noch gesteht er ihr seine Liebe. Schließlich ve­r­ab­schieden sie sich voneinander.

„Nie versetzten sie sich in Gedanken an deren Stelle und hatten folglich keine Achtung vor ihren Gefühlen: sie be­tra­chteten sie als eine Kategorie von Wesen, die sich völlig von ihnen selbst un­ter­schieden.“ (über Rosalie, Matilda und die Häusler, S. 160)

Gemeinsam mit ihrer Mutter geht Agnes die neue Her­aus­forderung in der Schule an. Dies lenkt sie zunächst davon ab, dass sie Mr Weston verloren hat. Bald aber vermisst sie ihn stark und hadert mit ihrem Schicksal. In den Som­mer­fe­rien erreicht Agnes ein Brief von Rosalie – jetzt Lady Ashby –, in dem diese sie auf ihren Herrensitz einlädt und sich ihre Gesellschaft als Freundin wünscht. Agnes reist tatsächlich zu Rosalie und findet sie gealtert und unglücklich vor. Rosalie leidet unter ihrem Mann, einem übellaunigen Säufer und Schwätzer, und unter ihrer tyran­nis­chen Schwiegermut­ter. Rosalie hat inzwischen eine Tochter und fühlt sich, nach anfänglichen Vergnügungen, in Ashby Park wie eine Gefangene. Mehr als ein paar Ratschläge hat Agnes ihrer ehemaligen Schülerin nicht zu bieten. Den Wunsch, bei ihr zu bleiben und irgendwann Gouvernante ihrer Tochter zu werden, lehnt Agnes ab. Traurig, aber entschlossen verlässt sie Ashby Park und reist zurück zu ihrer Mutter.

Mit Agnes’ Hund kommt das Glück

Nach ihrer Rückkehr macht Agnes am frühen Morgen einen Spaziergang am Strand. Wie ein Wunder erscheint es ihr, als plötzlich der verloren geglaubte Hund auftaucht, den sie in Horton Lodge hat weggeben müssen. Noch größer ist ihr Erstaunen, als sie den neuen Herrn des Hundes erkennt: Es ist Mr Weston. Er hat eine Pfarrei unweit des Ortes erhalten und seitdem versucht, Erkundi­gun­gen über Agnes einzuholen. Agnes kann ihr Glück kaum fassen. In den folgenden Wochen wird Mr Weston ein häufiger und willkommener Gast im Schulhaus der Greys. Der immer ver­traulichere Umgang von Mutter, Tochter und Gast führt schließlich dazu, dass Weston an einem schönen Sommerabend bei Son­nenun­ter­gang Agnes einen Heirat­santrag macht. Wenig später heiraten die beiden und ziehen gemeinsam ins Pfarrhaus. Agnes’ Mutter betreibt die Schule weiter und verbringt ihre Ferien abwechselnd bei ihren Töchtern. Mit den besten Aussichten für Gemeinde, Ehe und die drei gemeinsamen Kinder Edward, Agnes und Mary schließt Agnes ihren Lebens­bericht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Agnes Grey ist ein Roman des vik­to­ri­an­is­chen Realismus, der Zeit nach der Thronbestei­gung von Königin Viktoria 1837. Er umfasst 25 Kapitel und wird aus der Perspektive der Titelfigur erzählt. Der Text kündigt sich selbst als Lehrstück für Gou­ver­nan­ten und deren mögliche Arbeitgeber an. Anne Brontë kommentiert und wertet die Ro­man­hand­lung streck­en­weise sehr deutlich. In vielen Fällen wird die Wertung aber auch dem Leser überlassen, etwa wenn sich die Figuren durch ihre Aussagen selbst entlarven. Soziale Klassen werden durch den un­ter­schiedlichen Gebrauch der Sprache charak­ter­isiert: Die Armen sprechen einfach, aber ger­ade­heraus und verbindlich. Die Reichen dagegen reden auss­chweifend und blumig, wenn es um die Darstellung eigener Belange und Vorzüge geht, aber kurz und unpersönlich im Umgang mit Un­tergebe­nen. Durch kursive Her­vorhe­bun­gen werden die sprach­lichen Betonungen der exzen­trischen jungen Damen schriftlich verdeut­licht und der Lächer­lichkeit preis­gegeben – ein formales Mittel, das für die damalige Zeit noch ungewöhnlich war. Charak­ter­is­tisch ist auch der Umgang mit den häufigen Zitaten aus dem Neuen Testament: Die im Roman als positiv geltenden Figuren geben sie korrekt wieder, die mit negativen Zügen versehenen zitieren oft falsch.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der ursprünglich vorgesehene Titel „Passages in the Life of an Individual“ betont den emanzi­pa­torischen Ansatz des Romans: Er zieht die Vor­ma­cht­stel­lung der Männer in Zweifel, die Frauen im vik­to­ri­an­is­chen Zeitalter noch nicht als Individuen wahrnahmen.
  • Der Roman vermittelt eine revolutionäre Haltung. Die Reformen des vik­to­ri­an­is­chen England, die das wohlhabende Bürgertum politisch so ein­flussre­ich machten wie den alten Landadel, waren nicht genug: Die Vertreter der armen Bevölkerung, die die Mehrheit im Land ausmachten, waren weiterhin Sklaven der besitzenden Klassen und immer der Willkür ihrer Arbeitgeber aus­geliefert. Marx­is­tis­che In­ter­pre­ta­tio­nen verkannten jedoch Anne Brontës zutiefst christliche Begründung der Kritik an den Herrschen­den.
  • Die Charak­ter­isierung der Figuren findet zu einem großen Teil über ihr Verhalten gegenüber Tieren statt. Wer sich ihnen gegenüber als gütig erweist, der ist in den Augen der Erzählerin ein guter, gottesfürchtiger Mensch. Umgekehrt zeigt sich das Böse durchweg im brutalen Verhalten gegenüber Tieren. Tiere kündigen zudem Umbrüche in der Handlung an. Der Aufbruch aus dem Elternhaus wird von Agnes’ Katze begleitet, die De­sil­lu­sion­ierung in Bezug auf Kinder von der Szene mit den Vögeln, das Happy End schließlich wird durch den Hund eingeleitet.
  • Der Vergleich von Anne Brontës Werken mit jenen ihrer Schwestern brachte ihr den Ruf einer nüchternen, naiven und lang­weili­gen Autorin ein. Man kann den Unterschied aber auch anders formulieren: Im Gegensatz zu ihren ro­man­tisieren­den Schwestern ging es Anne viel stärker um das Verständnis der gesellschaftlichen Un­gerechtigkeit.
  • Mit der de­tail­lierten Darstellung ver­w­er­flichen Verhaltens in den höhergestell­ten, sogenannten Up­per-Class-Fam­i­lien des vik­to­ri­an­is­chen England setzte Agnes Grey neue Maßstäbe. Die drastischen Rück­sicht­slosigkeiten gegenüber den unteren Ständen und die Vernachlässigung der reichen Kinder wurden selten zuvor so ungeschönt erzählt.

His­torischer Hintergrund

Der Methodismus in England und seine Folgen

Auf Anne Brontë hatte das Elternhaus ihrer Mutter, die streng methodis­tis­che Familie Branwell, großen Einfluss. Der englische Methodismus geht auf drei an­glikanis­che Pfarrer zurück, die Anfang und Mitte des 18. Jahrhun­derts ursprünglich die an­glikanis­che Kirche reformieren wollten, schließlich aber eine Ablösung von ihr bewirkten. Die Brüder John und Charles Wesley sowie George Whitefield hatten bereits als junge The­olo­gi­es­tu­den­ten in Oxford einen Zirkel gegründet, der sich der gemeinsamen Lektüre der Evangelien widmete. Die außergewöhnlich frommen Studenten erhielten von ihren Kom­mili­to­nen den Spottnamen „Methodisten“, weil sie ihr Leben strengen Regeln unterwarfen: Bibellektüre, Tage­buch­schreiben, Gebet, Fasten und vor allem tätige Hilfe für Bedürftige waren feste Be­standteile ihres Alltags. Inhaltlich standen die Mitglieder des Zirkels in Opposition zur englischen Staatskirche. Wahrhaftige Verkündung der Evangelien, tätige Vernunft und offene Augen für die Bedürfnisse der Mitmenschen standen gegen rit­u­al­isierte Glauben­sz­er­e­monien und die Tatsache, dass Kirchen­posten oft nach politischen Erwägungen besetzt wurden.

1787 spalteten sich die Methodisten von den Anglikanern ab, nachdem es ihnen verboten worden war, in deren Kirchen zu predigen. Speziell die arme Bevölkerung, die im 18. Jahrhundert ex­plo­sion­sar­tig zunahm, fand Gefallen an dem klaren, frommen Zuspruch, der sozialen Un­ter­schieden wenig Beachtung schenkte. In der Folge verbreitete sich der Methodismus in immer mehr Bevölkerungss­chichten.

Entstehung

Agnes Grey ist über weite Strecken die Nieder­schrift tatsächlicher Erlebnisse von Anne Brontë. 1839 arbeitete sie für einige Monate als Gouvernante in Blake Hall, Mirfield, und von 1840 bis 1845 in Thorp Green bei York. Vermutlich nahm sie bereits 1840, nach Abschluss ihrer ersten Stelle, die Arbeit am Roman auf. Sie schloss das Buch wahrschein­lich im Frühling 1846 ab. Auf Betreiben ihrer älteren Schwester Charlotte Brontë wurde das Manuskript als Teil eines Romanbündels ver­schiede­nen Verlagen angeboten. Die beiden anderen Teile des Bündels waren Charlottes Roman Der Professor und Emiliy Brontës später berühmt gewordenes Werk Die Sturmhöhe.

Die drei Romane wurden unter den männlichen Pseudonymen Currer, Ellis und Acton Bell angeboten, unter denen die drei Schwestern bereits kurz zuvor eine Gedicht­samm­lung veröffentlicht hatten. Die Sturmhöhe und Agnes Grey wurden vom Verleger Thomas Newby in London angenommen, jedoch sträflich vernachlässigt. Schlechtes Lektorat, Ver­schiebun­gen der Veröffentlichung sowie eine ver­schwindend kleine Auflage vereitelten einen un­mit­tel­baren Erfolg von Agnes Grey.

Wirkungs­geschichte

Die wenigen Rezensionen, die Annes Romandebut besprachen, waren verhalten positiv, aber nicht begeistert. Zudem hatten die Rezensenten gerade erst Charlottes Roman Jane Eyre gefeiert, der nur zwei Monate vor Agnes Grey erschienen war und ebenfalls das Schicksal einer Gouvernante the­ma­tisierte. Da erschien der nüchternere und pädagogisch korrekte Gou­ver­nan­ten­ro­man von Anne wie eine schmucklose Variante der zwar zuerst veröffentlichten, aber später ent­stande­nen Jane Eyre. Die beschriebe­nen Grausamkeiten der Kinder wurden als Übertreibung gerügt; dabei waren es gemäß Anne Brontë genau diese Szenen, die sie am wenigsten fiktional verfremdet hatte.

Erst nach Annes Tod erschien eine zweite Auflage – her­aus­gegeben von Charlotte –, die sich als eigenständiges und günstigeres Format deutlich besser verkaufte. 1858 erschien eine Neuauflage mit 15 000 Exemplaren. Erst jetzt, im zeitlichen Abstand zu den Büchern ihrer Schwestern und nach dem Erfolg von Annes zweitem Roman Die Herrin von Wildfell Hall, erfuhr Agnes Grey die Aufmerk­samkeit, die dem Werk zu Annes Lebzeiten versagt geblieben war.

Der englische Romancier George Moore bescheinigte Anne Brontë im 20. Jahrhundert den Status einer „Art lit­er­arischen As­chen­put­tels“. In der Tat steht Anne bis heute im Schatten ihrer weitaus er­fol­gre­icheren Schwestern Emily und Charlotte. George Moore sagte über Agnes Grey, das Werk sei „schlicht und schön wie ein Mus­selin­kleid“, und zählte es zu den sprachlich vol­lkom­men­sten Romanen der englischen Literatur. Die drastische Darstellung der Missachtung Un­tergebener hatte zudem Wirkung auf Teile der Oberschicht Englands. Lady Amberly, Mutter des britischen Philosophen Bertrand Russel, bemerkte 1868, sie wolle Anne Brontës Buch erneut lesen, wenn sie eine Gouvernante verpflichte, „damit es mich daran erinnert, mich menschlich zu verhalten“.

Über den Autor

Anne Brontë wird am 17. Januar 1820 in Thornton, Yorkshire, als Tochter eines protes­tantis­chen Pfarrers und seiner methodis­tis­chen Frau geboren. Sie ist das jüngste von vier Kindern, zwei weitere Schwestern sterben im Kindesalter. Die Mutter stirbt, als Anne kaum zwei Jahre alt ist. Fortan führt die Schwester der Mutter, Elizabeth Branwell, den Haushalt. Ihr Umgang mit den Kindern hinterlässt deutliche Spuren in Annes Denken: Strenge Frömmigkeit und ein übersteigertes Sünden­be­wusst­sein werden ihr Leben begleiten. Der Vater un­ter­richtet seine Kinder zunächst selbst, später übernimmt die älteste Schwester Charlotte diese Aufgabe. Alle drei Mädchen und der einzige Junge, Branwell Brontë, zeichnen und schreiben Gedichte, worin sie großes Talent zeigen. Mit 18 entschließt sich Anne, eine Stelle als Gouvernante anzunehmen. Ihre Tage­buchaufze­ich­nun­gen markieren den Beginn der Arbeit am Roman Agnes Grey. Nach einigen Monaten kehrt sie zurück nach Thornton, wo sie sich in den Vikar ihres Vaters, William Weightman, verliebt; sie verlässt aber schon bald ihre Heimat für die nächste Gou­ver­nan­ten­stelle in der Nähe von York. Vier prägende Jahre versorgen sie mit viel Material für Agnes Grey. Anne holt ihren Bruder Branwell als Lehrer ins Haus ihrer Arbeitgeber. Der labile Branwell verliebt sich in die Hausherrin Mrs Robinson. Als die Affäre aufzu­fliegen droht, lässt Mrs Robinson den jungen Geliebten fallen. Anne kündigt 1845 ihre Stelle, Branwell zerbricht an seiner unerfüllten Liebe und wird opiumsüchtig. Zudem muss Anne den Verlust von William Weightman ver­schmerzen, der an Cholera gestorben ist. In dieser aufwühlenden Zeit kom­plet­tiert Anne die Nieder­schrift von Agnes Grey und arbeitet an ihrem zweiten Roman The Tenant of Wildfell Hall (Die Herrin von Wildfell Hall, 1848). Während Charlotte, Emily und Anne nun Verkauf­ser­folge verbuchen und der Familie ein Auskommen sichern können, ist Branwell psychisch und körperlich am Ende. Er stirbt 1848. Emily folgt ihm wenige Monate später. Anne ist mit Tuberkulose infiziert und wünscht sich eine letzte Reise nach Scarborough, wo sie mehrfach als Gouvernante tätig war. Dort stirbt sie am 28. Mai 1849.