Thérèse Raquin

Buch Thérèse Raquin

Paris, 1867
Diese Ausgabe: Insel,


Worum es geht

Was in uns mordet und die Ehe bricht

Ein fescher Lebemann und eine frustrierte Ehefrau beginnen eine Affäre. Er begehrt ihr Geld, sie seinen Körper und ein aufregendes Leben. Was den beiden im Weg steht, ist nur der naive Gatte der Dame. Also ertränken sie ihn. Doch der Mord fördert ihr wahres Problem zutage: Sie sind Marionetten ihrer un­kon­trol­lier­baren Gefühle. In heftigen Angstzuständen und Ner­venkrisen erstickt ihre Liebe so schnell, wie sie aufgeflammt ist. Émile Zola war nicht der Erste, der einen Mord aus Lei­den­schaft schilderte, aber keiner vor ihm ging so radikal vor wie er. Er spricht seinen Antihelden jene Eigenschaft ab, die gemeinhin für die men­schlich­ste gehalten wird: den freien Willen. Die Figuren können nicht anders, es ist die tierische, ja bes­tialis­che Natur, die in ihnen handelt. Thérèse Raquin war Zolas erster nat­u­ral­is­tis­cher Roman. Um ihn zu schreiben, studierte er die Natur­wis­senschaften seiner Zeit, schwor aller Romantik ab und zeichnete ein neues, sozio­bi­ol­o­gis­ches Men­schen­bild. Heute steht Thérèse Raquin im Schatten des großen Romanzyklus Die Rougon-Mac­quart. Dabei hat schon dieser frühe Roman alles, was den späteren Zola auszeichnet: Spannung, De­tail­ge­nauigkeit und einen scho­nungslosen Blick auf die Welt.

Take-aways

  • Mit dem Roman Thérèse Raquin gelang Émile Zola der Durchbruch.
  • Zola gilt als Hauptvertreter des Nat­u­ral­is­mus, dessen Absicht darin bestand, soziale Milieus möglichst präzise zu beschreiben.
  • Inhalt: Die adoptierte Thérèse heiratet auf Wunsch der Mutter ihren Stiefbruder Kamill, begehrt aber dessen Freund Lorenz. Um ihre Affäre ausleben zu können, beschließen die Liebenden, Kamill zu ertränken. Der Mord stürzt das Paar in die Krise. Nervlich am Ende, schieben sie sich vor den Augen von Kamills gelähmter Mutter gegenseitig die Schuld zu und bringen sich schließlich um.
  • Zola begriff seinen Roman als angewandte Natur­wis­senschaft.
  • Die Figuren haben keinen freien Willen: Sie sind ihrem sozialen Umfeld und ihrer körperlichen Lei­den­schaft aus­geliefert.
  • Thérèse Raquin ist auf Spannung hin konstruiert, symbolisch aufgeladen und damit weit von nüchterner Wis­senschaft entfernt.
  • Der Roman spaltete die zeitgenössische Kritik, er wurde als „epochemachend“, aber auch als „jauchig“ bezeichnet.
  • Manche Kritiker sprechen den Figuren psy­chol­o­gis­che Plausibilität ab.
  • Im Vorwort zur zweiten Auflage entwarf Zola eine Theorie des nat­u­ral­is­tis­chen Romans.
  • Zitat: „Natur und Umstände schienen diese Frau für diesen Mann geschaffen und sie einander zugeführt zu haben. Die Frau zäh und verlogen, der Mann, vollblütig und stumpf­sin­nig, dergestalt bildeten sie ein mächtig verbundenes Paar.“
 

Zusammenfassung

Aus der Provinz nach Paris

Seit mehr als 20 Jahren betreibt Frau Raquin einen Schnittwaren­han­del in Vernon. Als ihr Mann stirbt, verkauft sie den Besitz und macht damit ein kleines Vermögen. Von den Zinsen mietet sie ein Häuschen an der Seine, wo sie sich ganz der Pflege ihrer Kinder widmet. Ihr Sohn Kamill kränkelt und schwächelt von Geburt an. Ohne die Fürsorge der Mutter wäre er längst gestorben. Das Mädchen, Thérèse, ist nicht ihr eigenes Kind; Frau Raquins Bruder hat es ihr in Obhut gegeben. Thérèses Mutter, eine algerische Eingeborene von angeblich außeror­dentlicher Schönheit, war noch im Wochenbett gestorben, der Vater im Krieg gefallen. Frau Raquin pflegt auch Thérèse wie eine Kranke, obwohl sie recht robust ist. Weder Medizin noch Bettruhe bleiben ihr erspart. Sie entwickelt sich zu einer bleichen, verhärmten Frau. Kaum sind die Kinder erwachsen, verheiratet Frau Raquin sie aus eigennützigen Motiven miteinander. Sie hofft, das Ehepaar werde sie pflegen, wenn sie dereinst alt und gebrechlich ist. Kamill und Thérèse nehmen den Heirats­beschluss wie ein unabänderliches Schicksal an.

„Wenn man von ihrer Heirat sprach, wurde Thérèse ernst und beschränkte sich darauf, mit einer leichten Kopf­be­we­gung allem zuzustimmen, was Frau Raquin vorbrachte. Kamill schlief währenddessen ein.“ (S. 29)

Irgendwann möchte Kamill von Vernon weg, nach Paris. Nur dort, so glaubt er, kann er sein Ziel erreichen, in der Verwaltung zu arbeiten. Also siedelt die Familie in die Hauptstadt über. In der Brücken-Pas­sage eröffnet Frau Raquin ein neues Geschäft. So muffig und finster der Laden auch wirkt, wirft er doch schon bald Gewinn ab, und auch gesellschaftlich fasst die Familie Fuß. Jeden Donnerstag lädt die Alte zu Tee und Dominospiel ein. Thérèse langweilen die Gäste, die in die kleine Wohnung über dem Laden kommen: der pen­sion­ierte Polizeikom­mis­sar Michaud, den Frau Raquin noch aus Vernon kennt, dessen Sohn Olivier, ein Vorsteher bei der Sicher­heit­spolizei, und Grivet, ein altge­di­en­ter Bürokollege von Kamill. Nur wenn Kamills Schulfreund Lorenz auftaucht, hellt sich Thérèses Miene auf: Der kräftige Mann mit den breiten Schultern gefällt ihr ungemein.

Der Traum vom faulen Leben

Lorenz ist der Sohn eines reichen Ge­trei­de­bauern aus Vernon. Da sein Vater ständig prozessiert, hat er Lorenz zum Advokaten bestimmt. Dieser fing jedoch nur zum Schein das Studium an und amüsierte sich stattdessen lieber mit Freunden. Als der Schwindel aufflog, stellte der Vater die Zahlungen ein. Lorenz versuchte sich als Maler, doch seine Bilder fanden keine Käufer. Jetzt arbeitet er wie Kamill bei der Eisen­bah­n­ver­wal­tung. Nur von einer Hoffnung wird er umgetrieben: dass der Vater bald stirbt und er vom Erbe leben kann.

„Er träumte ein Leben, reich an billig erworbenen Genüssen, ein schönes Leben voller Frauen, voller Räkelstunden auf dem Diwan und voller Ess- und Trinkgelage.“ (über Lorenz, S. 45)

Kamill ist von Lorenz’ lässigem Leben beeindruckt, und er wünscht, in Öl gemalt zu werden. Der Freund führt den Pinsel ungeschickt und übergenau, doch Mutter und Sohn lassen sich trotzdem begeistern. Thérèse wirft dem Maler heimlich warme Blicke zu. Als das Porträt nach acht Tagen fertig ist, Kamill Champagner besorgen geht und Frau Raquin im Laden verlangt wird, nutzt Lorenz die Gunst der Stunde: Er fällt über die willige Thérèse her.

Eine befreiende Affäre

Thérèse fühlt sich durch die Affäre wie neu geboren. Das Leben in Vernon hat sie völlig abgestumpft, nun blüht sie auf und scherzt. Lorenz stört ihre Albernheit, doch er genießt seinen Erfolg, zumal er sich von allen drei Raquins bestens umsorgt weiß. Immer wieder treffen sich Lorenz und Thérèse zu amourösen Stelldicheins, bei denen sie nur von Frau Raquins Kater stumm beobachtet werden. Nach acht Monaten allerdings scheint das liederliche Leben zu Ende: Lorenz’ Chef verbietet ihm, seinen Ar­beit­splatz jeweils vorzeitig zu verlassen, was bedeutet, dass er nicht mehr vor Kamill bei den Raquins eintreffen kann. Die Stunden zu zweit sind vorbei. Da sucht Thérèse den Liebhaber unter einem Vorwand in dessen Wohnung auf. Den Ehebrechern ist klar: Kamill steht ihrer Lei­den­schaft im Weg. Wenn er doch nur tot wäre, seufzt Thérèse. Der Gedanke fasziniert Lorenz, aber noch hat er keinen verlässlichen Plan.

„Sie wechselten nicht ein einziges Wort miteinander. Der Akt vollzog sich stumm und roh.“ (über Lorenz und Thérèse, S. 53)

An einem schönen Sonntag brechen Kamill, Thérèse und Lorenz nach Sankt Quen auf. Am Ufer der Seine legen sie sich in den Schatten der Bäume. Kamill erzählt alberne Büro­geschichten, dann schläft er ein. Thérèse schmiegt sich an ihn und stellt sich schlafend. Als Lorenz sie so daliegen sieht, packt ihn die Lust und er küsst gierig ihre Stiefel samt den weißen Strümpfen. Da Thérèse sich nicht rührt, springt er zornig auf und droht, Kamill mit dem Schuh das Gesicht zu zertreten. Nur Thérèses entsetzter Blick und die Furcht, als Mörder gefasst zu werden, halten ihn davon ab. Lange blickt Lorenz auf die glitzernde Seine. Da kommt ihm eine Idee.

Das perfekte Verbrechen

Lorenz schlägt eine Bootspartie vor. Kamill scheut das Wasser und muss überredet werden, ehe er in das schmale Boot einsteigt. Thérèse steht wie angenagelt auf dem Steg; Lorenz hat ihr seine Absicht ins Ohr geflüstert. Erst als Kamill zu prahlen und zu spotten beginnt, gibt sie nach und steigt ins Boot. Kaum haben sie eine verborgene Stelle erreicht, stürzt sich Lorenz auf seinen Freund und würgt ihn. Kamill röchelt und schreit nach Thérèse, die in Ohnmacht fällt. Schon fast besiegt, vermag sich Kamill aus der Umk­lam­merung zu lösen und beißt Lorenz tief in den Hals. Da schleudert ihn dieser, vom Schmerz gepeinigt, über Bord. Der Nichtschwim­mer ertrinkt elendiglich. Lorenz bringt das Boot zum Kentern und ruft um Hilfe. Die her­beirud­ern­den Ausflügler glauben ihm jedes Wort, es kommt ihnen sogar so vor, als hätten sie den Unfall mit eigenen Augen gesehen.

„Natur und Umstände schienen diese Frau für diesen Mann geschaffen und sie einander zugeführt zu haben. Die Frau zäh und verlogen, der Mann vollblütig und stumpf­sin­nig, dergestalt bildeten sie ein mächtig verbundenes Paar.“ (über Thérèse und Lorenz, S. 66)

Wieder an Land, nimmt sich ein Schankwirt der geretteten, immer noch ohnmächtigen Thérèse an. Lorenz eilt sofort zu Polizeikom­mis­sar Michaud nach Paris. Sein falscher Bericht weckt dessen Hil­fs­bere­itschaft und Mitgefühl. Dank Michauds Fürsprache lassen sich die polizeilichen Belange zügig regeln. Keiner schöpft Verdacht, das Verbrechen scheint geglückt, nur ein Problem gibt es noch: Kamills Leiche muss gefunden werden. Ohne sie gibt es keinen Totenschein und somit auch kein Eheglück für Lorenz und Thérèse. Um die Un­sicher­heit zu beenden, begibt sich Lorenz täglich ins Le­ichen­schauhaus. Nach acht Tagen wird er endlich fündig. Lange starrt er auf Kamills aufge­dun­se­nen, grünlichen Körper.

Kamills Wiederkehr

Frau Raquin trifft der Verlust ihres Sohnes hart. Drei Tage verbringt sie wimmernd im Bett, dann verlässt sie es als gebrochene Frau. Auch Lorenz setzt die Tat zu, obwohl zunächst alles seinen geordneten Gang zu gehen scheint. Tagsüber stürzt sich der Mörder in die Arbeit und erledigt sie mustergültig. Nach Feierabend fühlt er sich allein. Um sich zu zerstreuen, sucht er einen be­fre­un­de­ten Maler auf. Er verliebt sich in ein Aktmodell und beginnt eine lustlose Affäre, die bald wieder endet. Eines Abends packt ihn plötzlich die Angst: Er fürchtet, dass ein Fremder ihm in seiner Wohnung auflauert. Vor der Haustür macht er kehrt und betrinkt sich in einer Bar. Nach Mitternacht wird er auf die Straße gesetzt. Mit weichen Knien kämpft er sich in seine Dachkammer hinauf: Sie ist leer. Trotzdem hat er eine schwere Nacht. Erst träumt er sich Thérèse herbei, die ihm in strahlend weißem Unterrock ent­ge­gen­tritt, dann taucht Kamills grünliche Leiche auf und zeigt ihm zwischen den weißen Zähnen ihre schwarze Zunge. Schweißgebadet wacht Lorenz auf. Bei der Mor­gen­toi­lette quält ihn die Bisswunde. Wütend kratz er am Schorf.

„In seiner blühenden Tiernatur schien alles unbewusst zu sein, er gehorchte nur Trieben, er ließ sich gewissermaßen nur durch den Willen seines Organismus leiten.“ (über Lorenz, S. 70)

Auch Thérèse träumt von Kamill. Gegen seine Wiederkehr scheint es nur ein Mittel zu geben: die baldige Hochzeit. Mit List bringen die Liebenden Michaud dazu, sich dafür einzusetzen. Frau Raquin stimmt nur zögernd zu, doch dann lässt sie in einem Anfall von Güte sogar ihr gesamtes Vermögen auf Thérèse überschreiben. Bereits während der Zeremonie fühlen sich die Brautleute einander unsagbar fremd, an der Hochzeit­stafel sitzen sie steif und ernst. Als Grivet ihre Heiterkeit erzwingen will und das Glas auf künftige Kinder erhebt, erbleichen sie.

Die Liebe endet in der Hochzeit­snacht

Später zögert Lorenz lange, ehe er das Brautgemach betritt. Als Thérèse ihn sieht, wendet sie sich angewidert ab. All ihre Lust scheint aufgezehrt. Lorenz beschwört die frühere Lei­den­schaft, doch als der Name des Ertränkten fällt, glauben die beiden zu spüren, wie dieser den Raum betritt. Lorenz sieht ihn förmlich vor sich und schreit auf, doch Thérèse beschwichtigt ihn: Das sei nur das Porträt, das er damals von Kamill gemalt habe. Lorenz will auf den Hals geküsst zu werden. Als Thérèse sich weigert, presst er ihren Kopf brutal auf die rötlich schimmernde Bisswunde. Dieser Gewaltakt beendet ihre Liebe endgültig. Thérèse beginnt stärker an der nervösen Unruhe zu leiden, die ihrem Körper schon immer eigen war. Der müßige Lorenz wandelt sich zu einem reizbaren Nervenbündel. Bisweilen gelingt es ihnen, sich mit ihrem Tagewerk zu zerstreuen, und die Donnerstage lenken sie ab, da die Gäste sie für ihr ver­meintliches Eheglück bewundern. Dazwischen flüchten sie sich in Gespräche mit der mit­tler­weile halb gelähmten Frau Raquin und umsorgen sie, wie es die Alte sich nie erträumt hätte. Sobald es aber Nacht wird, packt sie das Grauen wieder.

Das un­frei­willige Geständnis

Nach vier Monaten Ehe verlangt Lorenz von Thérèse, dass sie ihm künftig ein Monats­ge­halt zahlt. Die Beamten­stelle kündigt er, um sich ein Atelier zu mieten. Dort malt er fünf Bilder und zeigt sie einem er­fol­gre­ichen Künstler. Der ist beeindruckt: Die Bilder haben eine ganz und gar eigentümliche Aus­druck­skraft. Doch das Lob hat einen bitteren Beigeschmack, denn der Maler weist Lorenz auch darauf hin, dass die zwei Frauen- und drei Männer­gesichter einander unheimlich ähnlich sind. Lorenz hat, ohne es zu wollen, fünfmal den toten Kamill gemalt. Jeder weitere Versuch ergibt das nämliche Bild: das halb verweste Gesicht, wie es sich Lorenz im Le­ichen­schauhaus eingeprägt hat.

„Kamill brauchte nicht allzu viel Zeit, um einzuschlafen, und Thérèse schaute lange in sein blei­far­benes Gesicht, das blöde mit offenem Mund auf dem Kissen lag. Sie rückte weit von ihm ab, sie spürte Lust, ihre geschlossene Faust in diesen Mund zu graben.“ (S. 78)

Frau Raquins Lähmung erfasst allmählich ihren ganzen Körper. Zuletzt erstarrt sogar ihre Zunge. Das Schweigen wirft das Ehepaar auf seine Ängste zurück. Thérèse und Lorenz sind dem Wahnsinn nahe, immer und überall sehen sie Kamill. Irgendwann verliert Lorenz die Nerven und gesteht in einem Anfall die Tat. Die furchtbare Wahrheit trifft Frau Raquin mit gnadenloser Wucht. Sie zuckt, erstarrt wieder, und ihre sanften Augen werden hart wie Metall. Alles Schöne, was von ihrem Leben übrig war, zerbricht. Doch damit nicht genug: Jeden Abend werden die grausamen Details aufs Neue vor ihr aus­ge­bre­itet. Da sammelt sie an einem Donnerstag ihre letzten Kräfte und zwingt ihre Hand, eine Anklage auf den Tisch zu kritzeln. Doch der Satz bleibt unvollendet: „Thérèse und Lorenz haben ...“ Grivet ergänzt oberschlau: „... sehr gut für mich gesorgt.“

Sie hassen und sie prügeln sich

Von nun an streitet sich das Paar in blindem Hass. Thérèse fängt an, die Tat zu leugnen, dann beweint sie den Ertränkten, schließlich mimt sie die reuige Sünderin. Lorenz verprügelt sie. Die wehrlose Frau Raquin sieht nur einen Weg, ihrer Pein zu entkommen: Sie will sich zu Tode hungern. Doch als Lorenz ihrem Ableben freudig ent­ge­gen­fiebert, kommen ihr Zweifel: Ihre stumme Präsenz ist auch eine Art Strafe für die Tat, und darauf will sie nicht verzichten. Außerdem beginnt sich deutlich abzuze­ich­nen, dass dem Paar der ver­nich­t­ende Schlag unmittelbar bevorsteht: Thérèse wird schwanger. Ein von Lorenz gezeugtes Kind will sie aber nicht austragen. Bei der nächsten Prügelei hält sie ihren Unterleib hin, und Lorenz tritt mit voller Härte zu. Am Folgetag hat sie eine Fehlgeburt. Lorenz versucht sich derweil einzureden, er sei am Ziel seiner Träume: Auf Kosten seiner Gattin kann er nun als Müßiggänger leben. Doch was er früher ersehnte, schmeckt jetzt fad. Immerfort quält ihn die Wunde am Hals, die sich tief und tiefer in ihn hineinzufressen scheint. Nur wenn er Thérèse schlägt, empfindet er Be­friedi­gung. Eines Abends erregt Frau Raquins Kater seinen Zorn. Das Tier scheint ihm von Kamills Geist besessen. Er packt es und schleudert es durch das Fenster an die gegenüberliegende Hauswand. Anderntags beunruhigt ihn Thérèses langes Fortbleiben. Er wittert Verrat, doch als er ihr nachs­pi­oniert, stellt er beruhigt fest: Seine Frau verdingt sich bloß als Pros­ti­tu­ierte. Lorenz presst Thérèse daraufhin eine hohe Geldsumme ab und eifert ihrem Lotterleben nach: Tagelang überlässt er sich den Frauen und versinkt im Alkohol.

„Unaus­den­kliche Lüste hatten sie sich innerlich verheißen, wenn sie erst ihrer Straflosigkeit sicher sein würden. Und nun war diese Hochzeit­snacht endlich gekommen, und sie saßen einander voller Bangigkeit und Unbehagen gegenüber.“ (S. 163)

Schließlich erreicht der Ehekrieg seinen Höhepunkt. Thérèse und Lorenz beschließen unabhängig voneinander, den jeweils anderen umzubringen. Lorenz entwendet aus einem Labor Blausäure, Thérèse schärft ihr Küchenmesser und legt es bereit. Am Abend ertappen sie einander dabei, wie sie heimlich zu den Waffen greifen. Ein letztes Mal betrauern sie ihr missglücktes Leben, dann trinkt Thérèse die eine Hälfte der Blausäure, Lorenz die andere – vor den Augen Frau Raquins. Die Alte starrt die ganze Nacht auf das tote Paar und zermalmt es mit ihren Blicken.

Zum Text

Aufbau und Stil

Thérèse Raquin ist linear aufgebaut, die 32 Kapitel des Romans folgen den Ereignissen chro­nol­o­gisch. Zola schiebt immer wieder psy­chol­o­gis­che Analysen in die Erzählung ein und stellt damit die Handlungen der Figuren als Stationen eines natürlichen, notwendigen Ablaufs dar. Wiederholt greift der allwissende Erzähler in die Geschichte ein und enthüllt, was die Akteure ver­schweigen oder nicht wahrhaben wollen: geheime Triebe, Wünsche, Ner­venkrisen. Bisweilen hält er sich aber auch zurück zugunsten der so genannten erlebten Rede, die die Gedanken der Figuren wiedergibt. Die Spannung des Romans wird äußerst wirkungsvoll aufgebaut und die beschriebene Realität symbolisch verdichtet, womit der Autor weit über seine angebliche „wis­senschaftliche“ Be­tra­ch­tungsweise hinausgeht. Zolas Sprache ist nicht frei von Pathos, in der Regel aber einfach und eingängig. Nicht die kunstvolle Ver­feinerung zählt, sondern der glaubhafte Realitätseindruck.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Zola sieht den Romanautor als Natur­wis­senschaftler. Im Roman will er mit lit­er­arischen Mitteln ein Stück positive Wis­senschaft betreiben. Es geht nicht darum, Dinge zu erfinden, sondern eine Welt zu erforschen. In Thérèse Raquin gilt das Interesse dem kleinbürgerlichen Milieu. Zu Beginn des Romans meldet sich der anonyme allwissende Erzähler zu Wort und stellt das Geschäft der Raquins als ex­em­plar­ischen Ort vor. Das gibt dem Text den Anschein des wis­senschaftlich Objektiven.
  • Zola entwirft ein de­ter­min­is­tis­ches Men­schen­bild. Seine Figuren handeln nicht aus freiem Willen, sondern unter dem Druck un­bee­in­fluss­barer Faktoren. Sie sind Gefangene ihrer Biologie, ihres sozialen Milieus und ihrer konkreten Lebenssi­t­u­a­tion.
  • Immer wieder wird die tierische Natur des Menschen betont. In der Vorrede zur zweiten Auflage schrieb Zola: „Ich habe in diesen Tieren Schritt für Schritt das dumpfe Wirken der Lei­den­schaften, das Drängen des Natur­triebes und die infolge einer Ner­venkri­sis einge­trete­nen Ver­wirrun­gen zu verfolgen versucht. Die Liebe meiner beiden Helden ist Be­friedi­gung eines Bedürfnisses; der Mord, den sie begehen, ist eine Folge ihres Ehebruchs, eine Folge, die sie auf sich nehmen wie die Wölfe den Mord der Hammel (...)“
  • Die Verknüpfung von Körper­lichkeit und Psychologie, die den ganzen Roman prägt, verdichtet sich in der Bisswunde, die Kamill Lorenz zufügt. Die Wunde erinnert Lorenz unablässig an seine Tat und setzt Ängste und Ag­gres­sio­nen frei. Ähnlich wie ein Vampir beraubt Kamill – als bloßes Gespenst – Lorenz seiner Lebenskraft.
  • Thérèse ist eine Gefangene ihrer Lebenslügen. Von Frau Raquin in die Rolle einer Kranken gedrängt, werden ihre natürlichen Triebe unterdrückt und die Heuchelei wird zu ihrer zweiten Natur. In Paris träumt sie vom Ausbruch aus dem muffigen Laden, der falschen Ehe mit Kamill und dem engen Milieu. Der lebenslustige, aber nur auf seinen Vorteil bedachte Lorenz erscheint ihr als geeigneter Gehilfe zur Erfüllung dieses Wunsches. Thérèse hält nun ihr Begehren für die einzige Wahrheit, doch was sie retten sollte – ihre sexuelle Befreiung –, stürzt sie ins Verderben.

His­torischer Hintergrund

Das Großbürgertum wird selb­st­be­wusst

Mitte des 19. Jahrhun­derts stieg die französische Bourgeoisie zur herrschen­den Klasse auf. 1852 putschte sich Napoleon III. an die Macht. Er pflegte eine Mischung aus autoritärer Politik und wirtschaftlichem Laisser-faire: Während Opposition und Presse einer strengen Zensur unterlagen, wurden der Wirtschaft größte Freiheiten eingeräumt. Dieser Wirtschaft­slib­er­al­is­mus verschaffte dem Großbürgertum immense Reichtümer. Napoleon III. unterstützte es massiv durch Kolo­nialkriege und Staats­gelder. Die einen erschlossen neue Rohstoff- und Absatzmärkte, die anderen sorgten für profitable Bauaufträge.

Der wirtschaftliche Fortschritt verschärfte jedoch die sozialen Gegensätze. Die boomende Industrie lockte massenhaft Arbeiter in die Städte und schuf eine verarmte Un­ter­schicht, das Proletariat. Auf die Überhitzung folgten bald schwere Krisen. Der Boom verschlang alles Kapital, plötzlich fehlte Geld, und das System brach zusammen. Die Folgen hatte die Un­ter­schicht zu tragen: Die Ar­beit­slosigkeit stieg und die Löhne wurden gedrückt. Weber, Bergleute oder Drucker or­gan­isierten lokale Streiks, es kam zu Revolten.

Zugleich pochten immer mehr Bürger darauf, die Ideale der Französischen Revolution nach zwis­chen­zeitlicher Unterdrückung endlich durchzuset­zen: Freiheit und Gleichheit für alle. Diese zunehmende Niv­el­lierung schlug sich im philosophis­chen Pos­i­tivis­mus nieder: Jeder Gegenstand, jeder Sachverhalt war es wert, wis­senschaftlich analysiert zu werden. Als Begründer des Pos­i­tivis­mus gilt Auguste Comte. Dessen „physique sociale“ begriff die Gesellschaft als komplexes Zusam­men­spiel von Naturge­set­zen. Hippolyte Taine übertrug diese Weltsicht auf An­thro­polo­gie und Geschichte: Der Mensch galt ihm als unfrei und gesetzmäßig bestimmt: durch die Vererbung, das Milieu und die historische Situation.

Entstehung

Zola begann die Arbeit an Thérèse Raquin im Frühjahr 1867 und schloss sie binnen weniger Monate ab. Zur Handlung regte ihn offenbar ein Roman von Charles Barbara an: L’Assassinat du Pont-Rouge. Zola griff dessen Stoff auf und gab ihm ein neues, nat­u­ral­is­tis­ches Gepräge. Einige Hand­lungse­le­mente gehören un­verkennbar zur Tradition des Schauer­ro­mans und der Schwarzen Romantik, ins­beson­dere die Wiederkehr der Leiche und das nächtliche Grauen.

Als Journalist machte sich Zola auch mit den zeitgenössischen wis­senschaftlichen Debatten vertraut. In sein Ro­mankonzept flossen Hippolyte Taines de­ter­min­is­tis­che Geschicht­s­the­o­rie und Charles Darwins Evo­lu­tion­slehre ein. Die Brüder Edmond und Jules de Goncourt, nat­u­ral­is­tis­che Schrift­steller der ersten Stunde, regten Zola zum sozialen Realismus an.

Wirkungs­geschichte

Am 24. Dezember 1866 erschien eine Kurzgeschichte mit dem Stoff von Thérèse Raquin in Le Figaro unter dem Titel Un mariage d’amour. L’Artiste druckte den Roman in Fort­set­zun­gen unter dem gleichen Titel im August und September 1867, bevor er am 30. November des Jahres auch als Buch veröffentlicht wurde. Die Kritik schwankte stark in ihrem Urteil. Charles-Au­gustin Sainte-Beuve, der meist­beachtete Kritiker seiner Zeit, nannte den Roman „ein be­merkenswertes Werk, das in der Geschichte des zeitgenössischen Romans Epoche machen wird“. Le Figaro sprach indessen von „jauchiger Literatur“ und beklagte die „Monotonie des Niederen und Gemeinen“. Der Verriss erschien angeblich im Ein­vernehmen mit Zola: Als Werbeleiter des Verlags Hachette wusste er ihn offenbar als Reklame zu schätzen. In einer Fol­geaus­gabe des Figaro erschien dann auch seine Replik, in der er das „Niedere und Gemeine“ als puren Realismus recht­fer­tigte.

Der Roman wurde ein Erfolg und begründete Zolas Ruf als Kopf einer neuen Schule: der des Nat­u­ral­is­mus. 1868 druckte der Verlag bereits die zweite Auflage. Für sie schrieb Zola ein Vorwort, in dem er das Werk gegen seine Kritiker verteidigt. Überdies enthält dieses Vorwort eine erste Theorie des nat­u­ral­is­tis­chen Romans. 1873 arbeite Zola Thérèse Raquin zu einem Drama um.

Heute steht das Werk im Schatten des großen Romanzyklus Die Rougon-Mac­quart, und manche Kritiker sprechen den scharf geze­ich­neten Figuren psy­chol­o­gis­che Plausibilität ab. Gleichwohl wurde der Stoff mehrfach verfilmt, u. a. 1953 von Marcel Carné mit Simone Signoret in der Hauptrolle. In der deutschen Syn­chro­ni­sa­tion erhielt Carnés Film den moral­isieren­den Untertitel „Du sollst nicht ehebrechen“.

Über den Autor

Émile Zola wird am 2. April 1840 in Paris geboren, verbringt seine Kindheit aber in Aix-en-Provence. Dort gehört der spätere Maler Paul Cézanne zu seinen Freunden. Zolas Vater, ein ital­ienisch-öster­re­ichis­cher Ingenieur, stirbt 1847. Die Mutter zieht daraufhin wieder nach Paris, wo sie sich als Putzfrau und Schneiderin durchschlägt. Zola fällt in Paris gleich zweimal durchs Abitur, er arbeitet bei der Zollbehörde als Schreiber, später im Verlag Hachette als Lagerist, dann als Werbeleiter. 1867 gelingt ihm mit seinem Roman Thérèse Raquin der Durchbruch. Im Rahmen des Romanzyklus Les Rougon-Mac­quart (Die Rougon-Mac­quart) schreibt er binnen 24 Jahren 20 Romane. Seine größten Erfolge erzielt er mit L’Assommoir (Der Totschläger, 1877) und La débâcle (Der Zusam­men­bruch, 1892). Nach Germinal (1885) erscheint 1886 L’Œuvre (Das Werk), nach dessen Lektüre Cézanne empört die Fre­und­schaft abbricht, da er sich in dem Text auf un­vorteil­hafte Weise porträtiert sieht. Zola mischt sich auch ins politische Zeit­geschehen ein. Berühmt wird er 1898 für seinen offenen Brief an den Staatspräsidenten Félix Faure mit dem Titel J’accuse („Ich klage an“). Darin bezieht er kritisch Stellung zur Affäre um den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der aufgrund gefälschter Beweise als Hochverräter verurteilt wurde. Der Brief beschert Zola eine einjährige Gefängnisstrafe, der er sich jedoch durch die Flucht nach England entzieht, wo er eine de­prim­ierende Exilzeit verlebt. Am 29. September 1902 stirbt Zola in seiner Pariser Wohnung. Als Todesur­sache gilt eine Rauchvergif­tung. Ob es ein Mord oder ein Unfall gewesen ist, bleibt ungeklärt. 1908 werden Zolas sterbliche Überreste ins Pariser Pantheon überführt.