Phaidon

Buch Phaidon

Athen, um 380 v. Chr.
Diese Ausgabe: Meiner,


Worum es geht

Die Un­sterblichkeit der Seele

Mit dem Dialog Phaidon hat Platon seinem Lehrer Sokrates ein beein­druck­endes Denkmal gesetzt. Er nimmt die Ab­schied­srede des zum Tod Verurteil­ten aber auch zum Anlass, seine eigene Sicht der Präexistenz, Unvergänglichkeit und Un­sterblichkeit der men­schlichen Seele darzulegen. Die größte Aufgabe der Seele ist laut Platon die Loslösung vom Diktat des Körperlichen und der Aufstieg zum höchstmöglichen Guten, dem Göttlichen. Wie es der Hauptfigur Sokrates gelingt, philosophis­che Überzeu­gun­gen mit praktischem Handeln zu vereinen, beeindruckt bis heute. Entsprechend starken Einfluss hatte der Phaidon auf die weitere Entwicklung der Philosophie. Das Werk diente sowohl im Hellenismus als auch im Christentum als wichtige Denkan­re­gung und wurde noch in der Neuzeit von Philosophen des Ra­tio­nal­is­mus und der Aufklärung herange­zo­gen. Die Frage, was uns als Menschen ausmacht und was das für unsere Lebensentschei­dun­gen bedeutet, ist und bleibt aktuell. Der Phaidon ist eines der ersten Werke der Geis­tes­geschichte, das diese Frage zu beantworten versuchte.

Take-aways

  • Platons Phaidon gilt als eines seiner wichtigsten Werke. Im Zentrum steht die Frage nach der Un­sterblichkeit der Seele.
  • Inhalt: Der zum Tod verurteilte Sokrates verteidigt seine Zuversicht angesichts des bevorste­hen­den Lebensendes: Wer sich durchs Philoso­phieren bereits zu Lebzeiten dem Einfluss der Sinnlichkeit entzogen hat, dessen un­sterbliche Seele geht nach dem Tod einer besseren Zukunft entgegen.
  • Sokrates war Platons Lehrer und Platon wiederum der Lehrer des Aristoteles. Gemeinsam bee­in­flussten sie wie keine anderen Philosophen die Geis­tes­geschichte.
  • Mit seinen Dialogen setzte Platon seinem Lehrer ein dauerhaftes Denkmal, denn Sokrates ist in ihnen der Hauptredner.
  • Sokrates selbst hat seine Philosophie nicht schriftlich niedergelegt.
  • Platon gibt Sokrates’ Lehre wieder, benutzt ihn aber auch als Sprachrohr für seine eigenen Ideen.
  • Die in Phaidon dargelegte Vorstellung von der Un­sterblichkeit der Seele prägte das Christentum.
  • Als al­ter­na­tiver Zugang zur Wahrheit wird im Text der Mythos gewürdigt: Die griechis­chen Göttersagen vermitteln demnach als Allegorien wichtige Einsichten.
  • Das Werk ist nach Phaidon benannt, einem Schüler des Sokrates, der im Text als Erzähler auftritt.
  • Zitat: „Es scheinen nämlich alle, die sich auf die rechte Weise mit der Philosophie befassen – verborgen vor den anderen –, nichts anderes zu betreiben als zu sterben und tot zu sein.“
 

Zusammenfassung

Keine Angst vor dem Tod

Im Gefängnis hat Sokrates den Giftbecher getrunken und damit die vom Athener Gericht verhängte Strafe auf sich genommen. Echekrates trifft auf Phaidon, der bei Sokrates im Gefängnis war, als dieser an dem Gift starb. Zuvor hatte der Philosoph längere Zeit dort verbracht und täglich Freunde zu Gesprächen empfangen, unter ihnen auch Phaidon. Echekrates will wissen, wie Sokrates seine letzten Stunden verbracht habe. Phaidon erzählt:

„Als uns Xanthippe sah, brach sie in laute Klagen aus und sagte manches in der Art, wie es die Frauen zu sagen pflegen: Sokrates, zum letzten Mal werden deine Freunde nun mit dir sprechen und du mit ihnen! Da schaute Sokrates zu Kriton hin und sagte: Kriton, jemand möge sie nach Hause führen.“ (Phaidon, S. 9)

Sokrates’ Prozess fand zufällig an dem Tag statt, an dem wie jedes Jahr ein Schiff nach Delos auslief, zu einem Dankesfestzug für Apollon. Bis zur Rückkehr des Schiffes, die sich je nach Wet­terbe­din­gun­gen verzögern kann, sind staatliche Hin­rich­tun­gen verboten. Als das Schiff eingetrof­fen ist, lassen die Vertreter der Gerichts­barkeit Sokrates mitteilen, dass der Zeitpunkt gekommen sei, den Giftbecher nehmen.

„Aber euch als meinen Richtern will ich nun Rechen­schaft darüber geben, dass ich mit Recht meine, ein Mensch, der sein Leben wahrhaft mit Philosophie zugebracht hat, müsse zu­ver­sichtlich sein, wenn er im Begriff ist zu sterben, und guter Hoffnung, dort die größten Güter zu erlangen, wenn er gestorben ist.“ (Sokrates, S. 19)

Sokrates nimmt sein Schicksal völlig gelassen hin und konzen­tri­ert sich vor allem darauf, seinen Freunden, Anhängern und fremden Besuchern noch einige letzte philosophis­che Einsichten zu vermitteln. Da kommt die Frage auf, wieso er seinem Tod mit solcher Ruhe und Gelassen­heit ent­ge­gensehe. Immerhin hätte er sich der Hinrichtung doch durch eine Flucht leicht entziehen können. Das komme für einen echten Philosophen nicht infrage, sagt Sokrates. Er wolle sich der Staats­ge­walt aus Prinzip stellen.

„Es scheinen nämlich alle, die sich auf die rechte Weise mit der Philosophie befassen – verborgen vor den anderen –, nichts anderes zu betreiben als zu sterben und tot zu sein.“ (Sokrates, S. 19)

Zwar ist es laut Sokrates nicht recht, Selbstmord zu begehen. Denn das Leben der Menschen ist den Göttern anvertraut, und der Mensch ist deren Besitz. Er hat also kein Recht, sich das Leben zu nehmen und so den Göttern vorzu­greifen. Gle­ichzeitig sollte ein Philosoph dem Tod aber auch nicht mit aller Macht ausweichen wollen. Der wahre Philosoph glaubt schließlich, nach dem Tod zu guten Göttern und ver­stor­be­nen, besseren Menschen zu gelangen – er hat also überhaupt nichts zu fürchten. Wer sein Leben wahrhaft der Philosophie gewidmet und nach deren Prinzipien gelebt hat, kann sich auf ein besseres Leben nach dem Tod freuen.

Die Trennung von Seele und Körper

Wie Sokrates weiter ausführt, ist der Tod die Trennung der Seele vom Körper. Der wahre Philosoph versucht schon zu Lebzeiten, mithilfe seiner Seele die Kontrolle über die ver­schiede­nen Gelüste des Körpers zu gewinnen, sich also nicht von ihnen beherrschen und treiben zu lassen. Vor allem aber bemüht er sich um Einsicht und Wahrheit. Diese Ziele können allerdings nicht allein über den Körper erreicht werden, denn dessen Wahrnehmungen – was wir hören, sehen, riechen usw. – können uns täuschen. Die großen Ideen wie das Gerechte, das Schöne oder das Gute können wir nicht mit dem Körper erkennen, auch wenn es die Sinne sind, die uns darauf hinweisen.

„Also vor allem in diesen Dingen zeigt sich der Philosoph als einer, der die Seele so weit er kann von der Gemein­schaft mit dem Körper loslöst, anders als die anderen Menschen.“ (Sokrates, S. 21)

Der Körper und seine Begierden führen praktisch immer zu Streit und Kriegen, bei denen es meistens darum geht, Güter zu erwerben. Wer dem Körper auf diese Weise zu Diensten ist, hat keine Zeit, seine Seele zu pflegen und wahre Philosophie zu betreiben. Die Wahrheit aber kann nur durch die Seele erkannt werden.

„Wir müssen demnach auch darin zustimmen, dass die Lebenden nicht weniger aus den Toten entstanden sind als die Toten aus den Lebenden. Wenn das aber so ist, schien es uns doch ein hin­re­ichen­des Zeugnis dafür zu sein, dass die Seelen der Toten notwendig irgendwo sein müssen, von woher sie von Neuem entstehen.“ (Sokrates, S. 43)

Weil wir zu Lebzeiten immer wieder vom Körper in die Irre geführt werden, können wir vor unserem Tod nur schwer zu wahrem, reinem Wissen gelangen. Wir können nur insoweit zur Wahrheit gelangen, als wir unsere Seele von den Einflüssen des Körpers lösen. Genau das wiederum ist das Bemühen der wahren Philosophen: Sie leben möglichst nahe am Tod. Wieso sollte der Philosoph den Tod also fürchten, der die völlige Trennung von Körper und Seele ist? Die wahren Philosophen üben sich täglich im Sterben, es macht ihnen nichts aus, wenn es dann wirklich passiert.

Philoso­phieren heißt sterben lernen

Worin aber besteht dieses „Ster­ben­ler­nen“, diese schon zu Lebzeiten angestrebte Loslösung der Seele vom Körper? Nicht darin, dass sich der Philosoph vor allem auf die Unterdrückung seiner Sinnlichkeit konzen­tri­ert. Sondern darin, dass er die Ver­wirk­lichung wichtiger Tugenden wie Beson­nen­heit, Gerechtigkeit und Vernunft anstrebt. Dadurch wird seine Seele gestärkt, nur so gewinnt sie die Herrschaft über den Körper. Sokrates glaubt, dies im eigenen Leben ausreichend getan zu haben, und ist zu­ver­sichtlich, dass er in Kürze, nämlich nach seinem Tod, dafür belohnt werden wird: indem er in der Unterwelt Freunde antreffen wird, die seinen dies­seit­i­gen Vertrauten in nichts nachstehen.

„In das Geschlecht der Götter aber zu gelangen, ist keinem, der nicht philoso­phiert hat und nicht vollkommen rein gegangen ist, vergönnt, sondern nur dem Liebhaber der Wis­senschaft.“ (Sokrates, S. 75)

Einer der Gesprächspartner, Kebes, wirft ein, es möge zwar zutreffen, dass der Tod die Trennung von Körper und Seele sei. Wir wüssten ja, dass der Körper sterbe. Es bleibe aber die Frage, ob die Seele diese Loslösung überstehe.

Alles entsteht aus seinem Gegenteil

Sokrates antwortet, dass grundsätzlich alles aus seinem Gegenteil entsteht: das Große aus dem Kleinen, das Starke aus dem Schwachen, das Erwachen aus dem Schlaf. Ebenso müssen die Lebenden aus den Toten entstehen. Das ist aber nur möglich, wenn die Seele beim Tod nicht zugrunde geht, sondern neues Leben her­vor­bringt. Zudem ist unsere Erkenntnis in diesem Leben klar auf eine Erinnerung an ein Sein zurückzuführen, das jenseits unserer sinnlichen Erfahrung liegt.

„Aber zunächst wollen wir uns davor in Acht nehmen, dass uns nicht ein gewisses Unglück widerfährt. (...) Dass wir nicht Redefeinde werden, wie manche Men­schen­feinde werden; weil es ja nicht möglich ist, (...) dass jemandem ein größeres Übel widerfährt, als wenn er Reden hasst.“ (Sokrates, S. 93)

Wenn wir aber Dinge wissen, die nicht allein aus der Wahrnehmung unserer Sinne stammen, dann muss dieses Wissen von einer Seele herrühren, die schon vor der Verbindung mit unserem jetzigen Körper diese Erkenntnis hatte. Ginge die Seele beim Tod zugrunde, dann könnte es natürlich keinen solchen Fortbestand eines über den jeweiligen Körper hin­aus­ge­hen­den Wissens geben.

Die Seele ist unsterblich

Nun könnte man ar­gu­men­tieren, dass die Existenz einer Seele vor unserer physischen Geburt noch nicht bedeuten muss, dass die Seele auch unseren Tod übersteht. Sokrates antwortet auf diesen Einwand, dass die Seele das Werden eines Menschen erst ermöglicht und damit Träger des Lebens ist. Sie ist von ihrem ganzen Wesen her nicht mit der Vorstellung des Todes vereinbar. Zudem ist die Seele einheitlich und unteilbar. Es wider­spricht ihrer Natur, auflösbar und damit vergänglich zu sein. Auch ist sie unsichtbar und bedient sich des sichtbaren Körpers nur als Instrument der Wahrnehmung. Sie ist die Trägerin der Vernunft, sie stößt in die Bereiche des Reinen, des ewig Seienden, des Un­sterblichen vor, wenn sie uns die Erkenntnis ewiger Wahrheiten erlaubt.

„Was also sagt ihr zu jener Rede, (...) in der wir sagten, dass das Lernen eine Erinnerung sei und dass es, wenn sich das so verhält, notwendig sei, dass unsere Seele vorher anderswo war, bevor sie in den Körper eingebunden wurde?“ (Sokrates, S. 99)

Die Seele ist daher dem Göttlichen, der Körper hingegen dem Sterblichen verwandt. Weil die Seele nach dem Tod des Menschen wieder in das Unsichtbare, Göttliche, Un­sterbliche und Vernünftige eingeht, wie es ihrer Wesensart entspricht, ist es von entschei­den­der Bedeutung, ihre Herrschaft über den Körper zu fördern: Die im Leben erlangte Reinheit der Seele wird auch deren Dasein nach dem Tod bestimmen. Nur aus einer reinen Seele wird bei der späteren Wiederverkörperung ein Mensch, weniger reine hingegen werden zu Tieren. Ein geglücktes Leben besteht daher in der Loslösung von der Sinnlichkeit des Körpers. Der Weg dazu ist die Tugend. Ein Mensch, der tugendhaft gelebt hat, braucht den Tod nicht zu fürchten.

Erkenntnis und Tugend als Sinn des Lebens

Nun wird Sokrates mit Einwänden hin­sichtlich der Natur der Seele kon­fron­tiert. Ist die Seele nicht lediglich eine Stimmung, eine Ges­timmtheit, mit der wir das Leben angehen, wie Simmias meint? Oder ist sie vielleicht mit einem Weber zu vergleichen, der, nachdem er viele Gewänder gewebt hat, am Ende entkräftet aufhört zu existieren? Ist es nicht denkbar, dass die Seele zwar in der Verbindung mit einer langen Reihe von Körpern leben kann, sich in diesen endlosen Anstren­gun­gen aber auch selbst aufzehrt und zum Schluss nicht mehr länger fortbesteht?

„Ich glaube nämlich, nichts zu gewinnen, wenn ich ein wenig später trinke, außer dass ich mir selbst lächerlich vorkommen werde, wenn ich an meinem Leben hänge und noch sparen will, wo nichts mehr ist.“ (Sokrates, S. 169)

Sokrates erkennt, dass seine Zuhörer immer wieder in ihre alte Skepsis zurückverfallen, in die Ansicht, dass echte Wahrheiten durch die Philosophie nicht wirklich zu ergründen sind. Ihre Ar­gu­men­ta­tion dreht sich im Kreis und Sokrates muss ihnen immer wieder die gleichen Wahrheiten auf neue Weise nahebringen. Er warnt vor der Re­de­feindlichkeit, vor der Vorstellung, solche Gespräche würden nichts bringen, weil sie zu keiner gesicherten Erkenntnis führen könnten. So eine Denkweise ist men­schen­feindlich, sagt Sokrates. Wer so ar­gu­men­tiert, zerstört den wahren Sinn des men­schlichen Lebens. Dieser besteht darin, durch Vernunft festzustellen, was das tugendhafte Leben beinhaltet – und diese Erkenntnis dann im eigenen Leben zu ver­wirk­lichen. So wird die Seele gepflegt und ihr Aufstieg zum Guten, Göttlichen gefördert.

„(...) das waren seine letzten Worte: Kriton, dem Asklepios schulden wir einen Hahn. Entrichtet ihm den und vergesst es nicht! Das soll geschehen, sagte Kriton. Aber sieh zu, ob du noch etwas anderes zu sagen hast. Als er ihn das fragte, antwortete er nicht mehr, sondern wenig später zuckte er und der Mensch deckte ihn auf; da waren seine Augen gebrochen.“ (Phaidon, S. 171)

Nach diesem Einschub geht Sokrates auf die vorge­brachten Einwände ein: Das Wesen der Seele ist das Gegenteil des sinnlichen Körpers. Sie kann keine bloße Stimmung sein, weil sie, wie die Erinnerung an die ewigen Erken­nt­nisse beweist, ihre Existenz nicht aus dem Körper bezieht, während eine Stimmung aber genau aus diesem erwächst. Zudem ist die Seele eine Trägerin von Eigen­schaften und kann deshalb selbst nicht eine bloße Eigenschaft sein. Unsere jeweilige Ges­timmtheit hingegen ist nur eine solche Eigenschaft. Sie wird vom Körper her­vorge­bracht, z. B. wenn wir hungrig sind. Mittels der Seele können wir uns aber trotzdem zum Nichtessen entschließen – deshalb ist die Seele mehr als eine bloße Eigenschaft oder Stimmung.

Die Idee als letzte Ursache

Auszuschließen ist auch, dass sich die Seele nach zahllosen Geburten am Ende aufzehrt, denn das Leben gehört zum Kern ihres Wesens. Sokrates erklärt, wie er durch seinen eigenen philosophis­chen Werdegang zu dieser Überzeugung gelangt ist. In jungen Jahren befasste er sich mit vielen Philosophen seiner Zeit, die behaupteten, die Ursache von Werden und Vergehen erklären zu können. Doch sie konnten die wirklichen Ursachen, die im Verborgenen liegen, nicht offenlegen. Sokrates stieß dann auf die Idee als Träger aller sichtbaren Er­schei­n­un­gen. Diese sind nur Verkörperungen von Ideen. Widersprüche zwischen Idee und Verkörperung kann es nicht geben. Das Feuer etwa ist eine Verkörperung des Warmen, der Schnee eine Verkörperung des Kalten. Der Schnee kann nicht das Warme aufnehmen und weiterhin Schnee bleiben. Auf die Seele angewandt, bedeutet das, dass sie, da sie ihrem Wesen nach das Leben ist, nicht dem Tod an­heim­fallen kann, denn dieser ist das Gegenteil des Lebens.

„Das, Echekrates, war das Ende unseres Freundes, eines Menschen, der, wie wir sagen möchten, von den damaligen, die wir gekannt haben, der beste und überhaupt der vernünftigste und gerechteste war.“ (Phaidon, S. 171)

Wenn unsere Seele aber unsterblich ist, dann müssen wir uns nicht nur für die Dauer unseres men­schlichen Lebens um sie sorgen, sondern für immer. Mit einem möglichst tu­gend­haften Leben müssen wir die Vo­raus­set­zung schaffen, dass die Seele auch nach diesem Leben eine gute Zukunft hat. Das sagt uns übrigens nicht nur die Vernunft, sondern auch der Mythos, wenn er davon spricht, dass es für die Seelen nach dem Tod ein Gericht geben wird, vor dem sie nach der Tu­gend­haftigkeit ihres men­schlichen Lebens beurteilt werden.

Letzte Worte

Nach diesen letzten Gesprächen badet Sokrates, damit die Frauen ihn nach seinem Tod nicht waschen müssen, und ve­r­ab­schiedet sich von seiner Familie und seinen Freunden. Auf die Frage, wo er begraben werden möchte, antwortet er, dass er – wie seine Erörterung gezeigt hat – nach dem Tod zu einem besseren Leben fort­geschrit­ten sein wird und nur sein Körper zurückbleibt. Diesen sollen seine Anhänger nach Belieben bestatten. Er nimmt die Frage aber zum Anlass, noch einmal ein­dringlich vor einem fahrlässigen Gebrauch der Sprache zu warnen. Nur eine korrekte Benennung der Dinge verhindert, dass sich gefährliche Denkfehler ein­schle­ichen.

Als ihm der Giftbecher gebracht wird, ve­r­ab­schiedet sich Sokrates freundlich, betet und trinkt das Gift mit aller Gelassen­heit – ohne noch Zeit schinden zu wollen, wie das die meisten anderen Verurteil­ten tun. Länger als nötig am men­schlichen Leben zu hängen, wider­spricht seinen Prinzipien. Als seine Freunde zu weinen beginnen, ermahnt er sie zur Ruhe. Mit seinen letzten Worten bittet er darum, Asklepios einen geschulde­ten Hahn zu opfern.

Zum Text

Aufbau und Stil

Phaidon ist im üblichen Stil Platons als Dialog verfasst. Das Zusam­men­tr­e­f­fen zweier Anhänger des Sokrates dient als Rah­men­hand­lung: Echekrates will von Phaidon, der beim Tod des Philosophen anwesend war, wissen, wie sich alles zugetragen hat und vor allem welche Gespräche zuletzt noch geführt wurden. Phaidon berichtet daraufhin die Ereignisse und angeblich wortgetreu auch den Inhalt der Diskus­sio­nen. Auf diese Weise vermittelt Platon nicht nur Sokrates’ Gedankengut (oder besser: sein eigenes, das er Sokrates in den Mund legt), sondern auch die dialogische Methode, die Sokrates bis zu seinem Tod als Lehrmittel eingesetzt hat, die Mäeutik oder Hebam­menkunst: Die Wahrheit wird aus Rede und Widerrede geboren, aus einem ständigen In­fragestellen des Gesagten. Platon handelt einige gängige philosophis­che Thesen seiner Zeit ab; jeder Di­alog­part­ner steht dabei für eine bestimmte Denkrich­tung. Indem er Sokrates seine Schüler korrigieren oder ins Leere laufen lässt, zeigt der Autor, welche Vorstel­lun­gen er selbst für richtig hält. Bei aller bewussten Komposition gelingt es ihm, die Di­alogsi­t­u­a­tion im Gefängnis liebevoll zu zeichnen; die Gespräche wirken weniger gekünstelt als in so manchen zeitgenössischen Romanen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Platon legt mit dem Phaidon eine zweite Vertei­di­gungsrede des Sokrates vor. Gegenüber dem Athener Gericht musste Sokrates seine Lehren verteidigen, was Platon in seiner Apologie doku­men­tiert hat. Im Phaidon wollen nun die Anhänger von Sokrates wissen, wieso er dem eigenen Tod so gelassen ent­ge­gen­sieht.
  • Sokrates stellt die Seele über den Körper und die Sinnlichkeit und kann daher auf eine gute Zukunft über den Tod hinaus hoffen. Allerdings sieht er nicht die Askese, die zwanghafte Verleugnung des Körpers, sondern die Tugend als Schlüssel zur Überwindung der Sinnlichkeit an.
  • Sokrates vertritt eine prax­is­be­zo­gene Philosophie: Was wir glauben, muss sich in dem ausdrücken, was wir tun. In der Weise, in der er sein Leben beendet, führt er diese Haltung noch einmal eindrücklich vor.
  • Die wichtigsten Di­alog­part­ner Sokrates’ sind Anhänger des Pythagor­eis­mus. Platon greift deren Ideen auf, stimmt den Vorstel­lun­gen zu, die er für zutreffend hält, und entwickelt diese dann zu seiner Wahrheit weiter. Damit gibt er ein Beispiel dafür, wie im di­al­o­gis­chen Gespräch philosophis­che Fortschritte erzielt werden können.
  • Sokrates weicht bisweilen von einer streng logischen Ar­gu­men­ta­tion ab, indem er neben dem Logos, der Vernunft, auch den Mythos als Ar­gu­men­ta­tion­shilfe heranzieht und zeigt, dass alte Überliefer­un­gen, wenn man sie als Allegorien versteht, durchaus auf wichtige Wahrheiten hinweisen können. Die Grundlage für die Un­sterblichkeits­be­weise etwa – alles gehe aus seinem Gegenteil hervor, also auch das Leben aus dem Tod – scheint aus heutiger Sicht eine eher wacklige Prämisse zu sein.
  • Moderne Philosophen, allen voran Friedrich Nietzsche, haben Sokrates (wie er von Platon dargestellt wurde) vorgeworfen, die positive Bedeutung der körperlichen Sinnlichkeit zu ignorieren und so eine im Grunde lebens­feindliche Haltung zu vertreten.

His­torischer Hintergrund

Philosophie als Lebensweise

In vor­sokratis­cher Zeit befassten sich die griechis­chen Denker vor allem mit zwei grundle­gen­den Fragestel­lun­gen: Was ist die Ursache aller Dinge? Und: Wie sollen wir handeln? Die erste Frage versuchten die so genannten Natur­philosophen zu beantworten. Ihr Bestreben, alles aus einer Grun­dur­sache zu erklären, führte dazu, dass etwa Thales das Wasser und Heraklit das Feuer zum Urelement ernannte. Im Bereich der philosophis­chen Praxis dominierten die Sophisten, die eine prag­ma­tis­che Haltung zur Wahrheit einnahmen: Für sie war alles relativ; welche Meinung sich durchsetzte, hing davon ab, wer am besten ar­gu­men­tieren konnte. Die Sophisten vertraten diese Ansicht nicht nur, sie waren auch Experten darin, anderen die Kunst beizubrin­gen, in der Politik und vor Gericht zu siegen – natürlich gegen entsprechende Vergütung. Dann trat in Athen plötzlich ein Mann auf die philosophis­che Bühne, der all diese Vorstel­lun­gen einer kritischen Prüfung unterzog. Sokrates führte eine radikale Ur­sachen­forschung ein, vor der alle ma­te­ri­al­is­tis­chen Erklärungsver­suche weichen mussten. Noch härter aber traf er die Sophisten. Wahrheit sollte relativ sein? Das entsprach nun gar nicht Sokrates’ Vorstel­lun­gen, und er scheute nicht davor zurück, den Zynismus der Sophisten öffentlich zu entlarven.

Athen war zu dieser Zeit eine Ba­sis­demokratie. Die Machthaber hatten kein unbeschränktes Mandat, sondern mussten ihre Wähler bei wichtigen Entschei­dun­gen jeweils mit entsprechen­den Reden überzeugen. Da kamen die rhetorischen Tricks der Sophisten gerade recht; Sokrates’ be­har­rliches Festhalten auf absoluten Wahrheiten war hingegen lästig – erst recht, weil er zunehmend den philosophisch-poli­tis­chen Nachwuchs davon überzeugen konnte. Also wurde ihm kurzerhand der Prozess gemacht. Die Anklage: Er verderbe die Jugend und lehre sie fremde Götter. Dies auch deshalb, weil Sokrates angedeutet hatte, die alten Mythen seien nur allegorisch zu verstehen. Die politische Elite hatte allerdings kein Interesse daran, Sokrates wirklich zu töten. Man wollte ihm nur eine Lektion erteilen und ihn mundtot machen. Als der Philosoph vor Gericht aber nicht klein beigab und auch noch frech forderte, man solle ihn von nun an als Volksheld öffentlich bewirten, wurde doch ein Todesurteil verhängt. Insgeheim wurde ihm zwar die Flucht nahegelegt – er hatte ein­flussre­iche Freunde, die ihm ein gutes Leben fern von Athen bieten konnten –, aber Sokrates lehnte ab. Man müsse sich der Obrigkeit auch dann fügen, wenn sie korrupt sei, weil sonst die öffentliche Ordnung leiden würde.

Entstehung

Platon war wahrschein­lich Sokrates’ Lieblingsschüler, auf jeden Fall aber sein er­fol­gre­ich­ster Zögling. Nach Sokrates’ Tod 399 v. Chr. gründeten mehrere seiner Schüler neue, auf den Lehren des Meisters basierende Schulen. Die einzige davon, die einen langfristi­gen Einfluss ausüben sollte, war die Akademie Platons. Platon war nicht nur von seinem Lehrer, sondern auch von dessen di­al­o­gis­cher Methode so überzeugt, dass er, bis auf wenige Ausnahmen, seine gesamte Lehre Sokrates in den Mund legte und sie in Dialogform veröffentlichte.

Der Phaidon, entstanden um 380 v. Chr., ist gerade in dieser Hinsicht ein zentrales Werk Platons. Aufgrund einer Erkrankung hatte er den Tod Sokrates’ nicht persönlich miterleben können. Die Berichte über die Gelassen­heit, mit der dieser gestorben sei, boten aber einen guten Hintergrund für die Darlegung der Ideen, denen Sokrates seine Unbekümmertheit verdankte. Platon kon­fron­tierte diese Ideen mit den damals wichtigsten philosophis­chen Strömungen, ins­beson­dere jener der Pythagoreer, gewichtete sie un­ter­schiedlich und arbeitete so seine eigene Position heraus.

Wirkungs­geschichte

Nicht nur das beein­druck­ende Vorbild des Sokrates, sondern auch seine (von Platon erweiterte) Sicht der Un­sterblichkeit gaben der Geis­tes­geschichte entschei­dende Impulse. Die von Platons Schüler Aristoteles mod­i­fizierte Lehre von der Un­sterblichkeit der Seele prägte religiöse Denker wie Augustinus und Thomas von Aquin und lebt bis heute fort. Die Vorstel­lun­gen von der „Vorerin­nerung“ der Seele dienten dem Ra­tio­nal­is­mus und dem deutschen Idealismus als gedankliche Anregung.

Die im Phaidon geäußerten Ansichten wurden, angefangen bereits bei Aristoteles, schon bald einer kritischen Analyse unterzogen. Gottfried Wilhelm Leibniz etwa nahm Argumente aus dem Phaidon zum Anlass, John Lockes Vorstellung von der „Tabula rasa“ zurückzuweisen, der Idee also, dass der Mensch ohne jegliche Erkenntnis oder vorgeformte Denkmech­a­nis­men zur Welt käme. Friedrich Nietzsche attackierte Sokrates mit Verweis auf den Phaidon: Sokrates propagiere eine un­gerecht­fer­tigte Abkehr von der gerade auch leiblich geprägten men­schlichen Existenz und enge so den Menschen in seiner Entwicklung ein.

Über den Autor

Platon gilt als einer der größten philosophis­chen Denker aller Zeiten. Zusammen mit seinem Lehrer Sokrates und seinem Schüler Aristoteles bildet er das Dreigestirn am Mor­gen­him­mel der westlichen Philosophie. Platon wird 427 v. Chr. in Athen geboren, als Sohn des Ariston, eines Nachfahren des letzten Königs von Athen. Da Platon aus aris­tokratis­chen Kreisen stammt, scheint eine politische Laufbahn vorgeze­ich­net. Doch die Politik verliert für ihn schnell an Reiz, als er sieht, wie die oli­garchis­che Herrschaft der Dreißig im Jahr 404 v. Chr. Athen unterjocht. Platon betrachtet die Politik von nun an mit einem gewissen Abscheu, sie lässt ihn aber nie ganz los. Er wird ein Schüler des Sokrates, dessen ungerechte Hinrichtung im Jahr 399 v. Chr. ihn stark prägen wird. Fortan tritt Sokrates als Haupt­darsteller seiner philosophis­chen Schriften auf: 13 Briefe und 41 philosophis­che Dialoge sind überliefert. Nach der Verurteilung des Sokrates flüchtet Platon zu Euklid nach Megara (30 Kilometer westlich von Athen). Er reist weiter in die griechis­chen Kolonien von Kyrene (im heutigen Libyen), nach Ägypten und Italien. 387 v. Chr. kehrt er nach Athen zurück und gründet hier eine Schule: die Akademie. Deren Studienplan umfasst die Wis­sens­ge­bi­ete Astronomie, Biologie, Mathematik, politische Theorie und Philosophie. Ihr berühmtester Schüler wird Aristoteles. 367 v. Chr. ergibt sich für Platon die einmalige Möglichkeit, sein in seinem Hauptwerk Der Staat entworfenes Poli­tikideal in die Praxis umzusetzen: Er wird als politischer Berater an den Hof von Dionysios II., dem Herrscher von Syrakus, gerufen. Seine Hoffnungen, diesen in der Kunst des Regierens zu unterweisen, zerschlagen sich jedoch. Platon stirbt um 347 v. Chr. in Athen.