Irre

Buch Irre

Frankfurt am Main, 1983
Diese Ausgabe: Suhrkamp,


Worum es geht

Einfach irre

Irre ist wie ein Horrortrip ohne Ende: So muss es sich anfühlen, wenn einem das eigene Leben entgleist und es im Nirgendwo ver­schwindet. Für die Menschen in dem Roman ist der Zug abgefahren, egal ob sie zu denen gehören, die in der Klinik festsitzen, oder zu den Ärzten, die so tun, als könnten sie etwas gegen den Irrsinn unternehmen. Alles scheiße, findet der Protagonist, ein Alter Ego des Autors, schmeißt seinen Arztkittel hin und macht kaputt, was ihn kaputt macht. Rainald Goetz verabreicht dem Leser die nackte Wahrheit, und die ist ebenso un­ap­peti­tlich wie die Arbeit der Pfleger im Buch, die den Kot der Patienten von den Kranken­hauswänden kratzen; wohl auch, weil er uns mit seinem irren Sprachrhyth­mus in die Köpfe der Wahnsin­ni­gen hineinzwingt. Wie gelähmt schaut man aus deren sedierten Gemütern auf die Welt und sieht einen Zug nach dem anderen vorbeirasen. Während Goetz 1983 an den Kla­gen­furter Lit­er­aturta­gen aus dem Buch vorlas, ritzte er sich mit einer Rasierklinge die Stirn auf und ließ sein Blut übers Manuskript laufen. Ein medialer Stunt des angehenden Poplit­er­aten, oder die konsequente Umsetzung seines radikalen Lit­er­aturverständnisses? Man muss Irre gelesen haben, um diesen Akt als rationale Selb­stver­let­zung in einer verrückten Welt zu verstehen.

Take-aways

  • Irre ist Rainald Goetz’ Debütroman über den Wahnsinn in der Psychiatrie.
  • Inhalt: Der junge Nervenarzt Raspe fällt nach seinen ersten Praxistagen vom Glauben an eine menschenwürdige Psychiatrie ab: Der Wahnsinn krallt sich an Patienten und Ärzten gleichermaßen fest. Raspe flüchtet in die Drogen- und Punkkultur, verlässt die Klinik und schreibt sich seinen Hass auf die etablierte Kulturszene von der Seele.
  • Der Autor war 1980 ein Jahr als Arzt in einer Ner­ven­klinik tätig und ve­r­ar­beit­ete seine Erfahrungen in dem Roman.
  • Vor der Veröffentlichung 1983 schnitt er sich vor laufenden Kameras mit einer Rasierklinge in die Stirn.
  • Autor und Buch po­lar­isierten und wurden zum Lit­er­a­tur­ereig­nis des Jahres.
  • Goetz wollte mit radikaler Authentizität die „Wirk­lichkeit der Wirk­lichkeit“ ans Licht bringen.
  • Er forderte eine ehrliche Au­seinan­der­set­zung mit der Psychiatrie. Die den Wahnsinn verklärende An­tipsy­chi­a­trie lehnte er ab.
  • Die Kritik über sein Buch war gespalten und reichte vom Vorwurf der Ef­fek­thascherei bis zu Ehrfurchts­bekun­dun­gen.
  • Goetz gilt als einer der ersten Vertreter deutscher Poplit­er­atur, die das Ziel hat, den Zeitgeist abzubilden.
  • Zitat: „Raspe schlug seinen Kopf an der Schreibtis­chkante auf. Da fiel ein Gehirn heraus. Es tropfte auf die Seiten eines Buchs.“
 

Zusammenfassung

Irre Momente

Herr Stelzer sitzt auf der Bettkante und reißt sich die Daumennägel ab, sodass es blutet. Raspe erscheint auf einer Faschingsparty, den Körper mit Schnit­twun­den bedeckt. Die Gäste lachen und halten es für eine Verkleidung. Bis er sich mit der Rasierklinge in den Arm schneidet. Walther Zarges liegt seit seiner Entlassung vor drei Wochen willenlos im Bett. In seinem Kopf rechnet es. Pausenlos. Eine Jour­nal­istin beklagt in einem Fernsehstre­it­ge­spräch, dass erst die Gesellschaft die psychisch Kranken irre mache. Ein Professor wider­spricht: Man wisse nicht, warum Menschen den Weg der Psychose gingen.

„Die alltägliche Ächtung der psychischen Abweichung ist das eigentliche Problem. Warum wird ein Schiz­o­phrener von seinem Ar­beit­splatz verjagt? Warum darf eine alte Frau nicht betend und singend durch die U-Bahnhöfe ziehen, wenn ihr danach ist?“ (Jour­nal­istin, S. 54)

Eine Pflegerin verliebt sich in einen Heroinsüchtigen, der freiwillig zum Entzug in die Klinik gekommen ist. Nach wenigen Tagen haut er ab. Goetz leidet unter einer Schwellung an seinem Hals, von der alle behaupten, sie sei gar nicht da. Er hat irgendwann aufgehört, zur Schule zu gehen, und sich in seinem Zimmer eingeschlossen, um pausenlos zu onanieren. Jetzt sitzt er in der Klinik fest, und kein Arzt spricht mit ihm. Wie soll er hier je wieder her­auskom­men? Eine junge Ärztin hadert mit ihrer Arbeit. Hat man sie nicht längst zur Pil­len­ver­schreiberin degradiert? Für Gespräche, die eigentliche psy­chi­a­trische Arbeit, bleibt keine Zeit.

„Und ich muss mit meiner Frau schlafen, bis wieder alles zusam­men­bricht, den Ekel nieder­hal­ten vor dieser schwarzen, stinkenden, blutigen, alles ver­schlin­gen­den Fotze.“ (ein Patient, S. 102)

Ein älterer Patient grübelt über seine Schuld. Er hat sich von dem schönen Jüngling an den Schwanz fassen lassen. Wie oft hat er den Ärzten schon gesagt, er sei nicht geistes-, sondern sexualkrank? Aber die Sexualität existiert nicht hinter diesen Mauern. Eine Patientin zieht es während ihres Ausgangs zu den Bahngleisen. Züge donnern vorbei. Dann wird es dunkel.

Der Schock der Psychiatrie

Im Frühsommer betritt Raspe zum ersten Mal voller Tatendrang die Klinik. Am meisten erschreckt ihn die Stille. Die Patienten, mit Medika­menten ruhiggestellt, schlurfen wie in Zeitlupe durch die Gänge. Die Ärzte trinken Kaffee im Arztzimmer, abgeschirmt von den Patienten durch eine gepolsterte Doppeltür. Die Pfleger dagegen sind den gele­gentlichen Wutausbrüchen der Kranken schutzlos aus­geliefert. Raspes erster Patient ist Herr Grahl. Er hält sich für eine Lesbierin, hat seine Frau verge­waltigt und gedroht, seinen Sohn umzubringen. Im Moment ist er wie erstarrt und reagiert auf niemanden. Raspe fühlt sich allein­ge­lassen, hilflos. Darauf hat ihn kein Lehrbuch vorbereitet.

„Worte Worte, Kotz, Geschwätz, verständnisvolle Worte Psychiatrie Kotzkotz die Chefhirn­wixer, aber nix kapiert, nur Geschwätz kotzkotz.“ (S. 103)

In der Mor­genkon­ferenz werden die neu ein­geliefer­ten Fälle kurz vorgestellt. Da ist ein 18-jähriger Gymnasiast, der sich eine Schwellung am Hals einbildet und kurz vor der Ein­liefer­ung seine Mutter mit einem Messer bedroht hat. Die Diagnose: Er­st­man­i­fes­ta­tion einer Schiz­o­phre­nie. Oder der 16-jährige Wörmann, ein Au­to­mechaniker­lehrling und Dro­genkon­sument, der behauptet, er sei Neptun und müsse zum Fischen in den Englischen Garten. Nach der Konferenz wird Raspe Zeuge, wie ein Sta­tion­sarzt eine Ärztin zusam­men­staucht, weil sie in der Nacht eine Alko­ho­lik­erin aufgenommen hat. Solche „abgefuckten“ Leute würden nicht hierhin gehören, blafft er. Da sei keine Forschung möglich, das verursache nur eine Mordsarbeit. Abends geht Raspe mit seinem Kumpel Peter ins „Damage“, einen ver­wahrlosten Punkschup­pen. Überall abgerissene Lederjacken, enge, zu kurze Hosen, aggressives Gerempel. Und er mittendrin, angezogen wie ein Spießer, ein Außerirdischer.

Hoff­nungslose Fälle

Die erste Grup­pen­vis­ite. Die Irren sitzen im Kreis, jeder gefangen in seiner eigenen Welt. Raspes Kollege Bögl gibt sich wenig Mühe, zu ihnen durchzu­drin­gen. Es will die Pflichtvis­ite schnell abhaken. Die Pfleger haben vor Kurzem die Regel eingeführt, dass die Patienten während der Mahlzeiten bis zum Ende sitzen bleiben müssen, damit sie zu mehr Kontakten angeregt werden. Als ein Pri­vat­pa­tient aber eine Aus­nah­meregelung für sich verlangt, gewährt Bögl sie ihm. Am Ende gehen Raspe und Bögl noch bei Herrn Stelzer vorbei. Als Vor­bere­itung auf den Elek­troschock sind bei ihm alle Medikamente abgesetzt worden. Er sitzt da und reißt sich die Daumennägel blutig. Selbst Bögl ist erschüttert. Ob das Schocken bei ihm helfen werde, will Raspe wissen. Sein Kollege glaubt nicht daran. Eine schwere endogene Depression und Hos­pi­tal­isierungsschäden – aus­sicht­s­los.

„Meine Seele ist eine Wunde, nichts sonst, und man sperrt mich unter Irre.“ (eine Patientin, S. 113)

Raspe trifft sich mit Wolfgang, einem alten Schulfreund und Marxisten. Die Psychiatrie sei reaktionär, poltert dieser, sie helfe den Kap­i­tal­is­ten beim Sys­te­mer­halt. Raspe vermisst den Menschen, das Leiden der Kranken in der revolutionären Rede, er ist jedoch zu erschöpft, es ihm zu sagen. Er möchte lieber Wolfgangs wunderschöne Lippen berühren. Aber dessen Freundin sitzt stumm und eifersüchtig daneben.

„Medikamente, das ist gut! Da kriegst einen Krampf, da kannst nimmer normal gehen, da kannst ja nicht einmal mehr schlucken, da läuft dir ja die Soße aus dem Mund.“ (Wörmann, S. 190)

Bögl erzählt Raspe von seiner Lithi­um­studie. Er forscht seit Jahren auf diesem Gebiet. Im Gegensatz zum Klinikall­tag verschafft ihm diese Arbeit Be­friedi­gung und gibt ihm das Gefühl zu helfen. Er ermuntert Raspe, sich auch ein Forschungs­ge­biet zu suchen. Das werde sogar erwartet. Ohne Wis­senschaft könne er seine Karriere vergessen.

„Zu herrschen war eine merkwürdige Lust, und Raspe hatte, ohne recht zu wissen, wie, schon davon geschmeckt.“ (S. 196)

Raspe begleitet den Pfleger Wettinger mit einigen Patienten in den Garten. Patient Wörmann gibt sich kumpelhaft, erzählt von Musik, Discos und Drogen. Raspe fühlt sich Wörmann sehr nah, denn er besucht die gleichen Schuppen wie er. Der Junge beschwert sich über die fürchter­lichen Neben­wirkun­gen der Medikamente und fordert, sofort entlassen zu werden. Aus Raspes Sicht spricht nichts dagegen, ve­r­ant­worten kann er es aber nicht. Wettinger erzählt ihm von seinem Kampf gegen die alte Klinikgarde, von den winzigen Fortschrit­ten, die er erkämpft habe. Resignieren könne schließlich jeder.

Mächtiger Mitläufer

Im Herbst ist Raspe bereits rou­tinierter. Er lernt, die Dinge nicht an sich her­anzu­lassen. Wörmann ist entlassen worden und Stelzer scheint nach den Elek­troschocks geheilt. Raspe spürt, welche Macht er über die Patienten hat – und genießt sie. Manchmal träumt er von einer wis­senschaftlichen Blitzkar­riere. In der Klinik ahnt allerdings niemand, dass er ein Doppelleben führt. Am Wochenende fährt er mit seinen Kumpeln übers Land, tanzt zu Punkkonz­erten ab, raucht und dealt Haschisch und ist regelmäßig sturz­be­trunken. Noch streitet der Idealist in ihm mit dem Zyniker. Aber Letzterer gewinnt fast immer.

„Raspe schlug seinen Kopf an der Schreibtis­chkante auf. Da fiel ein Gehirn heraus. Es tropfte auf die Seiten eines Buchs.“ (S. 200)

Es stinkt nach Scheiße, überall, zum Umkippen. Ein Patient hat Wände, Boden, Tische und sich selbst mit Kot beschmiert. Die Pfleger putzen, voller Wut auf die Ärzte, die wieder mal bei den Medika­menten gespart haben. Der Mann liegt mit masken­haftem Gesicht ans Bett gefesselt. Raspe und Bögl eilen über Schle­ich­wege zur Konferenz, um ja den Scheißgang nicht mehr betreten zu müssen. Anschließend macht Bögl sich über Oberarzt Meien lustig, wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Pf­in­gstkirche auch „Pastor“ genannt. Meien ist ein glühender Verfechter der Elek­trokrampfther­a­pie, die ziemlich aus der Mode gekommen ist. Zwar wird das Schocken in der Klinik noch immer als sinnvoll angesehen, nur will sich niemand außer Meien mehr die Hände damit schmutzig machen. Später flößen Raspe, Bögl und zwei Pfleger dem Kot­pa­tien­ten mit Gewalt Tee ein: Nase zuhalten, schmerzhafter Kiefergriff, auf den Kehlkopf drücken. Rache, Lust an Gewalt oder ther­a­peutis­che Notwendigkeit? Raspe steigt Kotgeruch in die Nase und er spürt nichts als Ekel.

„Der Kotgestank auf Station, und die Pfleger putzen das weg, während wir hier sitzen. Wenn schon Psychiatrie, dann wenigstens Arzt.“ (Raspe, S. 209)

Bögl und Raspe rasen durch die Visite. Der Gymnasiast mit der angeblichen Schwellung ist wieder da. Außerdem Stelzer mit blutigen Dau­menkup­pen; der Erfolg der Schock­ther­a­pie hat nicht lange angehalten. Am Ende kommen sie alle wieder. Später ruft Professor Schlüssler an: Er brauche ein Modell für seine Vorlesung über Depression im In­vo­lu­tion­salter. Raspe willigt ein, Herrn Fottner vor­beizubrin­gen. Schlüssler ist ein verknöcherter Extremist, der die neu­modis­chen men­schlichen Psy­chi­a­trieansätze verachtet. Er zertrümmert gern die Illusionen der Studenten, indem er seine Beispiel­pa­tien­ten demütigt, als seien sie aus­rang­ierte Möbelstücke, und ihnen jede Spur von Gefühl und Verstand abspricht. Als Fottner in den Hörsaal schlurft – eine Elends­gestalt, mehr Pantoffel als Mensch – weiß Raspe, dass er ihn nicht hätte herbringen dürfen. Fottner stottert ein paar Sätze, bevor der Professor mit der verbalen Kreuzigung beginnt: Dieser Typ sei ein Lehrbuch­beispiel des Versagers. Ein Jammer, dass Menschen wie er eine Frührente bekämen und der Gesellschaft auf der Tasche lägen.

Kein Schrecken ohne Ende

Raspe verliert zunehmend die Ori­en­tierung. Er hat Nachtdienst und weiß am frühen Morgen nicht mehr, ob die Ereignisse der vergangenen Stunden tatsächlich geschehen sind. Hat er wirklich einen Aus­bruchsver­such verhindert? Und eine Selbstmörderin, die sich vor den Zug geworfen hat, iden­ti­fiziert? Lagen da blutige, zerfetzte Le­ichen­teile im Schnee? Während der Mor­gen­vis­ite rastet Meien plötzlich aus. Der Grund sind Bilder mit phallischen Symbolen, die ein Patient während der Beschäfti­gungs­ther­a­pie gemalt hat.

„Er steht da, wie der schwer Depressive immer dasteht: Der Kopf hängt. Die Schultern hängen, vorallem hängen die Schultern. Auch die Mimik hängt. Imgrunde hängt der ganze Mensch.“ (Schlüssler über Fottner, S. 235)

Raspes Leben driften auseinander: nach Feierabend Musik, Saufen, Betäubung um jeden Preis. Abends Punk, tagsüber Arzt. In den Mor­gen­stun­den zittern seine Hände. Klinik und Karriere sind ihm gleichgültig geworden. Neue Patienten will er nicht. Bögl redet ihm ins Gewissen, der Direktor zitiert ihn zu sich, doch Raspe geht nicht hin. Dann, an einem schönen Tag im Frühling, fühlt er im Klinikgarten den Rausch der Freiheit. Er zieht seinen Kittel aus und vergräbt das Gesicht im frisch umge­grabenen Rosenbeet. Es ist vorbei.

Mach kaputt, was dich kaputt macht

Raspe liegt lange im Bett. Es stinkt nach Schweiß. In seinem Kopf: Nichts als Pflaumenmus. Irgendwann wagt er sich wieder unter die Punks. Er steht außerhalb, genießt seine Freiheit, den arroganten Blick auf die Szene. Dann füllt er die Leere mit Arbeit, dem Schreiben von Artikeln und diesem Buch. Er hat tonnenweise Munition zu verschießen: gegen Gor­leben-Hip­pies und Tol­er­anz-Stuss, politisch Korrekte und Kul­tur­dep­pen. Außerdem entwirft er einen Film. Die erste Sequenz zeigt ihn selbst in einem schneere­ichen Januar, als gehetzten Paranoiden in einer postapoka­lyp­tis­chen Welt. Unterlegt mit Punkmusik, zu der er Pogo tanzt. Vollkommen sinnfrei, ein Film, der nie gedreht werden wird.

„Ich will nicht werden wie ich bin.“ (Raspe, S. 248)

Kollege Rainald aus der Psychiatrie kommt ihn unangekündigt besuchen, angetrunken und unerwünscht. Er hat drei Jahre zuvor, vier Monate vor Raspe, als er­satz­di­en­stleis­ten­der Arzt in der Klinik angefangen und hat heute jegliche Illusionen verloren. Raspe ist genervt; Rainald hält ihn von der Arbeit ab. Bald bekommt er erste Rückmeldungen zu seiner Schreiberei: „Das ist eine Scheiße, keine Literatur.“ Egal, Hauptsache wahr.

Peinliche Peinsäcke

Eine Hor­ror­vorstel­lung: die Polonaise der „Peinsäcke“, angeführt von Herrn Be, No­bel­preisträger und Ehrenbürger. Dann folgen Herr eL und Herr Ge, Peinsack hinter Peinsack; winkend und sabbernd, mit bedrücktem Blick, ziehen sie über die Fernsehschirme und durch die Zeitungs­feuil­letons. Und dann erst dieser Herr De, Achtern­busch-Rezensent und „Einschlaf-Sätze-Schreiber“. Ab in den Orkus mit ihm. Rein­schla­gen möchte er in dieses todernste Gesicht! Überhaupt haben diese ganzen Kul­turvertei­di­ger nicht begriffen, was Bild und Joyce längst kapiert haben: die „häppchenweise Benützbarkeit“ von Sätzen. Nur so kommt „Space“ heraus, Aufregendes, etwas, was die Sinne reizt.

„Vor der Normalität von einem Psychiater wird jeder normale Mensch, z. B. ich, zu einem Irren.“ (Raspe, S. 265)

Die Pein­lichkeit der hohen Kultur. Früher war er ständig im Theater, heute nie mehr. Wenn Peinsäcke bestimmen wollen, was Kunst ist, kommt nur Schmarren heraus. Das nichtfranzösische Kino dagegen, das Fernsehen, die Popmusik – das alles macht einen Sauspaß.

Der Film, der nie gedreht wurde, geht zu Ende. Dann geht es mit dem Dichter Ee in den Boxring. Ein Kampf gegen VD, das ve­r­ant­wor­tungsvolle Denken. Ee hat ihn einst den Mut zur Ve­r­ant­wor­tungslosigkeit gelehrt. Aber heute, als Mittfünfziger, hat er nicht einmal mehr den Mut zur eigenen Geschichte. Ein Feigling und Un­entschlossener, der immer neu provoziert und sich wundert, dass niemand mehr zuhört.

„Mit aller Kraft muss ich immer wieder den Kopf an die Mauer schlagen, rasend gegen die Mauer rasen, kopferst, bis mir oben nichts mehr hängt als wie in knochen­split­triger blutiger hirnbrauner Baatz.“ (Raspe, S. 371)

Der Schmerz hört nicht auf. Medika­menten­tranige Patienten schlurfen durch sein Gehirn. Er hat keine Lust mehr, Peinsäcke zu vermöbeln. Er ist endlich in New York und fühlt gar nichts. Aber er atmet. Ist das Freiheit?

Zum Text

Aufbau und Stil

Irre besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil, „Sich entfernen“, sprechen ver­schiedene Figuren: Geis­teskranke, Ärzte, Pfleger, Drogenabhängige, Jour­nal­is­ten und eine Selbstmörderin. Im zweiten Teil, „Drinnen“, löst sich das Gewirr nach und nach auf. Die Stimmen erhalten Gesichter und Geschichten, beschrieben aus der Sicht des Psychiaters Raspe. Im Schlussteil, „Die Ordnung“, kann der Leser das Entstehen von Kunst im Hirn des Autors quasi in Echtzeit mitver­fol­gen: Goetz ent- und verwirft Ideen in einem Satz und legt einen fulminanten verbalen Zertrümmerungs­feldzug hin. Die klassische Erzähler­funk­tion wird zer­split­tert: Neben Rainald, Raspe und Goetz ist auch von einem Dichter und einem Ich die Rede. Der Leser kann sich nicht im Sessel zurücklehnen und sich gemütlich mit einer Hauptfigur iden­ti­fizieren, sondern wird in eine komplett irre Sprachwelt hineinge­zo­gen und mürbe geschleud­ert: Sinnfreie Kif­fer­dialoge mischen sich mit hochspeziellen medi­zinis­chen Ab­hand­lun­gen und ordinär-bay­erische Schimpfti­raden mit erken­nt­nis­the­o­retis­chen Streitgesprächen. Mit Wortneuschöpfungen wie „Pein­sack­pa­rade“ schafft Goetz Bilder, die haften bleiben, und die Wiedergabe irrer Gedanken­wel­ten gelingt ihm so gut, dass es wehtut.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Irre handelt vom Wahnsinn in der Psychiatrie – dem der Kranken und dem ihrer Ärzte – und der ver­schwim­menden Grenze zwischen Krankheit und Normalität: Ist verrückt, wer mit einer Psychose aus dem unerträglichen Leben flüchtet oder wer sich diesem anpasst?
  • Goetz’ Hass richtet sich gegen die Schulpsy­chi­a­trie ebenso wie gegen die An­tipsy­chi­a­trie, die das Anstaltswe­sen prinzipiell infrage stellte. Während Psychiater oft der Macht verfallen und sie miss­brauchen, sind sie zugleich Opfer, zerrieben zwischen dem Anspruch der Gesellschaft, den Wahnsinn zu beseitigen, und dem der Patienten, sich auf ihre Verrücktheit einzulassen. Dieses Dilemma der Psychiatrie brachte Goetz in einem Spiegel-Artikel auf den Punkt: Der Psychiater „muss in sich Vernunft und Normalität immer wieder neu errichten.“
  • Goetz’ Alter Ego Raspe flieht erst in Drogen und die ver­meintliche Sicherheit der Punkge­meinde, dann in die Kultur. Er sucht nichts als die Wahrheit: „Notwendig ist das einfache Abschreiben der Welt“, lautet seine Devise, ohne hehre Ziele, sorgenvolle Mienen oder den Moralismus der Medien. Stattdessen: radikale Authentizität.
  • Raspe schießt auf alles, was ihn anwidert: die „Peinsäcke“ der Gruppe 47, Schrift­steller Be (Heinrich Böll), eL (Siegfried Lenz) und Ge (Günter Grass) sowie das Idol seiner frühen Jugend Ee (Hans-Magnus En­zens­berger). Für ihn sind sie nichts als „dummkri­tis­che Ve­r­ant­wor­tungsbürger“, die es sich im Kul­turbe­trieb gemütlich ein­gerichtet haben und ihn mit ihren heuch­lerischen Debatten heimsuchen.
  • Goetz war einer der ersten Schrift­steller, der sich von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule abwandte, deren Ziel eine vernünftige Gesellschaft mündiger Menschen war. Er bekennt sich zur Sys­temthe­o­rie von Niklas Luhmann: Sozial­sys­teme entstehen ihm zufolge durch Kom­mu­nika­tion. Jedes Untersystem der Gesellschaft funk­tion­iert autonom und ist von außen kaum steuerbar. Für den Autor bedeutet das: Literatur hat weder einen Sinn noch Ve­r­ant­wor­tung. Sie ist Teil des autonomen Kun­st­sys­tems, und niemand kann ihren Wert besser beurteilen als der Leser.

His­torischer Hintergrund

Poplit­er­atur made in Germany

Die Beat­gen­er­a­tion im Amerika der 1950er Jahre machte es vor: Schrift­steller wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg erhoben die Subkultur zur Literatur, schrieben über Musik, Dro­genexzesse und einsame Rebellen inmitten einer gle­ich­macherischen Leitkultur. In die deutsche Lit­er­aturszene hielten die Poplit­er­aten 1968, auf dem Höhepunkt der Stu­den­te­nun­ruhen, Einzug. Anstatt wie die Vertreter der Gruppe 47 um die Tabus herumzuschle­ichen, wie der Vorwurf lautete, sollte Literatur „auf Wörter oder Sätze so lange drauf­schla­gen, bis das in ihnen eingekapselte Leben (...) neu daraus aufspringt in Bildern, Vorstel­lun­gen“, schrieb der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann im Jahr 1969. Kultur ist demnach, was gefällt – vor allem Popmusik, Film, Fernsehen und Comics –, und Unkultur moralinsäuerliche Gesin­nungslit­er­atur, die dem modernen Fortschritts­glauben nachhängt. Poplit­er­aten bilden im Slang der Subkultur den Zeitgeist ab, sie provozieren und inszenieren sich selbst. Ob Sinn oder Unsinn – das soll der Leser selbst entscheiden.

In den 1960er Jahren formierte sich auch die An­tipsy­chi­a­triebe­we­gung. Ihre Vertreter kri­tisierten die Psychiatrie als Mittel der Ausgrenzung von Menschen mit gesellschaftlich unerwünschtem Verhalten. Nicht der angeblich Irre, sondern die Gesellschaft, die ihn irr gemacht habe, müsse sich verändern. Ther­a­piemeth­o­den wie die Elek­trokrampfther­a­pie wurden als Folter und Psy­chophar­maka als chemische Zwangsjacke abgelehnt. Heute gilt die Bewegung in ihrer radikalen Form als gescheitert. Sie hat allerdings dazu beigetragen, die Rechte psychisch Kranker zu stärken.

Entstehung

Goetz kannte das Thema seines Erstlings aus eigener Anschauung: Als angehender Arzt arbeitete er 1980 ein Jahr in einer geschlosse­nen psy­chi­a­trischen Anstalt in München und promovierte 1982 mit einer Arbeit über Hirn­funk­tion­sstörungen. Obwohl er aus einer Ärztefamilie stammte und beste Kar­ri­ereaus­sichten hatte, schmiss er seinen Beruf hin und widmete sich fortan dem Schreiben. Vieles in dem Buch ist au­to­bi­ografisch: die Kliniker­fahrun­gen, der Ausstieg, das Anfreunden mit der Punkszene und die Entfremdung von derselben. Goetz’ Anspruch ist, „die Wirk­lichkeit der Wirk­lichkeit“ radikal ernst zu nehmen: über Drogen nicht nur zu schreiben, sondern sie zu konsumieren, und Blut nicht zu erfinden, sondern es über den Text fließen zu lassen. Beim Wettlesen um den In­ge­borg-Bach­mann-Preis in Klagenfurt im Juni 1983 tat er genau das: Irre war noch nicht veröffentlicht, da gingen in der Lit­er­aturszene Gerüchte um, ein Genie befinde sich unter den Ein­ge­lade­nen. Und tatsächlich erwies Goetz sich als genialer Me­di­en­domp­teur: Vor laufenden Kameras las er: „Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch“, wobei er sich mit einer Rasierklinge in die Stirn ritzte und das Blut über das Manuskript laufen ließ. Im Publikum soll ein Zuschauer umgekippt sein, einige Damen verließen den Saal. Den Preis gewann jemand anders, aber der Hype um Goetz’ Debütroman, der wenige Monate später erscheinen sollte, war perfekt. In einem Zeit-Interview versicherte er 27 Jahre später, dass er den Akt der Selbstverstümmelung nie bereut habe. Im Gegenteil: Beim Gedanken daran verspüre er Freude.

Wirkungs­geschichte

Das Ju­rymit­glied Gert Ueding tadelte den Rasierklin­gen­schnitt seinerzeit als „Zer­schla­gung um des Zer­schla­gens willen“, während viele Zuschauer ap­plaudierten. Auch das Feuilleton war gespalten: Kritiker lobten oder verdammten das Werbetalent des Autors, sie feierten ihn als Märtyrer oder bezichtigten ihn der lit­er­arischen Brand­s­tiftung. Als Irre drei Monate später erschien, schwankten sie zwischen Ablehnung, Gräuel und Ehrfurcht. Einige waren angeblich so sprachlos vor Bewunderung, dass sie keine Besprechung zustande brachten. Der Spiegel bezeichnete es als „erschütterndes und in seiner selb­st­mitlei­d­losen Uner­bit­tlichkeit furchter­re­gen­des Buch“, bemängelte aber das Folgenlose seiner hem­mungslosen Wut. 2000 wurde das Werk in Hannover als Theaterstück uraufgeführt.

Heute gilt der Autor als „einer der letzten wilden Denker“. In seiner Wahlheimat­stadt Berlin ist er berühmt-berüchtigt dafür, mit Kamera und Notizblock auf Pressekon­feren­zen, Partys und Empfängen umherzuschle­ichen. Wen hat er diesmal auf dem Kieker? Und wen wird er als Nächstes mit ironiefreier Häme überziehen? Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, das weitgehend auf in­tellek­tuelle In­sid­erkreise beschränkt bleibt. Anders als Lit­er­atur­pop­stars wie etwa der Franzose Michel Houellebecq ist Goetz selbst kaum noch Gegenstand massen­medi­aler Aufmerk­samkeit. Vielmehr hat er es sich zur Aufgabe gemacht, den Me­di­en­be­trieb selbst zu sezieren und ihn geneigten Lesern zum Fraß vorzuwerfen.

Über den Autor

Rainald Goetz wird am 24. Mai 1954 als Sohn eines Chirurgen und einer Fotografin in München geboren. Er studiert Geschichte, The­ater­wis­senschaft und Medizin in München und in Paris. Ab 1976 schreibt er für die Süddeutsche Zeitung, darunter die Ar­tikelserie Aus dem Tagebuch eines Medi­zin­stu­den­ten. 1980 leistet er sein praktisches Jahr in einer Ner­ven­klinik ab, 1982 promoviert er mit einer Arbeit, die bereits deutlich lit­er­arische Züge trägt. Die trau­ma­tis­che Zeit in der Psychiatrie verarbeitet er in seinem Debütroman Irre (1983). Das Werk ist noch nicht veröffentlicht, als er mit seinem Auftritt beim In­ge­borg-Bach­mann-Wet­tbe­werb in Klagenfurt für einen Eklat sorgt: Während er aus dem Manuskript vorliest, ritzt er sich vor laufenden Kameras mit einer Rasierklinge die Stirn auf. Das deutsche Feuilleton ist gespalten zwischen Bewunderung und Abscheu. Der Autor aber geht als Me­di­en­sieger von Klagenfurt in die Geschichte ein. Nach mehreren Erzählungen, Dramen und Artikeln für die Musikzeitschrift Spex erscheint 1988 sein zweiter Roman Kon­trol­liert, eine Au­seinan­der­set­zung mit der RAF und dem Deutschen Herbst. Wenige Jahre später taucht Goetz in die Berliner Technoszene ein. Der Roman Rave, erschienen 1998, handelt vom Leben im Rausch, geschrieben im Stakkato des Techno-Beats. Im selben Jahr wird er eingeladen, die renom­mierten Frankfurter Po­et­ikvor­lesun­gen zu halten. Er verfasst eines der ersten prominenten In­ter­net­tagebücher, das 1999 unter dem Titel Abfall für alle als Buch erscheint. Sein Bericht Loslabern (2009), ein Sittenbild über den Krisen­herbst 2008, und das Bild­tage­buch Elfter September 2010 (2010) sind frag­men­tarische Abrech­nun­gen mit den ersten Jahren des neuen Jahrhun­derts. Goetz lebt als freier Schrift­steller in Berlin und hat mehrere Lit­er­atur­preise erhalten.