Erkenntnis und Interesse

Buch Erkenntnis und Interesse

Frankfurt am Main, 1968
Diese Ausgabe: Suhrkamp,


Worum es geht

Theoretisch auf dem Weg zur Praxis

Odo Marquard bezeichnete die Geschichte der Philosophie als Geschichte eines allmählichen Kom­pe­ten­zver­lusts: Zuletzt sei die Philosophie nur noch kompetent für das „Eingeständnis der eigenen Inkompetenz“. Wenn dem so ist, haben wir mit Erkenntnis und Interesse gleichsam die letzte Stellung der Philosophie in einem langen Rück­zugs­ge­fecht vor uns. Habermas geht dieses Rück­zugs­ge­fecht be­merkenswert offensiv an: Die Philosophie müsse eine Sonderrolle spielen, fordert er, nämlich quasi die eines Auf­sicht­srats des unaufhalt­sam ex­pandieren­den Un­ternehmens Wis­senschaft; leugnenden Stimmen zum Trotz besitze sie doch eine Spezialkom­pe­tenz: die Fähigkeit, das emanzi­pa­torische Interesse der Menschheit an Erkenntnis zu durch­schauen. Eine um diese Einsicht bereicherte kritische Philosophie gelte es zu erschaffen. Nur sie könne den Schleier herrschaft­sle­git­imieren­der Illusion zerreißen, die zweck­ra­tional­is­tis­che Verarmung des modernen Erken­nt­nis­be­griffs rückgängig machen und so der Gesellschaft wieder auf den Weg zum Erwach­sen­wer­den zurückhelfen. Ein ehrgeiziges Programm, das mit großem Ernst verfolgt wird. Wie dieses Programm umzusetzen ist, bleibt offen: Das Werk erschöpft sich in minutiösen philosophis­chen Analysen seiner Notwendigkeit.

Take-aways

  • Mit Erkenntnis und Interesse begann der Aufstieg von Jürgen Habermas zu einem der ein­flussre­ich­sten deutschen Philosophen der Nachkriegszeit.
  • Inhalt: Neben dem Interesse an technischer Naturbe­herrschung und dem Interesse an der Herstellung gesellschaftlicher Stabilität durch Kom­mu­nika­tion geht es bei der Suche nach Erkenntnis noch um etwas Drittes: nämlich um das Interesse an der Befreiung aus kollektiver Selbsttäuschung und damit an der Emanzi­pa­tion.
  • In Erkenntnis und Interesse vertritt Habermas im so genannten Pos­i­tivis­musstreit die an­tipos­i­tivis­tis­che Position der Frankfurter Schule.
  • In diesem Konflikt ging es den Frank­furtern grob gesagt darum, die pos­i­tivis­tis­che Gle­ich­set­zung natur­wis­senschaftlicher Erkenntnis mit Erkenntnis überhaupt aufzuheben.
  • Habermas referiert in Erkenntnis und Interesse ausgiebig Philoso­phiegeschichte von Kant über Hegel und Marx bis Peirce, Dilthey und Freud.
  • Er fordert die Vereinigung von Erkenntnis- und Gesellschaft­s­the­o­rie zu einer neuen sozialpoli­tisch wirksamen Wis­senschaft.
  • Das Buch verlangt dem Leser einiges an geis­teswis­senschaftlicher Vorbildung ab.
  • Trotz der sachlichen und präzisen Sprache ist Erkenntnis und Interesse eine aus­ge­sprochen schwierige Lektüre.
  • Das Buch gab der 68er-Stu­den­ten­be­we­gung wichtige the­o­retis­che Impulse.
  • Zitat: „Die Analyse des Zusam­men­hangs von Erkenntnis und Interesse soll die Behauptung stützen, dass radikale Erken­nt­niskri­tik nur als Gesellschaft­s­the­o­rie möglich ist.“
 

Zusammenfassung

Aufstieg und Fall der Erken­nt­nis­the­o­rie

Mit dem Siegeszug der Natur­wis­senschaften stellte sich für die neuzeitliche Philosophie zunehmend die Frage nach den grundle­gen­den Bedingungen men­schlicher Erkenntnis. Dabei blieb der Vorrang des erken­nt­niskri­tis­chen Denkens vor den eigentlichen Wis­senschaften zunächst gewahrt. Erst im Lauf des 19. Jahrhun­derts nahm die Erken­nt­nis­the­o­rie die un­ter­ge­ord­nete Rolle einer Method­olo­gie der Natur­wis­senschaften an, indem natur­wis­senschaftliche Erkenntnis mit Erkenntnis schlechthin gle­ichge­setzt wurde. Diese Entwicklung beginnt bereits mit Kant, der in seiner Ver­nun­ftkri­tik dem Vorbild der rationalen und effektiven Vorge­hensweise exakter Wis­senschaften folgt. Allerdings nimmt er Erkenntnis noch im vollen Umfang des Begriffs ernst. Anders als Hegel, in dessen sich zum absoluten Geist em­porschrauben­der Dialektik Erkenntnis nur noch ein Durch­gangsmo­ment darstellt.

„Ich unternehme den historisch gerichteten Versuch einer Rekon­struk­tion der Vorgeschichte des neueren Pos­i­tivis­mus in der sys­tem­a­tis­chen Absicht einer Analyse des Zusam­men­hangs von Erkenntnis und Interesse.“ (S. 9)

In Hegels Philosophie ist überhaupt alles nur ein Durch­gangsmo­ment der di­alek­tis­chen Aufwärtsbewegung, auch die ver­schiede­nen Wis­senschaften; schließlich tritt diese Philosophie selbst mit dem Anspruch auf, Wis­senschaft schlechthin zu sein. Die Frage nach dem Verhältnis von Wis­senschaft und Philosophie hat sich damit fürs Erste erledigt. Auch Marx, der sich an Hegel abarbeitet, hält sich mit ihr nicht weiter auf. In Umkehrung des Hegel’schen Idealismus ist bei Marx die Natur dem Geist vorgeordnet: Sie bringt ihn erst hervor – und zwar in Form eines „Bil­dung­sprozesses der Men­schen­gat­tung“, die ihre animalische Ver­gan­gen­heit dadurch überwindet, dass sie sich die Natur durch Werkzeugge­brauch unterwirft. Dieses tätige Verhältnis des Menschen zur Natur nennt Marx „gesellschaftliche Arbeit“. Durch sie erst wird der Mensch zum Menschen. Die Pointe: Marx begreift die Aneignung der Natur durch den arbeitenden Menschen unter Erken­nt­niskat­e­gorien, nämlich als Synthesis im Kant’schen Sinne.

„Die Analyse des Zusam­men­hangs von Erkenntnis und Interesse soll die Behauptung stützen, dass radikale Erken­nt­niskri­tik nur als Gesellschaft­s­the­o­rie möglich ist.“ (S. 9)

Während bei Kant ein Erken­nt­nis­sub­jekt seinen Gegenstand aus den Sinnesdaten mittels Ver­standeskat­e­gorien und apri­or­ischer An­schau­ungs­for­men erst kon­sti­tu­iert, ist bei Marx das Erken­nt­nis­sub­jekt die Men­schen­gat­tung als solche, deren „innere“, subjektive Natur mit der „äußeren“, objektiven Natur in einem Stof­fwech­selverhältnis steht. Der Mensch erforscht im Prozess gesellschaftlicher Arbeit die äußere Natur, um sie für seine Zwecke einzus­pan­nen. Unter Ausnutzung des er­ar­beit­eten Wissens produziert er seine Überlebens­mit­tel. Im Konsum der Produkte eignet er sich die äußere Natur schließlich an. Doch erst in dieser Aneignung ist die äußere Natur eigentlich ein Gegenstand seiner Erkenntnis. Hierin liegt die erken­nt­nis­the­o­retis­che Dimension der Synthesis von Mensch und Natur durch Arbeit. Allerdings hat Marx diese Dimension nur angedeutet und nicht ausführlicher dargestellt.

Der Marx’sche Geschichts­be­griff

Geschichte ist bei Marx ein Prozess der Vermehrung von Produktivkräften. In diesem Begriff ist das gesamte In­stru­men­tar­ium gebündelt, das der Gattung Mensch im Hinblick auf die Naturbe­herrschung zur Verfügung steht. Vom Stand der Produktivkräfte hängt nicht nur das reine Überleben ab, sondern auch das „Selbst-Be­wusst­sein“ der Gattung. Dieses spiegelt sich in der jeweiligen Gesellschafts­form, der Machtverteilung oder, wie Marx es nennt, den Pro­duk­tionsverhältnissen. Es gilt: Je höher der Stand der Produktivkräfte, desto geringer die Notwendigkeit gesellschaftlicher Repression. Am Ende dieser Entwicklung kann nach Marx eine Gesellschaft stehen, deren Wissen sich gänzlich in Maschinerie verwandelt hat; in dieser fernen Zukunft gäbe es keine Recht­fer­ti­gung mehr, die Freiheit des Einzelnen zu beschneiden, um ihn dem Pro­duk­tion­sprozess verfügbar zu machen. Der Weg in dieses herrschafts­freie Utopia ist allerdings durch die jeweils herrschende Klasse verstellt, die ein Interesse hat, an der Macht zu bleiben. Diesem Interesse dient der ide­ol­o­gis­che Überbau, der die jeweiligen Pro­duk­tionsverhältnisse recht­fer­tigt. Ihn zu kritisieren und letztlich aufzulösen, ist wiederum das Interesse der unterdrückten Klasse.

Wo Marx irrte

So weit sieht Marx den Zusam­men­hang zwischen Erkenntnis und Interesse (in Form von gesellschaftlichem Interesse an Emanzi­pa­tion) richtig. Sein Fehler ist es, alles restlos unter in­stru­men­tale Kategorien zu fassen, selbst das ide­olo­giekri­tis­che Moment jenes di­alek­tis­chen Auf­schaukelns von Pro­duk­tion­skräften und -verhältnissen. Kritisches Nachdenken über Gesellschaft ist bei ihm ein Instrument zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse, so wie die Natur­wis­senschaft ein Instrument zur Verfügbarmachung von Natur­prozessen ist. Genau genommen ist bei Marx alle Wis­senschaft des Menschen Natur­wis­senschaft; geschichtliche und ökonomische Gesetzmäßigkeiten sind natürliche Gesetzmäßigkeiten; die Absichten, Ansichten oder Handlungen konkreter Menschen sind nur Durch­gangsmo­mente eines größeren Waltens, das sich mit Notwendigkeit vollzieht. Dies ist aber ein reduziertes Weltbild, blind für die Eigenge­set­zlichkeit des Men­schlichen. Tatsächlich findet die Aufklärung des Menschen über sich selbst unter Kategorien der Kom­mu­nika­tion statt. Im Gang der Geschichte sind zwei Dimensionen verschränkt: Produktion und Reflexion. Die Selb­sterzeu­gung der Gattung durch Arbeit hat ihre Ergänzung in der Selb­sterzeu­gung durch Verständigung. Erst diese bringt emanzi­pa­torisches Wissen hervor. Diesem Wissen liegt aber ein ganz anderer Wahrheits­be­griff zugrunde als etwa der natur­wis­senschaftlichen Erkenntnis.

Die pos­i­tivis­tis­che Wende

Die Natur­wis­senschaften, so formuliert es der Pos­i­tivis­mus eines Comte oder Mach, sind schlechthin die einzigen richtigen Wis­senschaften, insofern sie ihren Gegenstand in der Welt der Tatsachen haben. Alles andere ist un­frucht­bare Metaphysik. Positives Wissen ruht auf sinnlicher und method­is­cher Gewissheit und ist durch den Dreischritt von Beobachtung, Hypothese und Experiment verbürgt. Wahrheit im Sinn des Pos­i­tivis­mus ist die Abbildung einer objektiven Wirk­lichkeit im subjektiven Bewusstsein. Der Frage, unter welchen Bedingungen diese Wahrheit zustande kommt, weicht der Pos­i­tivis­mus aus. Seine Mission ist der tech­nol­o­gisch-wis­senschaftliche Fortschritt der Menschheit. An diesen Fortschritt gekoppelt beginnt er seinen Siegeszug. Doch es gibt auch Gegen­be­we­gun­gen: Peirce und Dilthey beispiel­sweise suchen weiter nach den Grundlagen des Erkennens, Peirce auf dem Gebiet der Natur­wis­senschaften, Dilthey im Hinblick auf die Geis­teswis­senschaften.

Der prag­ma­tis­tis­che Ansatz

Peirce geht zwar davon aus, dass sich natur­wis­senschaftliche Forschung bewährt hat, ist aber nicht blind für deren erken­nt­nis­the­o­retis­che Dimension. Er fragt: Warum ist Forschung so effizient? Welches eigentümliche Verhältnis zwischen Wirk­lichkeit und Wahrheit macht sie sich zunutze? Einen ab­bild­haften Wahrheits- bzw. Wirk­lichkeits­be­griff lehnt Peirce ab; für ihn ist allein das wirklich, worüber sich eine wahre Aussage treffen lässt, und eine Aussage ist dann wahr, wenn die Beteiligten des Forschung­sprozesses die Aussage übere­in­stim­mend und langfristig als wahr anerkennen. Da sich die wis­senschaftliche Methode bewährt hat, können wir davon ausgehen, dass irgendwann über alle erkennbaren Sachver­halte Einigkeit hergestellt ist. Erst diese finale Einigkeit ist dann die ganze Wahrheit. Wirk­lichkeit nennt Peirce die Summe der Sachver­halte, auf die sich die Summe aller wahren Aussagen bezieht.

„Marx begreift Reflexion nach dem Muster der Produktion. Weil er von dieser Prämisse stillschweigend ausgeht, entbehrt es nicht der Konsequenz, dass er zwischen dem logischen Status der Natur­wis­senschaften und dem der Kritik nicht un­ter­schei­det.“ (S. 61)

Wahrheit und Wirk­lichkeit sind durch Strukturähnlichkeit verknüpft: Die gram­ma­tis­che Form des Wenn-dann-Satzes entspricht der grundle­gen­den Beziehungsweise wirklicher Sachver­halte. Diese Beziehungsweise des Wenn-dann kann durch sys­tem­a­tis­che Anwendung von Beobachtung, Hypothese, Prognose und Experiment erschlossen werden. Doch nicht nur das Forscherkollek­tiv bedient sich dieser Methode. Sie liegt dem men­schlichen Erkennen überhaupt zugrunde. Der Mensch strebt nach Kontrolle über die Wirk­lichkeit: Um er­fol­gre­iches Handeln zu gewährleisten, bedarf es bewährten Wissens; dessen Bewährung wiederum erfordert in­stru­men­tales Handeln.

Der hermeneutis­che Ansatz

Peirce übersieht allerdings, dass sein Ansatz der Eigenge­set­zlichkeit des kom­mu­nika­tiven Handelns nicht gerecht wird. Besonders die In­di­vid­u­alität der Kom­mu­nika­tion­steil­nehmer hat in seinem Gedankengebäude keinen Platz. Hier kommt Dilthey ins Spiel. Er fragt: Was befähigt uns, subjektive Inhalte in allgemeine sprachliche oder nicht­sprach­liche Aus­drucks­for­men zu fassen, dergestalt, dass dabei das jeweils Einzi­gar­tige jener Inhalte nicht verloren geht und sogar von anderen verstanden werden kann? Dilthey sieht den Menschen eingewoben in eine von ihm selbst geschaffene, geschichtliche Welt vergegenständlichten Sinns (Sprache, Kultur, Kunst), in der er sich notwendig in­ter­pretierend verhalten muss. Dabei geht es nicht um das Erklären von Zusammenhängen zwischen Tatsachen. Vielmehr öffnet sich die Dimension des Sinns nur durch Verstehen.

„Der Pos­i­tivis­mus will sinnlose weil un­entschei­d­bare Fragestel­lun­gen dadurch eliminieren, dass der Ob­jek­t­bere­ich möglicher wis­senschaftlicher Analysen auf ,Tatsachen‘ eingeschränkt wird.“ (S. 96)

Die Elemente zu diesem Verstehen findet der Einzelne in sich selbst; er kann den vergegenständlichten Sinn, der Ausdruck eines fremden Erlebens ist, subjektiv nacherleben. Hermeneutis­ches In­ter­pretieren heißt: re­flek­tierend das Eigene im Fremden suchen und das Fremde im Eigenen. So erschließen die Geis­teswis­senschaften ihren Gegenstand, der immer zugleich all­ge­mein-geschichtlich und konkret-in­di­vidu­ell ist. Doch nutzen sie damit nur, methodisch zugespitzt, eine Erken­nt­nis­art, die aller Kom­mu­nika­tion, auch der um­gangssprach­lichen, zugrunde liegt. Deren Aus­druck­sebe­nen – Sprache, Handlung, Mimik, Gestik – in­ter­pretieren sich quasi gegenseitig. Hermeneutis­ches Verstehen berücksichtigt diese Verknüpfung und erschließt, in ständiger Reflexion des eigenen Erlebens, den Sinn hinter dem um­gangssprach­lich vergegenständlichten Erleben eines Gegenübers. Als soziales Wesen ist der Mensch auf gegen­seit­iges Verstehen ex­is­ten­ziell angewiesen. Die hermeneutis­che Erken­nt­nis­gewin­nung ist durch das Interesse am Zu­s­tandekom­men zwangloser Kom­mu­nika­tion geleitet. Es ist ein praktisches Interesse, da kom­mu­nika­tive Einigung allem er­fol­gre­ichen Handeln zugrunde liegt.

Der psy­cho­an­a­lytis­che Ansatz

Die Un­ter­suchun­gen von Peirce und Dilthey öffnen den Blick auf den Zusam­men­hang von Erkenntnis und Interesse, ohne ihm jedoch nachzugehen. Die von ihnen betriebene Selb­stre­flex­ion der Wis­senschaft bleibt auf halbem Weg stehen. Erst in der Psy­cho­analyse Freuds wird das selb­stre­flex­ive Moment methodisch ernst genommen. Der analytische Prozess beruht ja auf der vom Analytiker ver­mit­tel­ten Selb­stre­flex­ion des Patienten. Dabei ist hermeneutis­ches Verstehen im Spiel. Im Erinnern der eigenen Biografie stößt der Patient auf Zusammenhänge, die den Charakter des Unwahren tragen. Hier liegen Teile seiner Biografie verborgen, für die er nicht einsteht, da in ihnen Motive eine Rolle spielen, die ihn mit gesellschaftlichen Normen in Konflikt bringen. Diese unterdrückten Triebwünsche erscheinen in normkon­former In­ter­pre­ta­tion, um das Funk­tion­ieren der Person in der Gesellschaft zu gewährleisten, oft entfalten sie aber auch eine Störwirkung, etwa in Form von Neurosen. In jedem Fall setzen sie der Analyse Widerstand entgegen, der nur dadurch ausgehebelt werden kann, dass Analytiker und Patient gemeinsam untersuchen, warum ein bestimmter Inhalt ebendiese Gestalt angenommen hat. Erst in der Reflexion der Fehlerquellen seiner Erinnerung kann der Patient die Täuschung durch­schauen und so schließlich zur Annahme seines vollen Persönlichkeit­sum­fangs gebracht werden.

Erkenntnis und Interesse

Der psy­cho­an­a­lytis­che Ansatz ist auch für die Sozial­wis­senschaften fruchtbar, da er es erlaubt, den Bil­dung­sprozess einer Zivil­i­sa­tion analog zu dem eines Individuums zu deuten. Die Art und Weise, wie gesellschaftliche In­sti­tu­tio­nen von den Mitgliedern der Gesellschaft einen Trieb­verzicht erzwingen, ähnelt den Mechanismen, mit denen der Einzelne sich in Bezug auf sich selbst täuscht. Hinter den In­sti­tu­tio­nen stehen ja immer eine Ideologie – eine bestimmte weltan­schauliche Recht­fer­ti­gung der Repression – und Illusionen wie Religion, Riten und Kultur, die den Einzelnen für seinen Trieb­verzicht entschädigen. Wie Marx sieht auch Freud, dass der Grad der Repression historisch vom Stand des Fortschritts abhängt, dass er nämlich umso niedriger ist, je mehr sich der Mensch vom Realitätsdruck seiner natürlichen Umgebung emanzip­ieren kann.

„Peirce begreift Wis­senschaft aus dem Horizont method­is­cher Forschung, und Forschung versteht er als einen Leben­sprozess.“ (S. 120)

Parallel zur tech­nol­o­gis­chen Entwicklung muss die Gattung daher jene Illusionen selb­stre­flexiv hin­ter­fra­gen und ihr als kulturelle Überliefer­ung auftre­tendes „Unbewusstes“ durch­schauen. In dieser Be­wusst­machung werden die nun un­verklei­de­ten Triebwünsche dem „gesellschaftlichen Ich“ zur Kontrolle übe­rant­wortet. Insofern dies eine Bewegung in Richtung Freiheit darstellt, hat die Gattung, ergänzend zum praktischen Interesse an kom­mu­nika­tiver und zum technischen Interesse an natur­wis­senschaftlicher Erkenntnis, ein emanzi­pa­torisches Interesse an selb­stre­flex­iver Erkenntnis. Erkenntnis ist stets in Leben­szusam­menhänge eingebunden. Erken­nt­niskri­tik ist deshalb, insofern sie die mit der Erkenntnis verwobenen Interessen der Gattung durchschaut, nur als Gesellschaft­skri­tik denkbar.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Aufbau von Erkenntnis und Interesse folgt der geschichtlichen Entwicklung des neuzeitlichen Erken­nt­nis­be­griffs. Habermas bezieht sich nacheinan­der u. a. auf Immanuel Kant (tran­szen­den­tale Ver­nun­ftkri­tik), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (objektiver Idealismus), Karl Marx (his­torischer Ma­te­ri­al­is­mus), Charles Sanders Peirce (Prag­ma­tismus), Wilhelm Dilthey (Hermeneutik) und Sigmund Freud (Psy­cho­analyse), deren einschlägige Gedanken er in den einzelnen Kapiteln ausführlich darstellt und kritisiert. Dem solchermaßen vor­bere­it­eten Leser legt er dann den eigenen Standpunkt dar, indes weit weniger ausführlich. Wer sich in der Geis­tes­geschichte nicht gründlich auskennt, findet also erst auf den letzten Seiten heraus, welchem roten Faden er bis dahin hätte folgen sollen. Doch das Buch deshalb einfach noch mal von vorn zu lesen, ist wohl nur etwas für ganz furchtlose Freunde des Abstrakten. Nicht, dass man Habermas eine übermäßig schwierige Schreib­weise vorwerfen könnte – sein Stil ist durchaus präzise und schnörkellos, ja im Vergleich zu manchem der oben erwähnten Autoren (die er übrigens ausgiebig zitiert) geradezu geschmeidig; doch das Thema ist nun einmal aus­ge­sprochen trocken und zudem so unauflöslich mit einem spez­i­fis­chem Be­griff­ssys­tem verbunden, dass man bisweilen argwöhnt, es habe außerhalb dessen kaum eine Wirk­lichkeit. An­schauliche Beispiele sucht man in Erkenntnis und Interesse vergebens, ein Mangel an Fremdwörtern ist dagegen nicht zu beklagen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Gemäß Habermas gibt es keine Erkenntnis ohne Interesse und mithin keine objektive Erkenntnis: Jede Wis­senschaft ist von einem bestimmten Interesse geleitet und richtet ihren Forschungs­ge­gen­stand danach aus.
  • Erkenntnis und Interesse lässt sich als Versuch betrachten, Soziologie als eigenständige Wis­senschafts­form neben den Natur- und den Geis­teswis­senschaften zu etablieren. Ihre Methodik denkt sich Habermas analog zur Psy­cho­analyse; die Gesellschaft entspräche dabei dem Patienten, der Soziologe dem Psy­cho­an­a­lytiker.
  • Analog zur Psy­cho­analyse propagiert Habermas für die sozi­ol­o­gis­che Selb­stre­flex­ion der Gesellschaft eine nicht natur­wis­senschaftliche Form von Kausalität. Diese (in Anlehnung an Hegel) „Kausalität des Schicksals“ genannte Verur­sachungsweise gesellschaftlicher Vorgänge ist nach Habermas am Werk, wenn sich eine Gesellschaft durch kritische Selb­stre­flex­ion von rückständigen An­schau­un­gen befreit.
  • Habermas konstruiert in Erkenntnis und Interesse einen vollständig sprach­lich-kom­mu­nika­tiven Erken­nt­nis­be­griff. Er verwirft jeglichen Ob­jek­tivis­mus, d. h. Theorien, die Erkenntnis als Abbildung einer objektiven Realität im subjektiven Bewusstsein definieren. Selbst der Hermeneutik von Dilthey, der ebenfalls einen sprach­lich-kom­mu­nika­tiven Erken­nt­nis­be­griff vertritt, weist Habermas un­einge­s­tandene ob­jek­tivis­tis­che Vo­raus­set­zun­gen nach.
  • Erkenntnis und Interesse baut zum großen Teil auf marx­is­tis­chen Denkfiguren auf, die um psy­cho­an­a­lytis­che Ansätze bereichert sind. Damit knüpft Habermas an den so genannten Freudo­marx­is­mus an, der auf Wilhelm Reich zurückgeht und innerhalb der 68er-Gen­er­a­tion noch einmal zur be­herrschen­den Ideologie wurde.

His­torischer Hintergrund

Die Frankfurter Schule

Aus dem Frankfurter Institut für Sozial­forschung, 1923 gegründet, ab 1931 unter der Leitung von Max Horkheimer, ging eine der wohl ein­flussre­ich­sten Denk­tra­di­tio­nen des 20. Jahrhun­derts hervor: die so genannte Frankfurter Schule und ihre kritische Theorie. Das Selbstverständnis war von Beginn an ein aus­ge­sprochen politisches; es vermischte eine marx­is­tis­che Geschicht­sauf­fas­sung mit dem elitären Anspruch, letzter Bannerträger der abendländischen Philosophie inmitten eines wis­senschaftsgläubigen Zeitalters zu sein. Während der NS-Zeit verlegte man das Institut ins amerikanis­che Exil; erst 1950 kehrten Horkheimer und sein Kompagnon Theodor W. Adorno nach Frankfurt zurück.

Ihre Rolle sahen sie nun darin, an der Demokratisierung West­deutsch­lands sowie an der Au­far­beitung der Naz­i­herrschaft mitzuwirken. Schon 1947 hatten sie in Die Dialektik der Aufklärung die scheinbare Zwangsläufigkeit beklagt, mit der die westliche Gesellschaft in Richtung Mark­tlib­er­al­is­mus strebte. In ihm sahen sie einen Nährboden für to­tal­i­taris­tis­che Tendenzen. Dieses Feindbild fand in der BRD der Ade­nauerzeit reichlich Nahrung: Die Geister der Diktatur waren noch lange nicht gebannt, eine Au­far­beitung der NS-Zeit fand kaum statt, neben personellen Strukturen bestanden auch die alten Werte fort: Un­ter­ta­nengeist, Hi­er­ar­chiedenken, Leis­tungs­men­talität.

Als sich dann die 68er-Be­we­gung gegen den „Muff von tausend Jahren unter den Talaren“ erhob, wurde plötzlich überall in Mensen, Teestuben und WGs die kritische Theorie diskutiert, teils wegen ihres aufklärerischen Potenzials, teils, weil von ihrem kom­plizierten Jargon und den oft schwer fassbaren Gedanken die Faszination einer Geheimwis­senschaft ausging.

Entstehung

In Erkenntnis und Interesse vertritt Habermas die Partei der kritischen Theorie im so genannten Pos­i­tivis­musstreit. Dieser begann als Au­seinan­der­set­zung zwischen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno auf der einen sowie den Vertretern des logischen Pos­i­tivis­mus auf der anderen Seite. Den Anlass bot ein Horkheimer-Auf­satz von 1937, in dem der Autor gegen einen pos­i­tivis­tis­chen und moralisch blinden Erken­nt­nis­be­griff polemisierte. Die Vorwürfe liefen in etwa darauf hinaus, der Pos­i­tivis­mus sei einem seelenlosen Fortschritts­glauben verfallen und öffne durch seine Enthaltung in moralischen Fragen dem Lib­er­al­is­mus und damit dem Faschismus Tür und Tor. Dem Pos­i­tivis­mus stellten die Frankfurter mit der kritischen Theorie einen stark vom Marxismus bee­in­flussten, vorgeblich moralisch überlegenen Standpunkt entgegen.

In den 1960er Jahren wurde der Streit wieder aufgenommen, die Kon­tra­hen­ten waren nun Adorno und Karl Popper, später Habermas und Hans Albert. Habermas sah die Chance, sich durch einen kon­struk­tiven Beitrag von der älteren Generation der Frankfurter Schule abzusetzen und eigene akademische Reputation zu gewinnen. In seiner Antrittsvor­lesung (ebenfalls unter dem Titel Erkenntnis und Interesse) in Frankfurt 1965 formulierte er die Idee einer auf dem gesellschaftlichen Interesse an Emanzi­pa­tion gegründeten, selb­stre­flex­iven und kritischen Soziologie. Das Buch Erkenntnis und Interesse war ursprünglich als einführender Teil eines dreibändigen Werkes geplant, die beiden Folgebände wurden jedoch nie geschrieben.

Wirkungs­geschichte

Erkenntnis und Interesse erschien 1968. Tatsächlich gelang es dem bis dahin nur in der Fachwelt bekannten Habermas, sich mit dem Werk über akademische Kreise hinaus einen Namen zu machen. Im Unterschied zur ersten Generation der Frankfurter Schule, in deren Schriften ein ausgeprägter Wille zur Polemik oft den eigentlichen Inhalt verdunkelte, schlug Habermas einen sachlichen und an­a­lytis­chen Ton an. Erkenntnis und Interesse fiel daher als ernst zu nehmender Beitrag zum Pos­i­tivis­musstreit positiv auf und rückte auch prompt in den Fokus der Kritik: Die Fülle akademis­cher Arbeiten, die sich kritisch mit Erkenntnis und Interesse au­seinan­der­set­zten, war – viel Feind, viel Ehr – ein wohl ebenso trefflicher Indikator für die Wirkmacht des Werks wie die Verbreitung, die es unter der re­voltieren­den Stu­den­ten­schaft der späten 60er und frühen 70er Jahre fand.

Die 68er-Be­we­gung erhielt durch Habermas’ These vom emanzi­pa­torischen Interesse an gesellschaftlicher Selb­sthin­ter­fra­gung einen entschei­den­den the­o­retis­chen Anstoß. Nicht zuletzt regte das Buch unzählige junge Menschen zur weiterführenden Beschäftigung mit den Schriften Hegels, Marx’ und Freuds an. Fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung verfasste Habermas ein um­fan­gre­iches Nachwort, in dem er sich mit den zahlreichen Einwänden seiner Kritiker au­seinan­der­set­zte.

Über den Autor

Jürgen Habermas wird am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren und wächst in Gummersbach in einem kon­ser­v­a­tiv-bürgerlichen Umfeld auf. Als Ju­gendlicher erlebt er den Zweiten Weltkrieg und das Ende des Na­tion­al­sozial­is­mus mit. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelt er früh ein Interesse am Marxismus, beschäftigt sich aber auch mit jüdischer und christlicher Mystik. Von 1949 bis 1954 studiert Habermas Philosophie, Geschichte, Psychologie, Literatur und Ökonomie in Göttingen, Zürich und Bonn. Nach der Promotion arbeitet er zunächst freiberu­flich als Journalist und schreibt u. a. für die FAZ, ehe er 1956 an der Universität Frankfurt Assistent von Theodor W. Adorno wird. Als es jedoch mit In­sti­tut­sleiter Max Horkheimer zu Differenzen kommt, habilitiert sich Habermas nicht in Frankfurt, sondern 1961 an der Universität Marburg mit der Schrift Struk­tur­wan­del der Öffentlichkeit. Zeitgleich tritt er eine Professur in Heidelberg an. Ab 1965 lehrt er in Frankfurt – als Nachfolger von Horkheimer. 1968 erscheint sein ein­flussre­iches Werk Erkenntnis und Interesse. Die Stu­den­ten­be­we­gung findet zunächst Habermas’ Unterstützung. Mit der Zeit jedoch wandelt sich seine Einstellung, er kritisiert die Studentenführer als zu dogmatisch und realitätsfern. 1971 verlässt Habermas Frankfurt und wird Direktor des Max-Planck-In­sti­tuts zur Erforschung der Lebens­be­din­gun­gen der wis­senschaftlich-tech­nis­chen Welt in Starnberg, zusammen mit Carl Friedrich von Weizsäcker. Immer wieder meldet sich Habermas öffentlich zu Wort. So auch 1977, als die RAF Ar­beit­ge­berpräsident Hanns Martin Schleyer tötet und die Philosophie der Frankfurter Schule als geistiger Wegbereiter des Terrorismus kritisiert wird. 1981 wird Habermas’ Hauptwerk Theorie des kom­mu­nika­tiven Handelns veröffentlicht. 1983 kehrt er an die Universität Frankfurt zurück und lehrt dort bis zu seiner Emer­i­tierung 1994.