Das Feuer grosser Gruppen

Buch Das Feuer grosser Gruppen

Konzepte, Designs, Praxisbeispiele für Grossveranstaltungen

Schäffer-Poeschel,


Rezension

Dieses derzeit wohl vollständigste Buch zum Thema „Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen“ in deutscher Sprache besteht aus einer heterogenen Sammlung von Artikeln aus der Feder von zwei Dutzend Autoren. Dass es sich dennoch wie aus einem Guss liest, ist den Her­aus­ge­berin­nen Roswita Königswieser und Marion Keil zu verdanken, die die un­ter­schiedlichen Beiträge nach Themen struk­turi­ert haben. So ist es gelungen, „eine The­o­rie-Praxis-Verzah­nung zum Thema Gross­grup­pen“ herzustellen. Bestechend ist, dass mit Beispielen aus ver­schiede­nen Un­ternehmen­skul­turen gearbeitet wird. BooksInShort empfiehlt dieses Buch allen, die sich mit lernenden Or­gan­i­sa­tio­nen, Veränderung­sprozessen - oder eben Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen - auseinander setzen möchten, also Un­ternehmens- und Kom­mu­nika­tions­ber­atern, Trainern und Moderatoren, Führungsleuten und Or­gan­i­sa­tions- oder Per­son­alver­ant­wortlichen.

Take-aways

  • Eine Gruppe, die mehr als 30 Personen zählt und in der die direkte Kom­mu­nika­tion aller mit allen nicht mehr möglich ist, wird als Grossgruppe bezeichnet.
  • Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen können z. B. einen Beitrag zur Kulturveränderung leisten oder die Akzeptanz von Veränderung­sprozessen erhöhen.
  • Es gibt eine Vielfalt an Formen von Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen. Future Search, Open Space Technology und Real Time Strategic Change sind einige davon.
  • Die Geschichte der Gross­grup­pen­in­ter­ven­tion beginnt bereits in den 30er Jahren mit Gestaltpsy­cholo­gie und Psy­cho­analyse.
  • Um Gross­grup­pen von Pro­pa­gan­dav­er­anstal­tun­gen abzuheben, müssen Sie die Kraft des Kollektivs spürbar werden lassen und zugleich den Personen Raum lassen.
  • Es gilt die Faustregel „ein Drittel Information, ein Drittel Emotion und ein Drittel Zeit für Net­zw­erkar­beiten mit den anderen Teilnehmern“.
  • Gross­grup­pen mo­bil­isieren Gefühle und bringen Gerüchte an die Oberfläche.
  • Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen stillen das Bedürfnis nach Ritualen und können ein Rahmen für neue Mythen sein.
  • Die Ve­r­ant­wor­tung für Erfolg und Misserfolg von Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen wird sowohl individuell wie auch kollektiv getragen.
  • Gross­grup­pen­in­ter­ven­tio­nen machen nur dann Sinn, wenn sie vom Management unterstützt werden.
 

Zusammenfassung

Feuer wärmt oder verschlingt

Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen zählen heute zum „state of the art“ in anspruchsvollen Veränderung­spro­jek­ten. Unternehmen, Kommunen und Berater haben das Potenzial dieser Methoden entdeckt und setzen sie immer häufiger ein. Bei einer ersten Betrachtung gewinnt man den Eindruck, Gross­grup­pen seien etwas Neues, Modernes, erst kürzlich En­twick­eltes. Tatsächlich beginnt die Geschichte der Gross­grup­pen bereits ab den 30er Jahren mit Gestaltpsy­cholo­gie und Psy­cho­analyse und führt uns über Ron Lippitts „Preferred Future“ und Merrelyn Emerys „Search Conferences“ der 70er Jahre bis hin zur reichen Palette an Gross­grup­pen­in­ter­ven­tion­s­meth­o­den der Gegenwart. Als Gross­grup­pen definieren wir, grob gesagt, solche Gruppen, die mehr als 30 Personen zählen und in denen die direkte Kom­mu­nika­tion aller mit allen nicht mehr möglich ist. Die Energie, die in Gross­grup­pen freigesetzt wird, ist mit Feuer ver­gle­ich­bar: „Wärme spendend, wenn sie unter Kontrolle ist, ver­schlin­gend, wenn sie ausser Kotrolle gerät.“

„Ich erinnere mich, mit welch gemischten Gefühlen - schwankend zwischen positivem Berührtsein und Angst - ich mich als Teil der Prozesse in Gross­grup­pen erlebte.“

Gross­grup­pen sind in Veränderung­sprozesse eingebettet, weshalb wir es auch grundsätzlich mit allen für solche Prozesse sig­nifikan­ten Begleitphänomenen zu tun haben. Das bedeutet, dass man mit grosser Verun­sicherung, mit Aggression, Kränkung, Widerstand, Trauer und Re­gres­sion­s­ten­den­zen rechnen muss. In dieser hohen Aufladung von Gefühlen liegen die Gefahren, aber gle­ichzeitig auch die Chancen von Gross­grup­pen. Um Gross­grup­pen von Pro­pa­gan­dav­er­anstal­tun­gen abzuheben, wie wir sie von totalitären Systemen kennen, ist es notwendig, nicht nur die Kraft des Kollektivs spürbar werden zu lassen, sondern auch den Personen - mit ihren in­di­vidu­ellen Gedanken und Emotionen - Raum zu lassen.

Funktionen von Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen

Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen können u. a.

  • En­ergiear­beit leisten, Systeme vi­tal­isieren;
  • Mul­ti­p­lika­toren­ef­fekte der Teilnehmer nutzen;
  • einen Beitrag zu Kulturveränderung leisten;
  • viele Menschen gle­ichzeitig erreichen;
  • Akzeptanz hin­sichtlich Veränderung­sprozessen erhöhen;
  • die üblichen In­for­ma­tions- und Kom­mu­nika­tion­s­muster durch­brechen und dadurch Impulse zur Weit­er­en­twick­lung setzen;
  • Gemein­schaft­ser­leb­nisse ermöglichen;
  • Wissen (besonders implizites) generieren.

Gestaltung von Gross­grup­pen

Kon­ven­tionelles Denken schafft Abhängigkeit von Autoritätsfiguren und führt dazu, dass ein Anlass nicht als „unsere Sache“ gesehen wird, verhindert kollektives Lernen und löst resignative Reaktionen auf Veränderungen aus. Das neue Denken, das bei der Gestaltung von Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen nötig ist, setzt auf in­di­vidu­elle und kollektive Ve­r­ant­wor­tung, führt zu mehr Kooperation und zu engagierten Reaktionen auf Veränderungen. Der Schritt zur lernenden Or­gan­i­sa­tion führt über die folgenden Stufen:

Planung, Vor­bere­itung

Eine Pro­jek­t­gruppe in einer heterogenen Zusam­menset­zung aus ver­schiede­nen Bereichen, Ebenen, Strömungen plant die Ve­r­anstal­tung. Ein Grund­konzept wird erstellt, das Design grob skizziert, die Rah­menbe­din­gun­gen abgesteckt. Darüber hinaus wird dem Prozess vertraut.

Teilnehmer

Die Teilnehmer sind aktiv und tragen mit ihrer Energie wesentlich zur Ve­r­anstal­tung bei. So viele Menschen wie nötig werden mit einbezogen, um das Ve­r­anstal­tungsziel zu erreichen. Mächtige, Betroffene, Know-how-Träger und viele mehr bilden die Strömungen des Un­ternehmens ab. Spontane und un­ter­schiedliche Meinungen sollen auf den Tisch kommen.

Prozess, Struktur

Jeder Einzelne, also die Grossgruppe und nicht die Ve­r­anstal­ter, ist ve­r­ant­wortlich für das Gelingen der Ve­r­anstal­tung. Es soll davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmer Ve­r­ant­wor­tung übernehmen und Entschei­dun­gen treffen können. Der Moderator sorgt für ein Klima der Offenheit und fördert so die Selb­stor­gan­i­sa­tion der Grossgruppe. Die Kom­mu­nika­tion sollte nicht vom Podium zum Publikum gehen, sondern zwischen den Teilnehmern und Gruppen spielen. Experten demon­stri­eren nicht mehr Sicherheit, sondern geben Impulse. Keine Angst vor un­pro­duk­tiver Zeit: Pausengespräche, Warming-up, geselliges Ausklingen sind un­struk­turi­erte, aber produktive Ar­beit­szeiten! Die rechte Gehirnhälfte (Gefühle, Körper­lichkeit, Sinnlichkeit) soll ebenso ange­sprochen werden wie die rationale, analytische, linke Gehirnhälfte. Persönliche Bezüge stellen den tieferen Zusam­men­hang mit den Ve­r­anstal­tungs­the­men her.

Problemlösungen, Lernen

Veränderung ist kein linearer, sondern ein zirkularer, permanenter Prozess. Kaum ist man bei einem Teilziel angekommen, verschiebt sich die Definition des nächsten Ziels. Am Anfang steht eine gemeinsame Vision von einer guten gemeinsamen Zukunft. Auf dem Weg der Umsetzung lösen sich die Probleme oft von selbst. Der Fokus des Lernens liegt auf der kollektiven Ebene. Menschen lernen am besten durch Erleben.

Vorge­hensweise

Man kann mit mehreren hundert Leuten interaktiv arbeiten. Werden Un­ter­grup­pen gebildet, sollten sie trotzdem in einem Raum arbeiten; das erhöht die gesamte Energie und das Gemein­schafts­gefühl. Die Un­ter­grup­pen brauchen eine genaue Auf­gaben­stel­lung, aber nicht unbedingt einen pro­fes­sionellen Moderator. Konkurrenz zwischen den Teilnehmern und einzelnen Gruppen ist normal und kann bestenfalls minimiert werden. Gegenüber anderen Positionen soll ein Klima der Offenheit etabliert werden.

Rah­menbe­din­gun­gen

Wenn Leute den Sinn einer Ve­r­anstal­tung verstehen und wissen, dass sie Mitver­ant­wor­tung haben, ist Zeit kein Thema. Die Ki­nobestuh­lung mit Blick nach vorne wird ersetzt durch eine Bistrobestuh­lung an runden Tischen zu je vier bis zehn Personen. Das setzt die Aktivität der einzelnen in der Gebor­gen­heit der Gruppe frei. Jede Gruppe, deren Grösse 15 Personen übersteigt, zerfällt laut den Gesetzen der Grup­pen­dy­namik ohnehin in Un­ter­grup­pen. Technik darf die Referate nicht dominieren und die frontalen Referate sollen auf ein Minimum beschränkt sein. Wichtiger sind Erlebnisse und Beziehungen, Pausen und Essen. Essen ist ein Ritual, das uns einander näher bringt, und ein liebevoll serviertes Essen vermittelt Wertschätzung.

Ganz un­ter­schiedliche Modelle

Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen können stan­dar­d­isiert oder mass­geschnei­dert sein. Sie können stark oder kaum struk­turi­ert angelegt sein und kurz oder lang dauern. Sie ermöglichen es Menschen, die dies für gewöhnlich nicht tun, auch einmal ins Rampenlicht zu treten und zwingen die Führung zu trans­par­enter Information. Heute bekannte Modelle sind u. a.:

Zukun­ft­skon­ferenz/Future Search (Marvin Weisbord, Sandra Janoff)

In Fu­ture-Search-Kon­feren­zen werden die Gräben zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Experten und Laien, Führern und Geführten aufgehoben. Die Teilnehmer nehmen ihre eigene Zukunft in die Hand und übernehmen so wieder Ve­r­ant­wor­tung für sich selbst. Menschen mit ganz un­ter­schiedlicher sozialer Herkunft und mit ver­schiede­nen Biographien lernen voneinander und arbeiten zusammen. Neue Beziehungen entstehen, wir entdecken Ressourcen bei uns und bei anderen, lernen tief greifende Zusammenhänge kennen. Future Search fördert das Sys­tem­denken, hilft un­ter­schiedlichen Gruppen, eine gemeinsame Basis zu finden und in der Folge Aktionspläne zu entwickeln. Die Grenzen von Zukun­ft­skon­feren­zen: Führungsvakuum kom­pen­sieren, Skeptiker zum Handeln animieren, un­ter­schiedliche Wertvorstel­lun­gen miteinander versöhnen, Teamdynamik verändern.

Open Space Technology OST (Harrison Owen)

OST entstand als Zu­fall­spro­dukt einer lang geplanten, durchgestal­teten in­ter­na­tionalen Konferenz: Da die Kaf­feep­ausen nicht nur am be­liebtesten waren, sondern sich auch als der effektivste Teil der Konferenz her­ausstell­ten, entwarf der amerikanis­che Or­gan­i­sa­tions­ber­ater Harrison Owen ein Konzept nach Art offener Kaf­feep­ausen; die Teilnehmer sollten selbst Richtung und Verlauf der Konferenz bestimmen können. Hunderte von Teilnehmern arbeiten so selb­stver­ant­wortlich und simultan an Dutzenden von heissen Themen; Motivation und Gemein­schafts­gefühl, Er­fol­gser­leb­nis und Freude werden in oft ungeahnter Weise entfacht. OST kann im Profit- und Non-Profit-Bere­ich zur Anwendung kommen und hat sich als Meet­ing­for­mat in den Fällen besonders bewährt, in denen sehr heterogene Gruppen zusam­me­nar­beiten müssen und komplexe, potenziell kon­flik­tre­iche Fragen schnellstmöglich zu lösen sind, für die es noch keine Antwort gibt.

Zukun­fts­gipfel/Ap­pre­cia­tive Inquiry Summit (David Cooperrider, Suresh Srivastva)

Der Zukun­fts­gipfel ist der Name für einen Vier-Phasen-Gross­grup­pen­prozess, bei dem 50 bis über 2000 Menschen für zwei bis vier Tage zusam­menkom­men, um sich beispiel­sweise „fit für den Markt“ zu machen. Bei Ap­pre­cia­tive Inquiry geht es nicht so sehr darum, Probleme zu lösen. Es ist eine Leben­se­in­stel­lung, mit der wir unsere Realität wahrnehmen, unsere Situation meistern, die Zukunft gestalten. In­spiri­erende Fragen in „wertschätzenden Interviews“ bilden das Herzstück dieser Methode, die Ende der 80er Jahre in den USA entwickelt wurde.

Community Building CB (Dr. M. Scott Peck)

CB baut au­then­tis­che Beziehungen zwischen Personen auf. Die Teilnehmer lernen, authentisch zu kom­mu­nizieren, und werden so auf einer sehr emotionalen Ebene zu einer Gemein­schaft verbunden. Dabei durchlaufen sie zuerst die Phasen Pseudo­ge­mein­schaft, Chaos und Leere, bevor sie eine auf Vertrauen basierende Gemein­schaft bilden. Community Building kann in offenen Gruppen, aber auch als geschlossene Workshops stattfinden. Die Workshops dauern gewöhnlich drei Tage und die Teil­nehmerzahl ist meist auf 50 Personen begrenzt. Die Teilnehmer arbeiten ex­per­i­mentell, beinahe selbstständig, indem sie kom­mu­nizieren, statt entlang bestimmter Aufgaben zu arbeiten. Die Peck-Meth­ode erinnert an ein Labor, in dem man durch Versuch und Irrtum her­aus­findet, was funk­tion­iert und was nicht. Die einzige Forderung an die Gruppe: Nur dann sprechen, wenn es einen dazu drängt, und lernen, was darunter zu verstehen ist.

Real Time Strategic Change RTSC (Dannemiller Tyson Associates)

Die Mitarbeiter lernen einander kennen und werden integriert. Es kann innerhalb kurzer Zeit eine auf Di­en­stleis­tung­sun­ternehmen abgestimmte strate­gis­che Ausrichtung erfolgen, die von allen Mi­tar­beit­ern getragen wird. Es entsteht ein Netzwerk von fachlichen Kontakten, um In­for­ma­tio­nen auszu­tauschen. Das gesamte Unternehmen wird mobilisiert.

Or­gan­i­sa­tionswork­shop

Die Methode wurde für die Arbeit mit Dorf- und städtischen Ba­sis­grup­pen in den 70er Jahren in Lateinamerika entwickelt. Or­gan­i­sa­tionswork­shops finden mit 40 bis 2000 Leuten statt. Dabei sind alle Teilnehmer gleich. Das Training findet während der Arbeit statt, am Ar­beit­splatz, im Dorf. Die Teilnehmer werden um produktive Aufgaben herum organisiert und übernehmen innerhalb von vier bis sechs Wochen die gemein­schaftliche Ve­r­ant­wor­tung sowie das Recht und die Fähigkeit, Ressourcen zu be­wirtschaften und zu erarbeiten.

Künstlerische In­ter­ven­tio­nen

Künstlerische In­ter­ven­tio­nen sind Handlungen, Aktionen und Darstel­lun­gen von Künstlern mit dem Ziel, mit einer Gruppe in Interaktion zu treten. Der Einsatz von künst­lerischen In­ter­ven­tio­nen als Methode in Gross­grup­pen­ver­anstal­tun­gen hat Ex­per­i­men­talcharak­ter. Im gemeinsamen Erleben und Gestalten wird v. a. die emotionale Ebene der Menschen ange­sprochen. Positive wie auch negative Gefühle und Stimmungen werden ausgelöst. Ein stan­dar­d­isiertes Design gibt es nicht, es besteht Bedarf an mass­geschnei­derten Angeboten.

Über die Autorinnen

Dr. Roswita Königswieser, geschäftsführende Gesellschaf­terin der Be­rater­gruppe Neuwaldegg, Wien, und Dr. Marion Keil, Gesellschaf­terin der Be­ratungs­firma synetz, Rösrath, zeichnen als Her­aus­ge­berin­nen von Das Feuer grosser Gruppen ve­r­ant­wortlich. Die Texte stammen von rund 25 mehrheitlich deutschsprachi­gen Autoren und Autorinnen.