Paradoxien der Organisation
Moderne Unternehmen zeichnen sich durch eine radikale Marktausrichtung aus. Sie folgen der postmodernen Entwicklung von "innen" nach "aussen", nicht der traditionellen, hierarchiebasierten Ausrichtung von "oben" nach "unten". Es geht nicht mehr länger darum, die Organisation selbst zu reorganisieren. Stattdessen besteht die Herausforderung darin, die Unternehmensumwelt durch diverse Organisationsstrategien in den Griff zu bekommen. Als Resultat entwickeln sich zunehmend virtuelle Unternehmen mit häufig wechselnden Netzwerkpartnern.
„Bald wird jedes Unternehmen in zwei Welten konkurrieren müssen: der physischen Welt von Ressourcen, die sich sinnlich wahrnehmen lassen, und einer aus Information bestehenden virtuellen Welt.“
Die alten Paradoxien der Organisation stossen in der internetgeprägten, digitalen Ökonomie an ihre Grenzen: Zum einen scheint eine zunehmende Zentralisierung zur besseren Steuerung der hohen Umweltkomplexität geboten. Andererseits scheint nur eine radikale Dezentralisierung die notwendige Selbstorganisation der marktnahen Unternehmensaktivitäten zu ermöglichen. Gleichzeitig wird der Wettbewerb härter und erfordert ein ausgeprägtes Konkurrenzbewusstsein. Diese Notwendigkeit kollidiert mit der Realität, dass viele neue Märkte nur durch entsprechend ausgefeilte strategische Kooperationen erobert werden können. Die Kontrolle der Kosten wird allmählich zur unternehmerischen Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig kann die Fixierung auf die Kosten zur Falle werden, weil sie notwendige kreative Diversifikationen verhindert. Statt um das einseitige Anstreben von Kostenführerschaft oder Differenzierung geht es mittlerweile darum, erfolgreiche "hybride Wettbewerbsstrategien" zu entwickeln. Als Entscheidungsträger werden Sie sich in Zukunft verstärkt mit dieser Herausforderung auseinander setzen müssen.
„Marken sind die virtuellen Identitätsmaschinen! Marken, nicht mehr Organisationen produzieren das kaufentscheidende Vertrauen.“
Damit aber nicht genug: Im Zeitalter der Virtualisierung wird die Routinisierung der organisationellen Wandlungsfähigkeit als erfolgsentscheidender Stabilisationsfaktor zum Kernparadoxon. Erforderlich wird die "Sowohl-als-auch-Organisation". Die Organisationsformen müssen frei in den unterschiedlichen Paradoxien oszillieren können. Sie müssen sozusagen "oszillodox" werden. In vielen Fällen wird diese Fähigkeit für die Überlebensfähigkeit der Organisation entscheidend sein.
„Der Kunde in/von Virtuellen Unternehmen ist Kunde, mitarbeitender Produzent und Zulieferer von Informationen, Wünschen und Ideen.“
Wichtig sind dabei fünf Transformationsprozesse: die Transformation des Produktmixes, der Märkte, der Standorte, der Produktionsprozesse und der Industriestruktur. Diese Transformationen zeigen die Stossrichtung zukünftiger Bemühungen auf: Es geht darum, die Aspekte Kundennutzen, Wissen, Zeit, Kosten und Flexibilität neu und effektiv auszurichten. Diese Neuorientierung erfordert eine Umstellung von der traditionell hierarchischen Baumstruktur zu einer "Pizzaorganisation": "Alles durcheinander, bunt und ordentlich scharf gewürzt". Es geht nicht mehr um einfache Organisationslösungen, sondern um effektive Organisationsformen. Kernpunkt der organisationellen Umstellung ist dabei die "Kommunikation": In virtuellen Unternehmen wird die Fähigkeit, auf allen Ebenen erfolgreich zu kommunizieren, zum entscheidenden Erfolgsfaktor.
Begriff, Merkmale und Modell der Virtualisierung
Die virtuelle Unternehmung ist ein Ideal, ein Programm, das in seiner Vollendung nur angestrebt werden kann. Es wird Ihnen wohl nie gelingen, das perfekte virtuelle Unternehmen zu schaffen. Sie können allerdings in der Entwicklung eines virtuellen Unternehmens immer perfekter werden. Für die praktische Arbeit reduziert sich das Konzept dabei auf unterschiedliche Virtualisierungsstrategien. Die innerbetriebliche Virtualisierung erfolgt hauptsächlich durch eine radikale Prozessorientierung, die innerhalb der Organisation in fliessenden Projekten und offenen Hierarchien ihren Ausdruck findet. Ausserbetriebliche Virtualisierung konzentriert sich meistens um ein Kernunternehmen, das ein entsprechendes Netzwerk an Zulieferern und Partnern steuert. Die Wertschöpfungskette wird dabei auf die wesentlichen Kernkompetenzen reduziert. Die Netzwerkpartner handhaben die Aspekte, die sie besser als alle anderen handhaben können. Die Belegschaft reduziert sich auf wenige Mitarbeiter mit den entsprechenden Kernkompetenzen. Gelegentlich erforderliche Spezialisten werden zusätzlich als Freelancer eingesetzt. Ein wesentliches Merkmal von extraorganisationalen Virtualisierungsstrategien ist das Bewusstsein, dass die Zusammenarbeit nur zeitlich begrenzt erfolgen kann. Kontinuität entsteht durch eine entsprechende Neukombination mit alten Partnern, nachdem virtuelle Unternehmungen, von Anfang an als zeitlich begrenzt geplant, enden und neue Unternehmungen nahtlos daran anschliessen. Letzendlich geht es dabei immer darum, temporäre Kundenbedürfnisse möglichst optimal zu befriedigen.
Managament in, von und mit virtuellen Unternehmen
In virtuellen Unternehmen muss das Mangament das spielerische Element erneut entdecken. Es geht nicht mehr ums Gewinnen mit aller Macht. Vielmehr zählt die Entwicklung von Strategien, durch die alle Beteiligten zu Siegern werden. Statt der bisherigen Fokussierung auf Hierarchien rücken dabei die Netzwerke in den Mittelpunkt der Managementaktivität. Damit übernehmen die dezentralen Ordnungen, die von gleichberechtigten Nachbarn gesteuert werden, die Kontrolle über die unternehmerische Zukunft. Dabei geht es um das (Selbst-)Management von Nachbarn und Kooperationspartnern in einer zunehmend komplexer werdenden Wirtschaftswelt. Das Management der vielfältigen Paradoxien der virtuellen Unternehmung wird dabei zur grössten Herausforderung. Denn die Probleme haben sich durch die Virtualisierung nicht etwa verflüchtigt. Ganz im Gegenteil: Im Zeichen der virtuellen Netzwerke kommen auf das Management völlig neue Herausforderungen zu. Plötzlich sind Sie als Manager nicht mehr der allmächtige Bote der hierarchischen Ordnung. Stattdessen werden Sie
- zum Star (Sie sind der Netzwerkteilnehmer mit den meisten Kontakten innerhalb des Netzwerkes),
- zur Brücke (Sie verbinden mehrere Netzwerkcluster und nehmen gleichzeitig auch aktiv an diesen teil),
- zum Gatekeeper (Sie haben die exklusive Brückenfunktion zwischen einzelnen Clustern oder zwischen dem Netzwerk und seiner Umwelt inne).
„In einer Virtuellen Unternehmung wird der Handel zu einer Fabrik vor Ort. Die Prozesse mit der höchsten Komplexität werden so nah wie möglich an den Kunden verlagert.“
Manager werden dabei zu Spinnern - in dem Sinn, dass Netzwerke wie Spinnennetze funktionieren: Alle Teile sind miteinander verwoben und dienen einem gemeinsamen Ziel. Und derjenige, der dem Netzwerk am meisten dient, ist damit auch gleichzeitig sein wichtigster Repräsentant und der beste Manager. Dort wo die entsprechenden Beziehungen zur entscheidenden Netzwerkressource werden, wird der Aufbau des entsprechenden Beziehungsnetzwerks zur entscheidenden Managementaufgabe. Hier liegt Ihre Chance als Manager: Schaffen Sie die Voraussetzungen für tragfähige Beziehungen, wo immer sich Ihnen die Möglichkeit bietet. Managen Sie v. a. Beziehungen und ermutigen Sie Ihre Mitarbeiter, es Ihnen gleichzutun.
Arbeiten in virtuellen Teams und Unternehmen
Unsere traditionellen Ansichten über Arbeit müssen überdacht werden. Paradoxerweise geht uns nicht die Arbeit aus. Im Gegenteil: Es wird zunehmend schwieriger, die wirklich qualifizierten Arbeitsplätze zu füllen. Der Schwerpunkt der Arbeitsmöglichkeiten verschiebt sich: Es geht immer weniger um die Erledigung von Routinearbeiten. Stattdessen rückt der Symbolanalytiker in den Mittelpunkt des Arbeitsprozesses. Er ist der Spezialist für die Erarbeitung der Kommunikationsleistungen auf allen unternehmerischen und gesellschaftlichen Ebenen. In einer Zeit, in der Konsumprodukte und Dienstleistungen fast ausschliesslich nach ihrem Kommunikationswert, nach ihrem Potenzial zur Sinngebung beurteilt werden, kommt ihm eine entscheidende Schlüsselrolle im Arbeitsprozess zu.
„Während Kultur das Management-Thema der 80er Jahre war und irgendwie immer noch bleibt, wird Vertrauen zum Mega-Thema des neuen Jahrhunderts.“
Wenn Sie Ihre Fähigkeiten systematisch und effektiv weiterentwickeln, steigern Sie damit Ihre Attraktivität als Teampartner in virtuellen Teams. Entsprechend werden Sie auch in Zukunft Ihre lukrativen Aufträge erhalten. Die Fähigkeit zur selbstständigen Weiterbildung und -entwicklung wird damit zum entscheidenden persönlichen Wettbewerbsvorteil.
„Wir sehen uns daher auch vielmehr in einer Kommunikationsgesellschaft als in einer Informationsgesellschaft. Konsumprodukte und Dienstleistungen werden fast ausschliesslich von ihrer Kommunikationsleistung bestimmt.“
Die Zukunft der Arbeit gehört v. a. den virtuellen Teams, deren Mitglieder zeitlich und räumlich voneinander getrennt, doch gemeinsam an den jeweiligen Projekten arbeiten. Die virtuelle Unternehmung muss aber auch Raum lassen für Individualisten, die ihre Talente und Fähigkeiten besser als Individuen entfalten können. Als Manager müssen Sie damit nicht nur Ihren eigenen Berufsweg zunehmend selbstständig managen. Sie müssen auch möglichst optimale Arbeitsmöglichkeiten für die Teams und die genialen Individualisten in Ihrem eigenen Verantwortungsbereich schaffen.
Verkaufen im Zeitalter der Virtualisierung
Die Wirtschaftswelt wird zunehmend multidimensional. Vom Tante-Emma-Laden über die internationalen Kaufhausketten bis hin zum globalen Internet erstreckt sich mittlerweile die kommerzielle Vielfalt. Der Marketplace wird zum Marketspace, einer neuen Wirtschaftswelt, in der sich reale und virtuelle Märkte in einer komplexen Vernetzung darbieten. Die Internetwirtschaft, die digitale Ökonomie, ermöglicht virtuelle Substitutionsprodukte (wie etwa die elektronische Zeitung, die in ihrem Nutzwert zur Konkurrenz der Papierversion wird). In der Internetökonomie fallen die Vermittler zunehmend weg. Der Vertrieb erfolgt direkt von der virtuellen Unternehmung zum Kunden. Der Wettbewerbsvorteil liegt dabei zunehmend nicht mehr beim Produkt, sondern bei der Kommunikation über das Produkt. Der Kunde erwartet ein intensives Erlebnis beim Konsum von Produkten und Dienstleistungen. Er kauft Erlebnisse und Erfahrungen und nicht mehr nur reine Produkte.
„Während die Beschäftigung von Ihrem Arbeitgeber abhängt, sind Sie für Ihre Beschäftigungsfähigkeit selbst zuständig. Wenn Sie Karriere machen wollen, gehen Sie zu Unternehmen, die Ihnen eine Sicherung bzw. Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit verschaffen.“
Aus dieser Einsicht leitet sich die von den US-amerikanischen Marketinggurus B. Joseph Pine II und James H. Gilmore propagierte "Experience Economy" ab. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit der Kunden auf sich zu ziehen, wird in der digitalen Ökonomie zum entscheidenden Erfolgsfaktor. Marken (egal ob sie für Produkte oder virtuelle Unternehmen eingesetzt werden) werden zu den entscheidenden Identifikationsträgern für die Kunden. Sie bieten zumindest die Illusion von Kontinuität in einer Umwelt, in der Unternehmen schon bei ihrer Gründung zum geplanten Auslaufmodell werden, weil sie nur kurzfristige Kundenwünsche befriedigen sollen. Ein entscheidender Einfluss kommt dabei virtuellen Kommunen zu. Sie sind der meist über das Internet ermöglichte Zusammenschluss von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu einzigartigen Interessengemeinschaften. Mit ihrer kollektiven Kaufkraft und der Macht, Aufmerksamkeit auf bestimmte Unternehmen, Marken, Produkte und Dienstleistungen zu fokussieren, werden sie zunehmend zum Anstoss, eine Geschäftsidee in Form eines virtuellen Unternehmens umzusetzen.
Gesellschaftliche und persönliche Auswirkungen der Virtualisierung
Die Märkte werden im Zeichen der Virtualisierung zunehmend partiell. Gleichzeitig entwickelt sich neben der Konkurrenz zwischen den Unternehmen auch eine Konkurrenz der Märkte untereinander. Das Internet ermöglicht es auch relativ kleinen Unternehmen, alternative, digitale Märkte aufzubauen und zu kontrollieren und damit in Konkurrenz zu grossen, traditionellen Märkten zu treten.
„Die Virtualisierung von Unternehmen hat bei vielen Strategien eine Virtualisierung von Märkten und Produkten zur Konsequenz.“
Die Vitualisierung führt langfristig zu einer Auflösung traditioneller Gesellschaftsstrukturen. Gleichzeitig wird Ihr beruflicher Erfolg zunehmend von der Einbindung in tragfähige Netzwerke abhängen, was langfristig zu neuen sozialen Beziehungen führen wird. Von Freelancerbörsen bis hin zu Seniorennetzwerken steigt die gesellschaftliche Tendenz zur Selbstorganisation.
Prof. Dr. Peter Littmann sorgte als Vorstandsvorsitzender bei Hugo Boss für frischen Wind und erhebliche Gewinnsteigerungen. Von 1997 bis 1999 war er Vorstandsvorsitzender der Wünsche AG. Stephan A. Jansen ist seit 1998 Gründer und Leiter des Institute for Mergers & Acquisitions (IMA) der Universität Witten/Herdecke. Er ist in der Beratung aktiv und Autor u. a. des Buches Mergers & Acquisitions - Unternehmensakquisitionen und -kooperationen.