System der antiphlogistischen Chemie

Buch System der antiphlogistischen Chemie

Paris, 1789
Diese Ausgabe: Deutscher Klassiker Verlag,


Worum es geht

Die Chemie wird neu erfunden

Isaac Newton hatte es in der Physik vorgemacht. 1789, im Jahr der Französischen Revolution, war die Chemie an der Reihe: Antoine Laurent Lavoisier, Jurist, Geschäftsmann und Chemiker, goss ihr ein wis­senschaftliches Fundament. Bis dahin war die Chemie weniger eine sys­tem­a­tis­che Wis­senschaft als vielmehr eine praktische Kunst gewesen, betrieben von Apothekern und Schnaps­bren­nern; das spärliche the­o­retis­che Grundgerüst ging z. T. noch auf Aristoteles zurück. Ja, im Grunde hatte sich noch nicht einmal der Zusam­men­hang von Experiment und Hypothese etabliert: Dass man aus präzise durchgeführten Versuchen Theorien ableiten und deren Gültigkeit durch weitere Versuche überprüfen kann, führte erst Lavoisier vor. Dabei war der studierte Jurist eigentlich kein visionärer Geist. Letztlich waren es eher sein klarer, praktischer Verstand, seine Meis­ter­schaft im Komponieren raf­finierter Ver­such­sanord­nun­gen, seine buch­hal­ter­ische Sorgfalt und nicht zuletzt die enormen fi­nanziellen Mittel, die ihm für seine Arbeiten zur Verfügung standen, denen wir die „chemische Revolution“ verdanken. Mit dem System der an­tiphlo­gis­tis­chen Chemie endete die Epoche der Chemie als hermetische Kunst, und das Zeitalter einer auf math­e­ma­tis­chen Grundlagen beruhenden Wis­senschaft wurde eingeläutet.

Take-aways

  • System der an­tiphlo­gis­tis­chen Chemie, das Hauptwerk von Antoine Laurent Lavoisier, wird als Initialzündung der so genannten chemischen Revolution angesehen.
  • Inhalt: Die chemische Wis­senschaft bedarf eines klaren Systems zur Benennung der Substanzen und muss neue Erken­nt­nisse einbeziehen. Sowohl bei Ver­bren­nungsvorgängen als auch bei der Säurebildung spielt ein luftförmiger Stoff, das „gas oxygène“ (Sauerstoff), eine entschei­dende Rolle. Und bei chemischen Reaktionen bleibt die Gesamtmasse der beteiligten Substanzen grundsätzlich gleich.
  • Mit seinem Werk widerlegte Lavoisier die Theorie, dass die hy­po­thetis­che Substanz Phlogiston bei allen Ver­bren­nungsvorgängen mitwirkt.
  • Die Lehre von den Ag­gre­gatzuständen geht auf Lavoisiers Erkenntnis zurück, dass jeder Stoff in festem, flüssigem oder gasförmigem Zustand existieren kann.
  • Mit buch­hal­ter­ischer Sorgfalt hielt Lavoisier Menge, Gewicht und Volumen der in seinen Ex­per­i­menten verwendeten Stoffe vor und nach der Reaktion fest.
  • Die erneuerte chemische Nomenklatur nach Lavoisier hat in den Grundzügen bis heute Gültigkeit.
  • Viele von Lavoisiers Apparaturen waren so teuer, dass sich lange niemand fand, der genügend Geld aufbringen konnte, um die Experimente zu wiederholen.
  • Neben seiner wis­senschaftlichen Tätigkeit verdiente Lavoisier als Steuerpächter der Regierung geradezu königlich.
  • Seine Nähe zur Monarchie kostete Lavoisier jedoch schließlich den Kopf: Am 8. Mai 1794 wurde er auf der Guillotine hin­gerichtet.
  • Zitat: „(…) denn nichts wird weder in den Operationen der Kunst noch in jenen der Natur erschaffen, und man kann als Grundsatz annehmen, dass in jeder Operation eine gleiche Menge Stoff vor und nach derselben da sei (…)“
 

Zusammenfassung

Zurück zu den Tatsachen

Wie schon der Philosoph Condillac erkannte: Die Wis­senschaft des ausgehenden 18. Jahrhun­derts bedarf dringend einer Reform. Zu sehr hat sie sich im Lauf ihrer Geschichte von den Tatsachen entfernt, zu sehr sich in the­o­retis­che Speku­la­tio­nen verrannt, statt ihre Erken­nt­nisse in aller Naivität durch die Beobachtung sinnlich erfahrbarer Phänomene zu gewinnen. Nach Condillac muss alle Wis­senschaft von den Tatsachen zu den Vorstel­lun­gen und von dort zum sprach­lichen Ausdruck vo­ran­schre­iten. Wird diese Methode eingehalten, lässt sich der Gegenstand einer Wis­senschaft so eindeutig abbilden, dass die Sprache selbst zum Erken­nt­nisin­stru­ment werden kann. Gerade hierin aber, in der Sprache, liegen die Un­vol­lkom­men­heiten der gegenwärtigen Chemie begründet: Es gibt kein System zur Benennung der bekannten chemischen Substanzen, diese tragen meist willkürlich klingende, schwer einprägsame Namen, die den Nichteingewei­hten zu falschen Schlüssen bezüglich der Natur dieser Stoffe verleiten: Weinsteinöl, Ar­senikbut­ter, Zinkblumen – das klingt nicht nach ver­standes­geleit­eter Wis­senschaft, sondern nach geheimnistuerischer Alchemie. Deshalb muss eine Wende eingeleitet werden, in Richtung Klarheit, Nachvol­lziehbarkeit und Einfachheit. Eine moderne chemische Wis­senschaft muss auf drei Eckpfeilern ruhen: Experiment, Beobachtung und un­mit­tel­bares Schließen. Außerdem ist eine neuartige, sys­tem­a­tis­che Be­nen­nungsmeth­ode (Nomenklatur) vonnöten, sodass Sprache und Gegenstand einander eindeutig entsprechen und ein nahezu naiver Zugang zur Chemie ermöglicht wird.

Die Ag­gre­gatzustände

Es ist eine bekannte Tatsache, dass ein Körper sich bei Erwärmung ausdehnt. Schuld daran ist der so genannte Wärmestoff, eine durchaus materielle, jedoch gewicht­slose, unsichtbare und äußerst feine Substanz, die in die Körper eindringt und die Teilchen, aus denen diese Körper bestehen, buchstäblich au­seinan­dertreibt. Dabei überträgt sich die außeror­dentliche Feinheit und Elastizität des Wärmestoffs auf den Körper, während dieser im Verlauf der Erwärmung an Festigkeit verliert. Schließlich kann der Körper so elastisch werden, dass er seinen Zustand radikal ändert: Er wird flüssig. So wird z. B. Eis durch Erwärmen zu Wasser. Wird noch mehr Wärmestoff zugeführt, d. h. wird die Erwärmung fortgesetzt, findet eine weitere Verwandlung statt und der flüssige Körper geht in den luftförmigen Zustand über. Auch dieses Phänomen ist am Beispiel des Wassers beobachtbar. Im Grunde gilt für jeden möglichen Stoff, dass er, je nach Sättigung mit Wärmestoff, fest, flüssig oder luftförmig sein kann.

„Es ist ein aus­gemachter Grundsatz (...), dass wir, um uns zu belehren, nur von dem Bekannten zum Unbekannten fortschre­iten können.“ (S. 14)

Auch der atmosphärische Druck spielt eine Rolle: Flüssigkeiten können nämlich nur deswegen als solche existieren, weil der Druck der Erdatmosphäre dem Druck des einströmenden Wärmestoffs ent­ge­gen­wirkt. Ohne den atmosphärischen Druck würde ein erwärmter Stoff direkt vom festen in den luftförmigen Zustand übergehen. Dies lässt sich beobachten, wenn man ein randvoll mit flüssigem Äther gefülltes und mit einer Membran ver­schlossenes Gefäß bei Zim­mertem­per­atur in eine luftleere Glocke bringt und die Membran mit einem spitzen Werkzeug durchstößt. Der Äther beginnt an der Aus­trittsstelle sofort zu kochen und geht in den luftförmigen Zustand über. Dieser Zustand soll nun gasförmig genannt werden. Ein Gas ist ein Gemisch aus einer wägbaren Grund­sub­stanz und einer aus­re­ichen­den Menge nicht wägbaren Wärmestoffs. Es muss etliche solcher Gase geben, ja, die Erdatmosphäre ist vermutlich ein Gemisch aus all jenen Stoffen, die bei den bestehenden Druck- und Tem­per­aturverhältnissen nicht fest oder flüssig bleiben können.

Vermessung der Luft

Auch die Substanz, die von der Chemie bisher schlicht „Luft“ genannt wurde, besteht in Wirk­lichkeit aus ver­schiede­nen Gasen. Folgendes Experiment belegt diese These: Über zwölf Tage wird bei mäßiger Temperatur Quecksilber in einem Gefäß erhitzt, dessen gewundener Hals sich unter einer abgeschlosse­nen, mit atmosphärischer Luft gefüllten Glasglocke öffnet. Dabei bildet sich auf dem Metall ein rötlicher Belag. Messungen ergeben, dass sich die Menge der Luft in der Glasglocke um ein Sechstel verringert hat. Untersucht man diesen Luftrest, stößt man auf eine be­merkenswerte Eigenschaft: Weder für die Atmung noch für Ver­bren­nungsvorgänge scheint diese Art von Luft geeignet; kleine Tiere sterben darin, Kerzen erlöschen, als würde man sie in Wasser tauchen.

„Verbinden wir (...) mit dem Ausdruck Element oder Grundstoff der Körper den Begriff des höchsten Ziels, das die Analyse erreicht, so sind alle Substanzen, die wir noch durch keinen Weg haben zerlegen können, für uns Elemente (...)“ (S. 19)

Im nächsten Schritt wird der rote Belag isoliert und bei hoher Temperatur erhitzt; diesmal jedoch ist die Glasglocke, in die das Ver­bren­nungs­gefäß mündet, nicht mit Luft, sondern mit Wasser gefüllt. Durch das Erhitzen verwandelt sich die rötliche Substanz, die als Queck­sil­berkalk bekannt ist, wieder in met­allis­ches Quecksilber. Hierbei wird ein luftförmiger Stoff frei, der das Wasser unter der Glasglocke teilweise verdrängt. Es erweist sich, dass sich diese zweite Luftart vorzüglich für die Atmung eignet und dass sie zudem in hohem Maß Ver­bren­nungsvorgänge anregt.

Die neue Substanz

Diese zweite Luftart soll respirable Luft oder Lebensluft heißen. Die Vermutung liegt nahe, dass beide Luftarten zusammen jenen Stoff ergeben, der gemeinhin als „Luft“ bekannt ist. Durch das beschriebene Experiment wurde folglich die Luft in ihre beiden Be­standteile zerlegt. Da während aller Experimente akribisch über Masse bzw. Volumen der beteiligten Substanzen Buch geführt wurde, lässt sich sogar das Mis­chungsverhältnis angeben: Luft besteht demnach zu 27 % aus dem atembaren und zu 73 % aus dem nicht atembaren Bestandteil. Vermutlich hat sich also bei der Verwandlung von met­allis­chem Quecksilber in rötlichen Queck­sil­berkalk der atembare Bestandteil der Luft mit dem Quecksilber verbunden. Es sind zwei Tatsachen, die diese Vermutung stützen: Zum einen hat sich die Menge der Luft unter der abgeschlosse­nen Glasglocke während des Vorgangs verringert, zum anderen ist der Queck­sil­berkalk schwerer als die Aus­gangssub­stanz, das metallische Quecksilber. Außerdem scheint der Queck­sil­berkalk bei seiner Erhitzung die aufgenommene atembare Luft wieder abgegeben zu haben, denn aus 45 Gran der rötlichen Substanz gehen nur 41,5 Gran met­allis­chen Queck­sil­bers hervor. Ähnliches kann man bei der Verkalkung bzw. Verbrennung anderer Substanzen wie Eisen oder Phosphor beobachten. Folgende These lässt sich aufstellen: Verbrennung bedeutet allgemein, dass eine Substanz sich unter Abgabe von Wärme- und Lichtstoff mit dem atembaren Bestandteil der Luft verbindet.

Das Prinzip der Säurebildung

Im Fall des Phosphors kommt eine weitere, höchst in­ter­es­sante Tatsache hinzu: Das Endprodukt der Verbrennung ist nämlich Phosphorsäure, und zwar in Form eines weißen, flockigen und sehr lockeren Stoffs, der sich zudem äußerst bere­itwillig in Wasser löst. Ebenso lässt sich durch die Verbrennung von Schwefel Schwefelsäure und durch die Verbrennung von Kohle luftförmige Kohlensäure gewinnen. Folglich kann man der Lebensluft säurezeugende Eigen­schaften zuzus­prechen. Fortan soll sie deshalb säure­zeu­gen­des Gas („gas oxygène“) heißen; die Verwandlung einer „säurefähigen“ Substanz durch Verbrennung, also durch Verbindung mit Lebensluft, heißt entsprechend Säurebildung („oxygénation“). Was das Wesen des säure­zeu­gen­den Gases angeht, liegt die Vermutung nahe, dass dieses die gasförmige, d. h. mit Wärmestoff gesättigte Form einer eigentlich festen Grund­sub­stanz ist.

Die Nomenklatur

In Ex­per­i­menten zur Aufspaltung von Wasser wurde eine weitere Luftart gefunden, die nach demselben Muster mit den Namen wasserzeu­gen­des Gas („gas hydrogène“) bezeichnet werden soll, da sie in Verbindung mit Lebensluft eben Wasser ergibt. Diese zweiteilige Art der Benennung ist Methode: Der erste Teil des Namens legt die Klasse fest, zu der ein Stoff gehört (z. B. „Gas“), der zweite bezeichnet die speziellen Eigen­schaften des Stoffs im Vergleich zu anderen Substanzen derselben Klasse (z. B. „säurebildend“). In ve­r­all­ge­mein­erter Form baut die gesamte reformierte Nomenklatur auf diesem Prinzip auf. Der Vorteil liegt auf der Hand, denn jetzt ist der Name einer jeden Substanz logisch nachvol­lziehbar.

„Was die Körper betrifft, welche durch die Verbindung mehrerer einfacher Substanzen entstehen, so haben wir diese mit zusam­menge­set­zten Namen belegt (...)“ (S. 20)

Die neue Nomenklatur beginnt mit der Auflistung aller einfachen Substanzen, also derjenigen, die nach dem Stand der Forschung nicht weiter zerlegbar sind. Unter den einfachen Substanzen finden sich die bekannten Metalle, wie Kupfer und Magnesium, außerdem nicht­met­allis­che, aber säurefähige Stoffe, wie Schwefel und Phosphor, und nicht zuletzt die neu entdeckten Luftarten. Auch Wärme- und Lichtstoff finden vorläufig ihren Platz bei den einfachen Substanzen, obwohl sie im Verdacht stehen, nur hy­po­thetis­cher Natur zu sein.

„In ein El­e­men­tar­w­erk gehört weder die Geschichte der Wis­senschaft noch die Geschichte des men­schlichen Geistes; nur Klarheit und Deut­lichkeit muss man darin suchen und daher alles entfernen, was die Aufmerk­samkeit stören kann.“ (S. 24)

Im nächsten Schritt werden die zweifachen Verbindun­gen der oxy­genisier­baren Substanzen mit dem säure­zeu­gen­den Stoff nach dem jeweiligen Grad ihrer Oxy­genisierung aufgelistet. So heißen die Verbindun­gen des Schwefels mit säure­zeu­gen­dem Stoff oxydierter Schwefel (erste Stufe der Oxy­genisierung), un­vol­lkommene Schwefelsäure (zweite Stufe), vollkommene Schwefelsäure (dritte Stufe) und oxy­genisierte Schwefelsäure (vierte Stufe). In gleicher Weise wird mit den so genannten Neu­tral­salzen verfahren, die jeweils durch die Verbindung einer Säure mit einer der drei bekannten Alkalien, einer der vier Erden oder einer der 17 met­allis­chen Substanzen entstehen. Auch hier un­ter­schei­det die Nomenklatur ver­schiedene Grade der Sättigung: Ein Salz der un­vol­lkomme­nen Schwefelsäure heißt z. B. un­vol­lkom­men schwe­fel­saures Salz („sulfite“), eines der vol­lkomme­nen Schwefelsäure vollkommen schwe­fel­saures Salz („sulfate“).

„Ein Gleiches kann man von allen Körpern der Natur sagen; sie sind entweder fest oder flüssig, oder luftförmig (...)“ (S. 30)

Die neue Nomenklatur ist also ganz und gar sys­tem­a­tisch, d. h. sie erfasst nicht nur bekannte Substanzen, sondern gibt auch an, wie Stoffe zu benennen sind, die bisher noch gar nicht entdeckt, jedoch durch einfaches Zusam­menset­zen der Na­mens­bausteine sozusagen theoretisch erzeugbar sind. Durch diese Kom­bi­na­torik vervielfacht sich nun auf einen Schlag die Zahl der Substanzen, mit denen es die Chemie zu tun hat. Es ergeben sich z. B. 1152 reale oder mögliche Neu­tral­salze.

Der Chemiker als Bi­lanzbuch­hal­ter

Ein in­ter­es­santes Feld der Chemie ist die Gärung organischer Materie. So können z. B. bei der Mostvergärung, wobei in Wasser gelöster Zucker durch Zugabe von Hefe zu Kohlensäure und Alkohol vergoren wird, sämtliche Mengen der beteiligten Substanzen vor und nach der Reaktion sowie deren genaue Zusam­menset­zung aus einfachen Substanzen kat­a­l­o­gisiert werden. Für den Zucker etwa lassen sich folgende Anteile errechnen: acht Teile Wasserstoff, 64 Teile säure­zeu­gen­der Stoff, 28 Teile Kohlenstoff. Aus der Hypothese, dass bei einer chemischen Reaktion grundsätzlich die Gesamtmasse der beteiligten Substanzen gleich bleibt, dass also Materie weder erzeugt noch vernichtet wird, folgt, dass sich im Prinzip jedes chemische Experiment als al­ge­brais­che Gleichung darstellen lässt. Wie ein Math­e­matiker kann der Chemiker mittels geeigneter Experimente seine Gleichungen in Richtung einer Unbekannten auflösen, d. h. von der bekannten Masse der einen auf die unbekannte Masse einer anderen Substanz schließen.

Instrumente und Methoden

Die moderne chemische Wis­senschaft erfordert ein großes In­stru­men­tar­ium und ein breites Spektrum von Ver­such­stech­niken. Eine wichtige Rolle spielt der von Lavoisier erfundene Gasometer. Mithilfe dieser Apparatur (grob gesagt eine riesige Waage, mit einer in ein Wasser­becken getauchten Mess­ing­glocke auf der einen Seite und einer Waagschale mit Gewichten auf der anderen) lassen sich nicht nur die für Experimente verwendeten Gase nach Volumen, Masse, Druck und Dichte bestimmen, sondern es wird auch ein gleichmäßiger und kon­trol­lierter Zustrom der Gase gewährleistet.

„Die Chemie gibt uns überhaupt zwei Mittel an die Hand, die Natur der Be­standteile eines Körpers zu bestimmen, nämlich die Zusam­menset­zung und die Zerlegung.“ (S. 50)

Auch das Eiskalorime­ter ist zu erwähnen, eine kugelförmige Hohlkammer, in die ein auf seinen Wärmestof­fge­halt zu un­ter­suchen­der Gegenstand eingebracht wird. Die Hülle der Kammer ist mit Eis gefüllt. An der Menge des Eises, die der Gegenstand zu schmelzen imstande ist, lässt sich ablesen, wie viel Wärmestoff dieser enthalten hat.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Text der vor­liegen­den deutschen Übersetzung (einer Auswahl aus dem Gesamtwerk) besteht aus drei Teilen, wobei der erste all diejenigen Theorien und Ver­such­sauf­bauten enthält, denen Lavoisier seine Berühmtheit verdankt: die Theorien der Gase, der Verbrennung und der Säure­erzeu­gung und die dazugehörigen Versuche, die Experimente zur Gärung sowie der Satz der Massen­er­hal­tung. Hier wird auch bereits die neue chemische Nomenklatur anhand einer Abhandlung über die Bildung der Neu­tral­salze eingeführt. Der zweite Teil besteht im Wesentlichen aus Tabellen. Indem Lavoisier die neue Nomenklatur anwendet, gibt er eine Übersicht über die so genannten „einfachen Substanzen“ und ihre man­nig­falti­gen Verbindun­gen. Im dritten Teil erhält man einen Überblick über die Instrumente und Verfahren, derer sich Lavoisier bei seinen Versuchen bedient hat. Das Werk als Ganzes ist im Stil eines Lehrbuchs verfasst; es ist in schlichter, allgemein verständlicher Sprache verfasst und der Autor legt seine Erken­nt­nisse im Gestus äußerster Beschei­den­heit dar; sein Ton ist der eines gewis­senhaften Ex­per­i­men­ta­tors, der weder seinen Beobach­tun­gen noch seinen Schlüssen je vollständig vertraut. Das System ist aber trotzdem mehr als nur ein Lehrbuch, mehr als ein Versuch, Al­t­bekan­ntes zusam­men­z­u­fassen: Es ist vor allem ein Manifest für eine neue Art von Wis­senschaft und ein Vehikel für die überzeugende Darlegung der neuen Erken­nt­nisse.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Lavoisier galt lange als Vater der modernen Chemie. Diesem Bild wider­sprechen zwar einige neuere Erken­nt­nisse, dennoch steht fest: Die Entdeckung des Sauerstoffs („säure­zeu­gen­des Gas“) und seiner Rolle bei der Verbrennung und Säurebildung sowie der Massen­er­hal­tungssatz und die reformierte Nomenklatur sind Meilen­steine auf dem langen Weg von der Alchimie zur modernen Wis­senschafts­diszi­plin.
  • Lavoisiers erneuerte chemische Nomenklatur, die in ihren Grundzügen übrigens bis heute Gültigkeit besitzt, atmet den Geist der Aufklärung: In ihr tritt an die Stelle der überkommenen, oft schwer verständlichen und mystischen Namen ein logisch nachvol­lziehbares Be­nen­nungssys­tem. Mit dem Licht der Vernunft wird der alchimistis­che Hokuspokus des vor­wis­senschaftlichen Zeitalters entzaubert.
  • Der Einführung der Bi­lanzmeth­ode und der sys­tem­a­tis­chen Präzi­sion­s­mes­sung in die Chemie verdankt Lavoisiers System seine wohl größte Wirkmacht. Lavoisier, als Geschäftsmann und Jurist mit den Vorteilen exakter Buchführung vertraut, wusste, dass die sorgfältige quan­ti­ta­tive Erfassung der an einer Reaktion beteiligten Substanzen der Schlüssel zur Einsicht in die zugrunde liegenden chemischen Prozesse war.
  • Lavoisiers Ox­i­da­tion­s­the­o­rie löste die ältere Phlo­gis­ton­the­o­rie ab (als Phlogiston wurde eine hy­po­thetis­che Substanz bezeichnet, der man eine wichtige Rolle bei Ver­bren­nungsvorgängen zusprach). Allerdings haben beide Theorien Schwächen: Wie Phlogiston kann auch Lavoisiers „säure­zeu­gen­der Stoff“ nicht in Reinform nachgewiesen werden. Und ebenso ist Lavoisiers „Wärmestoff“ weniger eine reale Substanz als vielmehr das verd­inglichte Prinzip des Warmseins bzw. der Brennbarkeit an sich. Auch sind beide als gewichtslos gedacht. Immerhin lässt sich der „Wärmestoff“ (mittels eines Eiskalorime­ters) messen.

His­torischer Hintergrund

Das Zeitalter der Umstürze

Als Lavoisiers System der an­tiphlo­gis­tis­chen Chemie 1789 erschien, lag wahrlich Revolution in der Luft. Unaufhalt­same, radikale Veränderungen gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Natur waren angestoßen worden. Am morschen Gebälk der ab­so­lutis­tis­chen Monarchien nagte der Wurm der Ver­schwen­dungssucht und des aris­tokratis­chen Größenwahns. Frankreich unter Ludwig XVI. stand vor dem Staats­bankrott; die Privilegien des Adels und der Prunk des königlichen Hofes ver­schlangen as­tronomis­che Summen; Bauern, Arbeiter und ein er­stark­endes Bürgertum waren nicht länger bereit, unter der Knute des Adels und der Kirche zu stehen. Das 18. Jahrhundert war die Epoche der Aufklärung, des Strebens der Menschheit nach vollständiger Freiheit. „Sapere aude!“, ermunterte Immanuel Kant die Menschen, „Wage zu wissen! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Denis Diderot und Jean-Bap­tiste d’Alembert gaben ihre Enzyklopädie heraus, die Brüder Montgolfier stiegen mit ihrem Heißluftballon in den Himmel, Adam Smith legte den the­o­retis­chen Grundstein für den Siegeszug der freien Mark­twirtschaft, und James Watts Dampf­mas­chine läutete die In­dus­tri­al­isierung ein.

Entstehung

In seinem System entwarf Lavoisier ein Al­ter­na­tiv­mod­ell zur bis dahin vorherrschen­den Phlo­gis­ton­the­o­rie. Diese entstammte einer noch vor­wis­senschaftlichen Denkweise; ihr Schöpfer, der deutsche Alchimist Johann Joachim Becher, behauptete, die Ursache der Brennbarkeit bestimmter Substanzen sei das so genannte Phlogiston (mehr ein mystisches Prinzip als ein realer Stoff), das diesen Stoffen innewohne und durch Verbrennung aus­getrieben werde. Lavoisier hatte schon früh den Plan gefasst, diese Ansicht zu widerlegen. 1773 schrieb er in sein Tagebuch: „Die Wichtigkeit des Gegenstands hat mich ermuntert, die ganze Arbeit wieder aufzunehmen, die mir dazu geschaffen schien, eine Revolution der Physik und der Chemie ins Werk zu setzen.“

1774 wiederholte und variierte er einen Versuch des Engländers Joseph Priestley, der durch Erhitzung von rotem Queck­sil­beroxid met­allis­ches Quecksilber sowie eine „Luftart“ mit ver­bren­nungsfördernden Eigen­schaften erhalten hatte. Im Gegensatz zu Priestley, der diese Substanz für „de­phlo­gis­tisierte Luft“ hielt, in­ter­pretierte Lavoisier die Ver­such­sergeb­nisse ohne Zuhil­fe­nahme der Phlo­gis­ton­the­o­rie. Er gelangte zu der Hypothese, bei jener Luftart müsse es sich um einen sub­stanziellen Bestandteil der Luft handeln, der sowohl bei Ver­bren­nungsvorgängen als auch bei der Säurebildung eine zentrale Rolle spiele, weshalb er ihn „säure­zeu­gen­den Stoff“ nannte. So ließ sich auch erklären, dass rotes Queck­sil­beroxid schwerer war als met­allis­ches Quecksilber: In ihm hatte sich der „säurezeugende Stoff“ mit dem reinen Metall verbunden.

In immer ausgeklügelteren Ex­per­i­menten versuchte Lavoisier, der Wis­senschafts­ge­meinde die Hinfälligkeit der Phlo­gis­ton­the­o­rie zu demon­stri­eren, was ihm schließlich auch gelang. Inzwischen hatten ihn seine Forschungen zu dem Schluss geführt, dass die gesamte Chemie, ins­beson­dere deren Nomenklatur, einer grundsätzlichen Erneuerung bedurfte. Gemeinsam mit Kollegen arbeitete er eine solche erneuerte Nomenklatur aus und präsentierte sie schließlich in seinem Hauptwerk System der an­tiphlo­gis­tis­chen Chemie. Die Il­lus­tra­tio­nen darin stammen übrigens aus der Feder von Lavoisiers Frau.

Wirkungs­geschichte

Als das System 1789 erschien, hatte es seine Wirkungs­geschichte im Grunde schon hinter sich. Das Werk fasste gewissermaßen noch einmal zusammen, wovon die wis­senschaftliche Öffentlichkeit, zumal in Frankreich, längst überzeugt war.

Doch während man sich dort bereits an den praktischen Folgen der Lavoisier’schen Theorien erfreute (u. a. Fortschritte auf dem Gebiet der Ballonfahrt und bei der Schießpul­ver­her­stel­lung), wurde in Deutschland, wo erst 1792 eine Übersetzung erschien, noch heftig diskutiert. Das hatte ver­schiedene Gründe: Zum einen drama­tisierte der deutsche Titel System der an­tiphlo­gis­tis­chen Chemie (der Orig­inalti­tel lautete etwas neutraler Traité élémentaire de chimie) den bei Lavoisier letztlich zur Nebensache verkommenen Gegensatz der Theorien. Und die deutsche Wis­senschaft wollte die gute, alte Phlo­gis­ton­lehre, die immerhin von einem Deutschen stammte, nicht so leicht zugunsten der Speku­la­tio­nen eines Franzosen aufgeben. Hinzu kam, dass die entschei­den­den Experimente, da extrem kostenaufwändig, kaum zu wiederholen waren. Welcher deutsche Wis­senschaftler verfügte schon über die fabelhaften Mittel eines königlichen Steuerpächters!

Doch nach und nach wurden auch die Deutschen von der Richtigkeit der Lavoisier’schen Hypothesen überzeugt und übernahmen die neue Nomenklatur. Im Großen und Ganzen verlief die „chemische Revolution“ also recht un­rev­o­lu­tionär.

Über den Autor

Antoine Laurent Lavoisier, geboren am 26. August 1743 in Paris, beginnt seine akademische Karriere als Jurist. Erst später wagt er es, sich gegen den Willen des Vaters seinen eigentlichen Interessen zuzuwenden: der Mineralogie und der Chemie. Dennoch schließt er das Jurastudium an der Universität von Paris ab. 1766 empfiehlt sich Lavoisier durch seinen Erfolg bei einem Wettbewerb zur Verbesserung der Straßen­beleuch­tung für die Aufnahme in die Akademie der Wis­senschaften. Kurz darauf kann er sich mit dem Eintritt in die „Ferme générale“, einer Pri­vat­ge­sellschaft zur Eintreibung von Steuern, sowie durch die Heirat mit der 13-jährigen Marie-Anne Pierette Paulze, der Tochter eines Kompagnons, aller fi­nanziellen Sorgen entheben. Als frischge­back­enes Mitglied der Königlichen Pul­verkom­mis­sion richtet sich Lavoisier im Pariser Arsenal das wohl luxuriöseste Labor der damaligen Zeit ein. Hier widmet er sich seinen Ex­per­i­menten zu Verbrennung, Gärung und Atmung. Nebenbei findet er noch genügend Zeit für gemeinnützige Aufgaben. Seine Forschungen zur Gewinnung von Salpeter tragen zur Verbesserung der Schießpul­ver­pro­duk­tion bei; außerdem beteiligt sich Lavoisier an der Ausar­beitung des metrischen Systems. Als die Französische Revolution ausbricht, wird er für einen Vasallen des Ancien Régime gehalten und zum Tod durch die Guillotine verurteilt. Das Urteil wird am 8. Mai 1794 vollstreckt. Angeblich beendet Lavoisier, durch und durch Natur­wis­senschaftler, sein Leben mit einem Experiment: Er nimmt sich vor, nach der Enthauptung so oft wie möglich mit den Augen zu blinzeln, um die Frage zu klären, wie lange es dauert, bis der Tod eintritt. Der ital­ienis­che Astronom und Math­e­matiker Joseph-Louis de Lagrange kommentiert: „Es dauert nur Sekunden, um einen Kopf abzuhacken, aber Hunderte Jahre dürften keinen Ähnlichen her­vor­brin­gen können wie diesen Lavoisier.“