Maigret und Pietr der Lette

Buch Maigret und Pietr der Lette

Paris, 1931
Diese Ausgabe: Diogenes,


Worum es geht

Geburtsstunde eines legendären Krim­i­nalkom­mis­sars

Mit Maigret und Pietr der Lette veröffentlichte Georges Simenon erstmals einen Roman unter seinem eigenen Namen und zugleich erstmals mit der Figur, die ihn weltberühmt machen sollte: Kommissar Maigret. In seinem ersten Abenteuer versucht Maigret einen Letten zu stellen, der angeblich ein Syn­dikatsver­brecher ist. Der ganze Roman besteht im Grunde aus einer einzigen Verfolgung bzw. Beschattung dieses Mannes. Er entschlüpft Maigret mehrmals und allmählich kommt dem Kommissar der Verdacht, dass der Lette sich mehrerer Identitäten bedient. Fast drei Tage lang ist Maigret bei der Verfolgung im nasskalten November un­un­ter­brochen auf den Beinen, meist mit seiner Melone auf dem Kopf und mit der Pfeife in der Hand. Seine Fälle löst er dank seines großen psy­chol­o­gis­chen Einfühlungsvermögens – so auch diesen. Für Krim­ifre­unde ein absolutes Muss.

Take-aways

  • Maigret und Pietr der Lette markiert den ersten Auftritt von Kommissar Maigret, einer der bekan­ntesten und be­liebtesten De­tek­tiv­fig­uren.
  • Inhalt: Maigret beschattet den in­ter­na­tional gesuchten Syn­dikatsver­brecher Pietr drei Tage lang un­un­ter­brochen. Maigrets Assistent wird ermordet, und er selbst wird angeschossen. Schließlich entlarvt der Kommissar Pietrs Zwill­ings­bruder als Mörder.
  • Maigret wurde die Er­fol­gs­figur des Vielschreibers Simenon: Es gibt insgesamt 75 Romane und 28 Erzählungen mit dem Kommissar.
  • Maigret löst seine Fälle hauptsächlich dank seiner Beobach­tungs­gabe und seines Einfühlungsvermögens, also eher intuitiv als analytisch.
  • Simenon bedient sich eines ger­adlin­i­gen, bewusst einfachen Erzählstils und stellt das Wesentliche stets mit wenigen Strichen plastisch und authentisch dar.
  • Maigret ist ein Idealbild des genießerischen, leicht behäbigen, aber auch gewitzten und leben­sklu­gen Franzosen.
  • Die Gestalt des Maigret hat sich durch zahlreiche Ver­fil­mungen einem in­ter­na­tionalen Publikum eingeprägt.
  • Simenon war der Autor von rund 200 Groschen­ro­ma­nen und ebenso vielen Krim­i­nal­ro­ma­nen sowie nach eigener Aussage der Liebhaber von 10 000 Frauen.
  • Mit seinen Groschen­ro­ma­nen verdiente er ein Vermögen, das ihm ein kom­fort­a­bles Leben mit vielen Reisen ermöglichte.
  • Zitat: „Krim­i­nalkom­mis­sar Maigret von der Ersten Mobilen Ein­satztruppe hob den Kopf; er hatte den Eindruck, dass das Bullern seines Kanonenofens in der Mitte des Büros, dessen dickes schwarzes Rohr an der Zimmerdecke hing, allmählich nachließ.“
 

Zusammenfassung

Mord im Nordexpress

Krim­i­nalkom­mis­sar Maigret vom Polizei­haup­tquartier in Paris erhält per Telegramm Nachrichten über einen verdächtigen Letten namens Pietr. Dieser reist durch Europa und soll bald in Paris eintreffen. Die Ankun­ft­szeit des Nordexpress aus Amsterdam und die exakte Per­so­n­enbeschrei­bung, die etwa eine ungewöhnlich geformte Ohrmuschel erwähnt, liegen Maigret vor. Der große, massige und vierschrötige Kommissar, der sein Büro im uralten Palais de Justice noch mit einem alten Kanonenofen heizt, wirft seinen schweren schwarzen Mantel über, setzt seine Melone auf und begibt sich zum zugigen Gare du Nord. Nicht ohne Schwierigkeiten zündet er seine Pfeife an. Den gesuchten, etwa 32-jährigen, kleinen und schmalen Letten, der mit reichlich Gepäck ankommt, iden­ti­fiziert Maigret zuverlässig anhand der Ohren. Er lässt ihn jedoch passieren, da ihm im gleichen Augenblick ein Mord in einem der Zugabteile gemeldet wird. Maigret begibt sich sofort zum Tatort. Im engen Waschraum ist ein Toter gefunden worden, aus nächster Nähe erschossen. Verblüffend ist, dass die übermittelte Per­so­n­enbeschrei­bung, einschließlich der Angaben über die Ohren, auch auf das Opfer passt.

Das Hotel der Milliardäre

Maigret überlässt die weiteren Un­ter­suchun­gen am Tatort der Staat­san­waltschaft und fährt mit dem Taxi ins Grandhotel Majestic auf den Champs-Elysées, denn von Be­di­en­steten dieses Hotels wurde der Lette am Gare du Nord in Empfang genommen. Maigret verlangt ohne Umschweife das Zimmer des Verdächtigen zu sehen. Es handelt sich um eine luxuriöse Suite. Maigret beobachtet, wie der Lette dort einzieht, und wird seinerseits von diesem bemerkt. Am Abend begibt sich der Lette in einem sehr eleganten Smoking in den Speisesaal. Dort diniert er und plaudert angeregt mit dem amerikanis­chen Milliardärsehepaar Levingston, offenbar guten Bekannten. Währenddessen findet Maigret mithilfe der Karteikarten des Hotels heraus, dass sich der Lette als Oswald Oppenheim, Reeder aus Bremen, eingetragen hat.

„Krim­i­nalkom­mis­sar Maigret von der Ersten Mobilen Ein­satztruppe hob den Kopf; er hatte den Eindruck, dass das Bullern seines Kanonenofens in der Mitte des Büros, dessen dickes schwarzes Rohr an der Zimmerdecke hing, allmählich nachließ.“ (S. 7)

Der Lette wird von den europäischen Polizeien beschattet, weil er als Drahtzieher und Kassierer eines in­ter­na­tionalen, bis nach Amerika reichenden Ver­brech­er­syn­dikats gilt. Dieses er­schwindelt mit Be­trugs­geschäften im großen Stil Gelder, die dann durch In­vesti­tio­nen gewaschen werden. Und Levingston hat erst am Vortag ein französisches Au­to­mo­bil­w­erk saniert und die Ak­tien­mehrheit übernommen. Nach dem Diner spricht Maigret den Amerikaner an und fragt ihn, ob er wisse, mit wem er sich gerade unterhalten habe. Levingston weicht aus und begibt sich zum Fahrstuhl. Kurz darauf sind sowohl der Lette als auch Levingston aus dem Hotel ver­schwun­den. Mrs. Levingston erleidet einen Ner­ven­zusam­men­bruch.

Reise nach Fécamp

Am gleichen Tag hat Maigrets jüngerer Assistent, Inspektor Torrence, die Un­ter­suchun­gen in dem Mordfall begleitet. Am späten Abend referiert er im Jus­tiz­palast die vorläufigen Ergebnisse. Auf einem bei dem Toten gefundenen Sei­den­pa­piertütchen, das einmal ein Passbild enthielt, wird im Polizeila­bor der Abdruck einer Adresse ermittelt: Das Geschäft des Fotografen ist in Fécamp. Maigret weist Torrence an, die Suite des Letten aus dem ihr gegenüberliegen­den Zimmer im Hotel Majestic ständig im Auge zu behalten. Er selbst macht sich, ohne geschlafen zu haben, mit dem Frühzug auf nach Fécamp, einer kleinen Hafenstadt am Ärmelkanal. Anhand der Unterlagen des Fotografen ermittelt Maigret, dass das Foto aus dem Umschlag für eine äußerst hübsche, junge Frau gemacht wurde, die mit ihren Kindern in einer Villa am Ortsrand lebt. Sie ist mit einem aus Norwegen stammenden Mari­ne­of­fizier verheiratet, der oft monatelang abwesend ist. Madame Swaan, so ihr Name, offenbart Maigret bei dessen kurzem Besuch in der Villa, dass ihr Mann während seiner Fahrten vermutlich am Alko­holschmuggel in die Vereinigten Staaten beteiligt ist. Maigret bemerkt, dass Madame Swaans Tochter dem Letten wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

Der betrunkene Russe

Maigret observiert im strömenden Regen die Villa, weil er das Gefühl nicht loswird, dass sich noch jemand darin versteckt hat. Nach einigen Stunden verlässt tatsächlich ein Mann in einem schmutzigen Trenchcoat die Villa. Maigret verfolgt ihn bis in eine der übelsten Hafenkneipen von Fécamp. Dort betrinkt sich der pöbelhafte Mann, gemäß dem Wirt ein Russe, der überdies Ähnlichkeit mit dem Letten hat, binnen kurzer Zeit und setzt sich anschließend in den Zug nach Paris. Maigret folgt ihm.

„Das Majestic verkraftete ihn nicht. Hartnäckig bildete er einen großen, schwarzen un­be­weglichen Fleck in all diesem Goldglanz, unter den Lichtern, im Hin und Her der Abend­klei­der und Pelzmäntel, der parfümierten und rauschenden Gestalten.“ (über Maigret, S. 25)

In Paris ver­schwindet der Mann im Trenchcoat im Hotel Roi de Sicile, einer billigen Absteige im jüdischen Ghet­tovier­tel. Er bewohnt dort als Fedor Jurowitsch zusammen mit seiner Lebensgefährtin Anna Gorskin ein schäbiges Zimmer, wie Maigret umgehend her­aus­findet. Der Kommissar lässt den Hotelein­gang rund um die Uhr überwachen.

Ein Schuss in der Nacht

Im Hotel Majestic erfährt Maigret von Inspektor Torrence, dass Mortimer Levingston seine Frau nach seinem plötzlichen Wieder­auf­tauchen frühmorgens in der Hotelbar aufgelesen hat, dass sie nun nach dem Abendessen zu einer The­ater­premiere gehen werden und dass die Suite des Letten inzwischen nicht betreten wurde. In Frack und Abendkleid besuchen die Levingstons die Theateraufführung, ein gesellschaftliches Ereignis. In der letzten Pause ver­schwindet Levingston plötzlich wieder; Maigret bemerkt das zu spät. Kurz vor Ende der Vorstellung ist der Milliardär jedoch wieder zurück in seiner Loge. Anschließend fahren die Levingstons in die mondäne Tangobar Pickwick’s am Montmartre, wo Mrs. Levingston von einem Eintänzer aufge­fordert wird. Zu später Stunde, beim Verlassen des Lokals, wird auf Maigret geschossen; der Kommissar ist verletzt.

Zwei Tote

Ohne Rücksicht auf seine Schusswunde und obwohl es bereits weit nach Mitternacht ist, fährt Maigret im Taxi ins Majestic. Im Zimmer gegenüber der Suite des Letten findet er seinen Assistenten tot auf. Torrence ist mit einer nahezu geräuschlosen Methode ermordet worden: Man betäubte ihn mit Chloroform und stach ihm eine lange Nadel ins Herz. Während sich Maigret seine Wunde verbindet, erklärt er seinem her­beigeeil­ten Chef die Vorgänge. Nach dem Tod seines Assistenten beginnt Maigret die Sache sehr persönlich zu nehmen. Er will mit dem Letten und seiner Bande, die sich of­fen­sichtlich eines bezahlten Killers bedient hat, abrechnen.

„Wollen Sie die Fotos von der Leiche sehen? (...) Sie sind großartig! Dabei hatten wir in dem Eisen­bah­n­waschraum nicht gerade viel Platz.“ (Labor­mi­tar­beiter, S. 37)

Im Majestic ermittelt Maigret schnell, dass der Mörder ein Aushil­fskell­ner ital­ienis­cher Abstammung war. Der Kommissar lässt sich zurück ins Pickwick’s fahren. Es ist bereits die zweite Nacht ohne Schlaf für ihn. Nach einigen kurzen Befragungen findet Maigret heraus, dass der Eintänzer dem Italiener am früheren Abend eine Information zukommen ließ, die zu dem Schuss auf Maigret führte. Mrs. Levingston hatte sie ihm während des gemeinsamen Tanzes übermittelt. Maigret wird klar, dass Levingston die Anschläge auf Torrence und ihn veranlasst hat. Nachdem er die Identität und den Wohnort des Eintänzers ausfindig gemacht hat, durchsucht er dessen Wohnung. Of­fen­sichtlich ist der Eintänzer heroinabhängig. Ins Polizeipräsidium zurückgekehrt, wird Maigret gegen Ende der Nacht die Nachricht überbracht, dass der Eintänzer in einem Park erstochen wurde – und dass der Lette in seine Suite zurückgekehrt ist.

Katz und Maus

Maigret erfährt am Morgen im Roi de Sicile von Anna Gorskin, dass der Russe Jurowitsch seinen Bewachern in einer Verkleidung entschlüpft ist. Darauf fährt er ins Majestic. Nachdem der Lette aus­geschlafen hat, spaziert er mit der Ungezwun­gen­heit eines reichen Gentleman die Champs-Elysées auf und ab. Maigret gibt sich keinerlei Mühe zu verbergen, dass er ihn beschattet, aber er hat nichts gegen ihn in der Hand. Auch gegen Levingston kann er nichts unternehmen, da dieser wegen seiner her­vor­ra­gen­den Regierungskon­takte sozusagen unter diplo­ma­tis­chem Schutz steht. Abends wird Levingston in der amerikanis­chen Botschaft speisen.

„Maigret brauchte sich dieses Gesicht nicht genau anzusehen. Es war das lebendige Porträt von Pietr dem Letten.“ (über die Tochter von Madame Swaan, S. 47)

Maigret beobachtet den Letten weiterhin genau auf den Spaziergängen. Einmal stehen die beiden nebeneinan­der in einer Bar. Scheinbar zufällig lässt Maigret das Foto von Madame Swaan aus Fécamp auf den Tresen fallen. Der Lette lässt sich kaum etwas anmerken, zerdrückt aber das Glas in seiner Hand. Am Abend setzt sich Maigret im Speisesaal des Hotels zu ihm an den Tisch, anschließend folgt er ihm in ein Kino. Der Lette ignoriert Maigret vollkommen und gibt sich keine Blöße mehr. Schließlich stellt Maigret ihn in seiner Hotelsuite, wo eine Reisetasche aufgetaucht ist, die Anna Gorskin gebracht hat. Der Lette wird jetzt langsam unsicher und versucht sich mit einem Wasserglas voll Whisky zu beruhigen. In diesem Augenblick betritt Levingston, zurück vom Diner zurück, die Suite und prallt beim Anblick des Kommissars und des betrunkenen Letten erschrocken zurück. In seinem eigenen Hotelzimmer wird Levingston unmittelbar darauf von Anna Gorskin erschossen. Maigret kann sie in dem nun ein­set­zen­den Trubel gerade noch rechtzeitig stellen. In der Zwis­chen­zeit ver­schwindet der Lette aus seiner Suite.

Anna Gorskins Ver­gan­gen­heit

Maigret durchsucht das Zimmer von Gorskin und Jurowitsch im Roi de Sicile und findet in der Matratze einige Fotografien. Auf einem sind zwei Jungen zu sehen, Zwillinge. Der eine blickt den anderen bewundernd an. Eine weitere Fotografie zeigt einen jungen Mann als Vorsteher einer Stu­den­ten­verbindung im Kreise seiner durchweg älteren Kom­mili­to­nen. Ferner finden sich Fotos der jüngeren Anna Gorskin und kyrillisch geschriebene Briefe. Maigret lässt sie im Präsidium übersetzen. Sie beziehen sich auf Annas anges­pan­ntes Verhältnis zu ihren Eltern. Im Verhör zeigt sie sich stur. Man kann ihr nichts nachweisen, da es für den Schuss auf Levingston keine Zeugen gibt. Als Maigret zu einem Bluff greift und erwähnt, der Lette habe sich nach Fécamp abgesetzt, bekommt sie einen epilep­tis­chen Anfall. Maigret weiß nun, dass er noch einmal nach Fécamp fahren muss.

Das Geständnis

Die Villa Swaan wird seit Maigrets erstem Besuch abwechselnd von zwei Inspektoren observiert. Maigret erfährt, dass Madame Swaan kurz vor seiner Ankunft das Haus Richtung Hafenmole verlassen hat. Auf dem Weg zur Mole lässt er die bereits zurückkehrende und offenbar sehr verstörte Madame Swaan passieren, ohne sich zu erkennen zu geben. Er geht weiter und stellt nach einer Ver­fol­gungs­jagd und einem Ringkampf in der ein­set­zen­den Flut Fedor Jurowitsch. Beide, der Kommissar und der Russe, sind vollkommen durchnässt. Während sie ihre Kleider im nächst­gele­ge­nen Gasthaus trocknen lassen und Grog trinken, erzählt Fedor seine Geschichte:

„Hier ahnte er etwas anderes. Die friedliche und ordentliche Villa war nicht Bestandteil des Kampfes, in den Pietr, der Lette, verwickelt war.“ (über Maigret, S. 50)

Er ist einer der Zwillinge auf dem Foto, sein richtiger Name ist Hans. Seinen Bruder Pietr hat er stets bewundert und sich als Kind sogar von ihm demütigen lassen. Bei einem an­tikom­mu­nis­tis­chen Aufstand in Lettland wurde Pietr in seiner Stu­den­ten­zeit sogar zu einer Art Na­tion­al­held. Aber er veruntreute Geld aus der Kasse der Stu­den­ten­verbindung und geriet so auf die schiefe Bahn. Scheck- und Urkundenfälschungen fertigte stets mit großem Geschick sein ansonsten lebensuntüchtiger Bruder an. Pietrs Betrügereien nahmen immer größere Ausmaße an. Er tat sich mit in­ter­na­tionalen Banden zusammen, den labilen Bruder verbannte er nach Fécamp. Dort verliebte dieser sich in eine junge Frau, aber sie wurde als Madame Swaan die Frau seines Bruders. Hans alias Fedor, der dem Alkohol und Drogen verfiel, tröstete sich mit Anna Gorskin, die er zufällig kennen lernte und die sich wie eine Mutter um ihn kümmerte. Als Pietr wieder einmal die Fälscherkünste seines Bruders benötigte, beschloss dieser, Pietrs Stelle einzunehmen. Er tötete ihn im Nordexpress und gab sich mithilfe einer Verkleidung als Pietr aus. Levingston kam dahinter, wollte ihn aber zwingen, Pietrs Rolle voll einzunehmen, weil er den Letten als Kontaktmann brauchte. Da Anna fürchtete, Fedor so zu verlieren, erschoss sie Levingston. Der ver­meintliche Russe sah sich nicht imstande, vollends die Rolle seines Bruders einzunehmen, und gedachte, seinem Leben gemeinsam mit seiner Schwägerin, die er immer noch liebt, ein Ende zu setzen, was er bei dem Treffen auf der Mole aber nicht über sich brachte. Nach dem Geständnis erschießt er sich selbst – Maigret lässt es geschehen. Anna Gorskin gibt im Un­ter­suchungs­gefängnis den Aufen­thalt­sort des Mörders von Inspektor Torrence preis, und erst danach begibt sich Maigret in die Obhut der Ärzte, um seine Schusswunde behandeln zu lassen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Maigret und Pietr der Lette setzt sich aus 19 etwa gleich langen Kapiteln zusammen. Die Handlung besteht allein aus Maigrets Handlungen oder Wahrnehmungen, weitere Per­spek­tiven werden nicht einbezogen. Auch auf Rückblenden oder andere Zeitsprünge wird verzichtet. Der Leser weiß nicht mehr als Maigret selbst. Daraus entsteht bei Simenon die Spannung. Der Leser klebt also unmittelbar an Maigrets Fersen, der die meiste Zeit über den Letten beschattet. Die Überlegungen des Kommissars zu manchen Indizien und die Eindrücke, die er von Personen hat, werden knapp mitgeteilt. Innere Monologe führt er nicht. Häufig wird direkte Rede verwendet.

Simenon bedient sich eines bewusst einfachen Stils. De­mentsprechend ist das Vokabular relativ beschränkt und es finden sich keine kompliziert gebauten Sätze. Bezeichnend für seinen Stil ist auch die Verwendung von Ellipsen – von Sätzen, bei denen etwa das Verb weggelassen wird, wodurch sie in der Aus­druck­sweise an Telegramme erinnern. („Ein strenger Geruch nach Dorsch und Hering. Haufen von Fässern. Masten hinter den Lokomotiven.“) Mit diesen einfachen Mitteln erreicht Simenon jedoch viel. Er ist ein Meister der atmosphärischen Schilderung: Mit wenigen Strichen arbeitet er das Charak­ter­is­tis­che eines Orts oder einer Person heraus. Ob im Grandhotel, in der Tangobar, auf einem zugigen Bahnhof oder im nasskalten Fécamp, der Leser hat stets einen lebendigen, au­then­tis­chen Eindruck der Schauplätze und der Menschen, die dort agieren. Simenon kannte oder recher­chierte die Orte seiner Handlungen stets sehr genau.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Kommissar Maigret ist kein In­tellek­tueller, sondern ein bürgerlicher Polizeibeamter und in gewissem Sinn ein Durch­schnitts­men­sch. Dies trug nicht un­wesentlich zum Erfolg der Romane bei.
  • Maigret kommt hauptsächlich durch seine Beobach­tungs­gabe und sein Einfühlungsvermögen, seine Intuition, den Tätern auf die Spur. Das ist das Marken­ze­ichen des Kommissars in allen Maigret-Romanen. Sein intuitives Vorgehen un­ter­schei­det ihn von den meisten Detektiven angelsächsischer Herkunft, etwa Edgar Allan Poes Auguste Dupin oder Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes, die mehr an­a­lytisch-in­tellek­tuell vorgehen.
  • Maigrets Methode der Einfühlung führt sogar aufseiten des Lesers zu einem gewissen Verständnis für den Täter. Der Kommissar ist jedenfalls kein „Law and Order“-Cop, der dem Verbrechen den Kampf angesagt hat oder die Welt im Alleingang vor dem Bösen retten will. Mitunter wird er mit einem Arzt verglichen, der von einem Patienten in Not gerufen wird.
  • Mit Maigret schuf Simenon ein seinerzeit willkommenes Bild der Franzosen: das des un­herois­chen, genuss­freudi­gen Menschen, der mit klarem Verstand das Leben nimmt, wie es ist, und es mit Ironie und vernünftiger Schick­salsergeben­heit in einer möglichst behaglichen Nische meistert.
  • Simenon selbst nannte seine Krim­i­nal­ro­mane „die schlecht­esten der Welt“ – aufgrund ihrer kaum variierten Hand­lungss­chemata und ihres Mangels an Ac­tionele­menten.

His­torischer Hintergrund

Frankreich zwischen den Weltkriegen

Ende des Ersten Weltkriegs sah sich Frankreich als Siegermacht. Das Land hatte den Krieg in der Staatsform der Dritten Republik durchge­s­tanden, die bis 1940 fortbestand. So blieben auch die Strukturen der französischen Vorkriegs­ge­sellschaft im Wesentlichen intakt. Trotz der in Versailles durchge­set­zten üppigen Repa­ra­tionszahlun­gen aus Deutschland, die dort den Aufstieg des Faschismus begünstigten, und trotz der französischen Kolonien schwächelte der Franc immer wieder, hauptsächlich wegen der enormen Kriegss­chulden, die das Land bei den USA hatte. Die späten 1920er Jahre waren – ähnlich wie in Deutschland und anderen Teilen der westlichen Welt – die „années folles“, die verrückten Jahre. Sie fanden im Börsenkrach 1929 und der anschließenden Weltwirtschaft­skrise ihr Ende. Ab Mitte der 20er spielten auch die aufk­om­menden neuen Un­ter­hal­tungsme­dien Kino, Tonfilm, Radio und Comic eine immer größere Rolle.

Daneben ließen die Nöte und die wirtschaftlichen Un­sicher­heiten der Nachkriegszeit ein kriminelles Milieu entstehen, in dem Schieber, Spekulanten, Halb­welt­gestal­ten, Drogenabhängige und haltlose Lebensuntüchtige ihre kläglichen Rollen spielten. Die großen Nachbarländer ringsum, Deutschland, Spanien und Italien, erlagen in den 1930er Jahren der Faszination des Faschismus. Auch das im Grunde kon­ser­v­a­tive Frankreich radikalisierte sich. Eine Volks­fron­tregierung versuchte zwar einen gewissen sozialen Ausgleich herbeizuführen, dennoch diskutierte man eine Änderung der Verfassung im Sinne einer Präsidi­aldemokratie, wie sie dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Charles de Gaulle ver­wirk­licht wurde. 1938 gaben Frankreich und Großbritannien im Münchner Abkommen ihren Verbündeten Tsche­choslowakei dem Ex­pan­sion­sstreben Nazideutsch­lands preis. Frankreich selbst wurde von Deutschland 1940 ohne nen­nenswerte Gegenwehr besiegt.

Entstehung

Weniger deutlich gezeichnete Versionen der Figur des Kommissar Maigret hatten bereits kleinere Auftritte in frühen Romanen, die Georges Simenon noch unter Pseudonymen veröffentlichte. Aber erst ab Maigret und Pietr der Lette (1931) war der Kommissar mit all seinen typischen Attributen – Pfeife, Melone, schwerer Mantel, massiger Körperbau – als Hauptfigur präsent; zudem veröffentlichte Simenon erstmals unter eigenem Namen. Durch seine Heftchen­ro­mane hatte er sich bereits einen gewissen Wohlstand erarbeitet und fühlte nun die Zeit für ein „ernsteres Genre“ gekommen. Er verfasste den Roman nach eigenem Bekunden, als er mit seinem Boot „Ostrogoth“, das repariert werden musste, in Delfzijl in Holland vor Anker lag.

Nach eigener Aussage fiel ihm eines Mittags, womöglich unter Einfluss von etwas Genever, „an dem großen, typisch holländischen Mitteltisch“ in einer tra­di­tionellen Gaststätte, ein massiger Mann auf, der ihm „den rechten Kommissar abzugeben schien“. Nach dieser Eingebung schrieb Simenon angeblich bis zum Mittag des nächsten Tages das erste Kapitel von Maigret und Pietr der Lette. Der ganze Roman war gemäß Simenon fünf Tage später vollendet. Der Autor schrieb, dafür spricht auch die Masse seiner Werke, stets extrem schnell, wie in einer Art Schaf­fen­srausch.

Wirkungs­geschichte

Nachdem der Verleger Joseph-Arthème Fayard Maigret und Pietr der Lette gelesen hatte, kamen ihm zunächst Zweifel, ob dieser neue Typus von intuitiv arbeitendem Detektiv beim Publikum ankommen würde. Simenon musste erst einige Überzeu­gungsar­beit bei seinem Verleger leisten, doch dann bestellte Fayard bei Simenon weitere Romane, um sie im Monat­srhyth­mus erscheinen zu lassen. Die serienmäßige Veröffentlichung der Maigret-Romane war in Frankreich wie auch in Deutschland ein großer Erfolg.

André Gide schrieb über seinen Au­torkol­le­gen: „Ich halte Simenon für einen großen Romancier, für den größten vielleicht und den au­then­tis­chsten der heutigen französischen Literatur.“ Gabriel García Márquez meinte gar: „Georges Simenon ist der wichtigste Schrift­steller des 20. Jahrhun­derts.“

Zahllose Simenon-Werke, nicht nur die Maigret-Romane, wurden verfilmt. Die größten französischen Regisseure der 50er und 60er Jahre und sehr viele bedeutende Schaus­pieler und Schaus­pielerin­nen haben dabei mitgewirkt: Claude Chabrol, Jean Renoir, Jean Gabin, Jean-Paul Belmondo, Brigitte Bardot, Alain Delon, Philippe Noiret, Simone Signoret, Romy Schneider, Jean-Louis Trintignant und viele andere. In­ter­na­tional wurden die Kommissare u. a. von Charles Laughton und Heinz Rühmann gespielt. Ein in der Tradition Maigrets stehender Ermittler, der ebenfalls überwiegend intuitiv arbeitet, ist die amerikanis­che Fernsehse­rien­figur Inspektor Columbo.

Über den Autor

Georges Simenon wird am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich als Sohn einer bürgerlichen Familie geboren; sein Vater ist Ver­sicherungsangestell­ter. Von Kindes­beinen an ist Simenon Frühaufsteher – ein nicht uner­he­blicher Faktor für die Entstehung der späteren Werkfülle. Er ist ein Musterschüler und beginnt seine berufliche Laufbahn als Reporter; gle­ichzeitig schreibt er Erzählungen. 1920 erscheint sein erster Roman, zwei Jahre später siedelt er nach Paris über, 1923 heiratet er. In Paris arbeitet er zunächst als Pri­vat­sekretär und Reise­be­gleiter, nebenbei schreibt er weiter. 1925 erhält er einen Ver­lagsver­trag für die regelmäßige Lieferung von Groschen­ro­ma­nen. Bis 1933 verfasst er 200 Titel in diesem Genre. Dadurch kann Simenon sich ein bewohnbares Schiff und ausgedehnte Reisen leisten: zunächst in Länder an der Nord- und Ostsee, dann nach Afrika und durchs übrige Europa; 1934 folgt eine Weltreise. 1931 taucht in dem Roman Maigret und Pietr der Lette zum ersten Mal die Figur des Kommissars Maigret auf; 74 weitere Maigret-Romane folgen. Daneben verfasst Simenon auch Romane und Erzählungen ohne den berühmten Kommissar, etwa Les fiançailles de M. Hire (Die Verlobung des Monsieur Hire, 1933), Les fantômes du chapelier (Die Fantome des Hutmachers, 1948) und Les anneaux de Bicêtre (Die Glocken von Bicêtre, 1962). 1939 kommt sein erster Sohn zur Welt. Nach dem Krieg lebt Simenon zehn Jahre lang mit seiner Familie in den USA. 1949 lässt er sich von seiner ersten Frau scheiden und heiratet seine langjährige Geliebte, die kurz zuvor einen Sohn zur Welt gebracht hat. 1955 kehren die Simenons nach Europa zurück und lassen sich im schweiz­erischen Lausanne nieder. Inzwischen hat Simenon vier Kinder. Am Genfer See baut er sich ein großes Haus nach eigenen Plänen und lernt seine dritte Lebensgefährtin kennen. Insgesamt zieht Simenon 33 Mal um und reist außerdem sehr viel. Im Alter offenbart er, neben seinem Fam­i­lien­all­tag ein äußerst promiskuitives Leben geführt zu haben: Er rühmt sich, mit 10 000 Frauen geschlafen zu haben. Simenon stirbt am 4. September 1989 an Krebs.