Der Liebe als höchstem Gebot verpflichtet
Das Leben ist heute komplex und die Zeiten sind schnelllebig. Und nicht immer ist Ihnen vielleicht klar, wie Sie als Führungskraft oder Unternehmer christlich oder allgemein ethisch fundierte Entscheidungen treffen können. Um diese wichtige Aufgabe zu bewältigen, müssen Sie sich Ihre verschiedenen Rollen vor Augen führen und die Werte kennen, auf deren Basis die christliche oder philosophische Ethik Handlungen für gut oder schlecht erklärt. Einen Handlungskatalog für die Praxis halten Sie damit nicht in der Hand, aber immerhin einen guten Rahmen, der Ihnen hilft, im Einzelfall Werte und Entscheidungen abzuwägen und somit ethisch zu führen. Christliche Führungskräfte fühlen sich in jedem Fall der Liebe als dem höchsten Gebot Gottes verpflichtet.
Normen und Werte geben den Rahmen
Sie spielen viele verschiedene Rollen: in Ehe und Familie, bei der Arbeit, in Staat und Gesellschaft sowie als Christ in der kirchlichen Gemeinde. Alle diese vier Lebensbereiche sind göttlich und damit gleichwertig. Die verschiedenen Rollen, die Sie darin einnehmen – als Vater, Mutter, Sohn oder Onkel, als Unternehmer oder Vorgesetzter, als Gemeindemitglied oder als Staatsbürger –, sind aber sehr unterschiedlich und stellen teils gegenläufige Anforderungen an Sie. Diese müssen Sie koordinieren und Ihre Entscheidungen je nach Situation mit Ihren Werten in Einklang bringen. Als Christ greifen Sie dabei neben den Geboten auf Traditionen zurück, außerdem auf persönliche Erfahrungen und nicht zuletzt auf die Vernunft und Ihr Gewissen.
„Wer keinen Wertekanon hat, hat auch nichts zum Abwägen.“
Die vier Lebensbereiche gehören zusammen. Sie dürfen sie aber nicht vermischen – Ihren Untergebenen müssen Sie anders behandeln als Ihr Kind. Die Bereiche sollen gleichwertig nebeneinander stehen, keiner darf den anderen dominieren. Welchen Anforderungen eine Entscheidung genügen muss, hängt auch von Ihrem Umfeld ab, also der konkreten Situation und den Menschen, die Ihre Entscheidung betrifft.
Ethisch entscheiden: lieben, denken, handeln
Das oberste Gebot der christlichen Ethik ist das Liebesgebot. Als Christ sollen Sie Gott, sich selbst und Ihre Mitmenschen lieben. Aus diesem obersten Gebot folgen konsequent die biblischen Zehn Gebote: Wer seine Mitmenschen liebt, der wird sie natürlich nicht bestehlen, belügen, töten oder sonst wie schädigen. Die Zehn Gebote stehen also nicht für sich, sondern zeigen, welche Handlungen auf der Grundlage des Liebesgebots gut oder schlecht sind. Dabei legen sie vor allem fest, was Sie als Christ nicht tun sollen – eben lügen, stehlen, ehebrechen usw.
„Die Zehn Gebote sind nur Ausführungsbestimmungen des Liebesgebotes, denn wer Gott liebt, wird nur ihn verehren, und wer den Nächsten liebt, wird ihn nicht töten, bestehlen oder belügen.“
Aufgrund der christlichen Grundwerte zu entscheiden, setzt neben der Liebe auch die Bereitschaft zum Nachdenken voraus. Es wird nicht reichen, wenn Sie sich einfach strikt an die christlichen Normen und Werte halten wollen. Allzu oft werden Sie sich in Situationen wiederfinden, die für eine mechanistische Entscheidung zu komplex sind. Das fängt bereits damit an, dass Sie sich im Alltag stets entscheiden müssen, welchem Ihrer Lebensbereiche oder welchen Bedürfnissen – eigenen wie denen Ihrer Mitmenschen – Sie wie viel Zeit widmen oder für was Sie wie viel Geld ausgeben wollen. Auch im Arbeitsalltag werden Sie stets Güter und Werte gegeneinander abwägen müssen. Mit Werten allein werden Sie komplexen Situationen nicht gerecht, sie reichen für eine ethische Entscheidung nicht aus.
Jede Entscheidung hat drei Seiten
Entscheidungen besitzen stets drei Seiten: die normative, die situative und die existenzielle Seite. Keine Seite steht für sich allein und keine kann strikt von den anderen abgegrenzt werden. Sich die drei verschiedenen Aspekte einer Entscheidung vor Augen zu führen, ist hilfreich, weil Ihre Entscheidung bei jeder der drei Seiten eine andere Grundlage besitzt. Bei der normativen Seite sind es die Gebote Gottes oder die ethischen Grundwerte. Bei der situativen Seite ist es Ihr Gegenüber bzw. sind es die von der Entscheidung Betroffenen und die Umstände, etwa die wirtschaftliche Lage Ihres Unternehmens oder Konflikte in Ihrer Abteilung. Der für die existenzielle Seite maßgebliche Faktor sind schließlich Sie selbst: Ihre Persönlichkeit und Ihr Gewissen. Alle drei Aspekte sind stets da, bei jeder Entscheidung. Sie als Entscheider sind es, der ihnen das jeweils angemessene Gewicht beimisst.
Normative Entscheidung: basierend auf Werten
Um zu wissen, wie er sich verhalten muss, braucht der Mensch Normen und Werte. Die verschiedenen Institutionen vermitteln ihm den nötigen Rahmen: Elternhaus, Kindergarten, Schule, Gemeinde sowie später das Unternehmen, der Arbeitsplatz. Die Werte und Normen einer Gesellschaft dienen nach christlichem Verständnis dazu, ein von Liebe bestimmtes Handeln zu erreichen. Oder anders ausgedrückt: dafür zu sorgen, dass das menschliche Zusammenleben möglichst ohne Hass und Zerstörung funktioniert. Im Zweifelsfall müssen die Menschen diese Werte und Normen gegen Verstöße verteidigen. Die Maßgabe jeder (christlich) ethischen Entscheidung: Sie soll aus Liebe geschehen.
Entscheiden Sie aus Liebe und fördern Sie die Einsicht
In Ihrer Firma werden Sie – letztlich aus Liebe zu den potenziellen Opfern – Ihren Mitarbeitern verbieten, Kollegen sexuell zu belästigen. Es reicht, wenn Sie potenzielle Täter durch das Verbot und die Angst vor möglichen Sanktionen wirkungsvoll dazu bringen, Belästigungen zu unterlassen. Besser ist es, wenn Ihre Mitarbeiter den von Ihnen hochgehaltenen Werten nicht aus Angst vor Sanktionen folgen, sondern aus eigener Einsicht. So werden sich Ihre Unternehmenswerte und die mit ihnen verbundenen Verhaltensweisen auch neuen Mitarbeitern leicht vermitteln lassen. Zu Einsicht verhelfen Sie Ihren Beschäftigten etwa durch Informationsmaterial, Seminare oder Beratung über Formen und Folgen sexueller Belästigung. Ihre Fürsorgepflicht kommt Ihnen als Verantwortlicher schon wegen des Urheberprinzips zu, das auch im Christentum gilt. Dieses sieht vor, dass Sie Schaden von einem Menschen abwenden müssen, wenn es in Ihrer Macht liegt.
„Das Gesetz ist wie ein Haus, das sehr sorgfältig gebaut werden muss, die Liebe hingegen entspricht den Bewohnern, die dem Haus erst seinen Sinn geben.“
Auch die Führungsentscheidung, einen Mitarbeiter zu entlassen, kann aus Liebe geschehen: wenn der Mitarbeiter mit seiner Arbeit trotz Hilfsangeboten überfordert ist oder wenn nur durch vereinzelte Kündigungen das Bestehen der Firma gesichert werden kann und damit die Arbeitsplätze einer größeren Zahl von Mitarbeitern gerettet werden. Um eine solche Entscheidung ethisch zu treffen, gehört neben dem verantwortungsvollen Abwägen auch, dem betroffenen Mitarbeiter die Gründe zu erklären. Dabei sollten Sie ggf. zu erkennen geben, dass Sie mögliche Gründe gegen die Entscheidung kennen und dass Sie das Für und Wider nach bestem Wissen und Gewissen gegeneinander abgewogen haben. Ihr Mitarbeiter wird Ihre Entscheidung so besser akzeptieren und sich mehr geachtet fühlen, als wenn Sie ihn womöglich schlicht per Brief abservieren und anschließend nicht mehr für ihn zu sprechen sind.
Situative Entscheidung: mit Blick auf Umstände und Beteiligte
Das Abwägen anhand der Umstände ist die situative Seite einer Entscheidung. Mit Werten allein kommen Sie in komplexen Situationen – und bei Beteiligten mit widerstreitenden Interessen – nicht weiter. Ein wichtiger Faktor jeder ethischen Entscheidung ist, dass sie dem Menschen und den Umständen gerecht wird. Um also ethisch zu entscheiden, werden Sie Güter gegeneinander abwägen müssen – auch wenn Ihnen beide Güter und die damit verbundenen Werte grundsätzlich gleichermaßen hoch stehend erscheinen: beispielsweise welchem Mitarbeiter Sie kündigen und wessen Arbeitsplatz Sie zu retten versuchen.
„Die letzte, innerste, vor unserem Gewissen gefällte Entscheidung macht sie erst eigentlich zu einer Entscheidung.“
Die Bibel nennt zahlreiche Beispiele, in denen Grundwerte miteinander kollidieren. Welchem Wert der Vorrang zukommt, ist am leichtesten zu erkennen an den Geboten, nicht zu töten und nicht zu lügen: Können Sie das Leben eines Menschen retten, so wird es ethisch immer vertretbar sein, zu lügen. Hierfür nennt die Bibel viele Beispiele. Auch Redewendungen wie „Not kennt kein Gebot“ oder „Not sucht Brot, wo sich’s finden lässt“ zeugen vom Widerstreit der Werte und Pflichten. Dass das Gebot, Leben zu schützen, höher steht, als das, die Wahrheit zu sagen oder nicht zu stehlen, leuchtet ein.
Werte sind entscheidend, nicht die Folgen
In der Regel liegt der Fall nicht so einfach und eindeutig wie bei den biblischen Fällen der Werte „Leben schützen“ versus „nicht lügen“. Wo Werte miteinander kollidieren, müssen Sie daher auch auf Erfahrungswissen zurückgreifen. Das sagt Ihnen beim Beispiel der Kündigung zum einen, welchen Mitarbeiter Sie womöglich dringender benötigen, zum anderen aber auch, welcher Mitarbeiter sich auf dem Arbeitsmarkt schwerer tun wird. Solange Sie sich grundsätzlich an Werten orientieren, ist es gut, auch mögliche Konsequenzen zu berücksichtigen. Sie dürfen aber nicht den Fehler machen, Ihre Entscheidung von den Folgen abhängig zu machen. Denn da Sie die tatsächlichen Auswirkungen nicht vorhersagen können, würde eine solche Entscheidung Sie überfordern. Die schlimmste mögliche Folge: Der erhoffte positive Effekt bleibt aus und Sie haben womöglich unethisch gehandelt.
„Wahrscheinlich ist die philosophische Vorgeschichte der Grund, warum viele Führungskräfte heute Ethik als etwas Hochtheoretisch-Trockenes mit ausgeprägter Insidersprache ansehen.“
Bleiben Sie also bei Ihren Werten und wägen Sie diese und die daraus erwachsenden Entscheidungsmöglichkeiten gegeneinander ab. Betrachten Sie die christlichen und philosophisch-ethischen Werte bewusst als Rahmen. Die Bibel macht keine engen und konkreten Vorgaben, sondern stellt Prinzipien auf und füllt diese in Fallbeispielen mit Leben. Diese gilt es nun – der jeweiligen Situation entsprechend – in die Realität zu übersetzen, also anzupassen und so mit neuem Leben zu füllen. Trösten Sie sich damit, dass Sie im Grunde nie schlecht handeln können, wenn Sie sich bei Ihren Entscheidungen stets an Werten orientieren.
Existenzielle Entscheidung: auf sich selbst zurückgeworfen
Sie selbst sind es, der einschätzen darf und muss, welcher Wert Ihnen im Zweifelsfall wichtiger erscheint und mit welcher Entscheidung Sie dem Gebot der Liebe zu sich und Ihren Mitmenschen mehr dienen. Um diesen Aspekt der Entscheidung verantwortungsvoll ausfüllen zu können, müssen Sie an Ihrer Persönlichkeit arbeiten. Sammeln Sie Ihre Erfahrungen möglichst bewusst. Lassen Sie sich beraten, um unterschiedliche Sichtweisen und Standpunkte kennen zu lernen. Pflegen Sie die Beziehungen zu Ihren Mitmenschen, in der Familie ebenso wie am Arbeitsplatz und in allen anderen Lebensbereichen. Eine gute Führungskraft braucht mit zunehmender Verantwortung vermehrt persönliche und charakterliche Reife.
„Biblische Wahrheit ist sehr praktisch, und jede theologische Forschung muss sich an der geistlichen Relevanz für die Praxis des gemeindlichen Lebens erweisen.“
Charakterstärke brauchen Sie im Übrigen nicht nur, um ethisch entscheiden zu können, sondern auch, um dies auszuhalten. Denn letztlich müssen Sie jede ethische Entscheidung, die über die Normen und Werte hinaus auch die Menschen einbezieht, zutiefst einsam treffen. Welche Entscheidung Sie in einer Situation aufgrund Ihrer Werte, Erfahrungen und Einschätzungen für richtig halten, liegt allein bei Ihnen – entsprechend Ihrer Persönlichkeit, Ihrer Erfahrung und Ihrem Wissen. Ein anderer Mensch würde vielleicht anders handeln. Da Sie die Zukunft nicht kennen, können Sie nie mit Sicherheit wissen, ob Ihre Entscheidung sich als richtig erweisen wird. Mit jeder Entscheidung machen Sie sich also angreifbar. Bei allen wirklich ethischen Entscheidungen sind Sie damit letztlich nur Ihrem eigenen Gewissen verpflichtet.
Prof. Dr. Thomas Schirrmacher übt als Theologe, Kulturanthropologe und vergleichender Religionswissenschaftler mehrere Ämter aus: Er ist Rektor des Martin-Bucer-Seminars, Professor für Religionssoziologie an einer rumänischen Universität sowie Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz und hält mehrere Doktortitel.