Feuer wärmt oder verschlingt
Grossgruppenveranstaltungen zählen heute zum „state of the art“ in anspruchsvollen Veränderungsprojekten. Unternehmen, Kommunen und Berater haben das Potenzial dieser Methoden entdeckt und setzen sie immer häufiger ein. Bei einer ersten Betrachtung gewinnt man den Eindruck, Grossgruppen seien etwas Neues, Modernes, erst kürzlich Entwickeltes. Tatsächlich beginnt die Geschichte der Grossgruppen bereits ab den 30er Jahren mit Gestaltpsychologie und Psychoanalyse und führt uns über Ron Lippitts „Preferred Future“ und Merrelyn Emerys „Search Conferences“ der 70er Jahre bis hin zur reichen Palette an Grossgruppeninterventionsmethoden der Gegenwart. Als Grossgruppen definieren wir, grob gesagt, solche Gruppen, die mehr als 30 Personen zählen und in denen die direkte Kommunikation aller mit allen nicht mehr möglich ist. Die Energie, die in Grossgruppen freigesetzt wird, ist mit Feuer vergleichbar: „Wärme spendend, wenn sie unter Kontrolle ist, verschlingend, wenn sie ausser Kotrolle gerät.“
„Ich erinnere mich, mit welch gemischten Gefühlen - schwankend zwischen positivem Berührtsein und Angst - ich mich als Teil der Prozesse in Grossgruppen erlebte.“
Grossgruppen sind in Veränderungsprozesse eingebettet, weshalb wir es auch grundsätzlich mit allen für solche Prozesse signifikanten Begleitphänomenen zu tun haben. Das bedeutet, dass man mit grosser Verunsicherung, mit Aggression, Kränkung, Widerstand, Trauer und Regressionstendenzen rechnen muss. In dieser hohen Aufladung von Gefühlen liegen die Gefahren, aber gleichzeitig auch die Chancen von Grossgruppen. Um Grossgruppen von Propagandaveranstaltungen abzuheben, wie wir sie von totalitären Systemen kennen, ist es notwendig, nicht nur die Kraft des Kollektivs spürbar werden zu lassen, sondern auch den Personen - mit ihren individuellen Gedanken und Emotionen - Raum zu lassen.
Funktionen von Grossgruppenveranstaltungen
Grossgruppenveranstaltungen können u. a.
- Energiearbeit leisten, Systeme vitalisieren;
- Multiplikatoreneffekte der Teilnehmer nutzen;
- einen Beitrag zu Kulturveränderung leisten;
- viele Menschen gleichzeitig erreichen;
- Akzeptanz hinsichtlich Veränderungsprozessen erhöhen;
- die üblichen Informations- und Kommunikationsmuster durchbrechen und dadurch Impulse zur Weiterentwicklung setzen;
- Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen;
- Wissen (besonders implizites) generieren.
Gestaltung von Grossgruppen
Konventionelles Denken schafft Abhängigkeit von Autoritätsfiguren und führt dazu, dass ein Anlass nicht als „unsere Sache“ gesehen wird, verhindert kollektives Lernen und löst resignative Reaktionen auf Veränderungen aus. Das neue Denken, das bei der Gestaltung von Grossgruppenveranstaltungen nötig ist, setzt auf individuelle und kollektive Verantwortung, führt zu mehr Kooperation und zu engagierten Reaktionen auf Veränderungen. Der Schritt zur lernenden Organisation führt über die folgenden Stufen:
Planung, Vorbereitung
Eine Projektgruppe in einer heterogenen Zusammensetzung aus verschiedenen Bereichen, Ebenen, Strömungen plant die Veranstaltung. Ein Grundkonzept wird erstellt, das Design grob skizziert, die Rahmenbedingungen abgesteckt. Darüber hinaus wird dem Prozess vertraut.
Teilnehmer
Die Teilnehmer sind aktiv und tragen mit ihrer Energie wesentlich zur Veranstaltung bei. So viele Menschen wie nötig werden mit einbezogen, um das Veranstaltungsziel zu erreichen. Mächtige, Betroffene, Know-how-Träger und viele mehr bilden die Strömungen des Unternehmens ab. Spontane und unterschiedliche Meinungen sollen auf den Tisch kommen.
Prozess, Struktur
Jeder Einzelne, also die Grossgruppe und nicht die Veranstalter, ist verantwortlich für das Gelingen der Veranstaltung. Es soll davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmer Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen können. Der Moderator sorgt für ein Klima der Offenheit und fördert so die Selbstorganisation der Grossgruppe. Die Kommunikation sollte nicht vom Podium zum Publikum gehen, sondern zwischen den Teilnehmern und Gruppen spielen. Experten demonstrieren nicht mehr Sicherheit, sondern geben Impulse. Keine Angst vor unproduktiver Zeit: Pausengespräche, Warming-up, geselliges Ausklingen sind unstrukturierte, aber produktive Arbeitszeiten! Die rechte Gehirnhälfte (Gefühle, Körperlichkeit, Sinnlichkeit) soll ebenso angesprochen werden wie die rationale, analytische, linke Gehirnhälfte. Persönliche Bezüge stellen den tieferen Zusammenhang mit den Veranstaltungsthemen her.
Problemlösungen, Lernen
Veränderung ist kein linearer, sondern ein zirkularer, permanenter Prozess. Kaum ist man bei einem Teilziel angekommen, verschiebt sich die Definition des nächsten Ziels. Am Anfang steht eine gemeinsame Vision von einer guten gemeinsamen Zukunft. Auf dem Weg der Umsetzung lösen sich die Probleme oft von selbst. Der Fokus des Lernens liegt auf der kollektiven Ebene. Menschen lernen am besten durch Erleben.
Vorgehensweise
Man kann mit mehreren hundert Leuten interaktiv arbeiten. Werden Untergruppen gebildet, sollten sie trotzdem in einem Raum arbeiten; das erhöht die gesamte Energie und das Gemeinschaftsgefühl. Die Untergruppen brauchen eine genaue Aufgabenstellung, aber nicht unbedingt einen professionellen Moderator. Konkurrenz zwischen den Teilnehmern und einzelnen Gruppen ist normal und kann bestenfalls minimiert werden. Gegenüber anderen Positionen soll ein Klima der Offenheit etabliert werden.
Rahmenbedingungen
Wenn Leute den Sinn einer Veranstaltung verstehen und wissen, dass sie Mitverantwortung haben, ist Zeit kein Thema. Die Kinobestuhlung mit Blick nach vorne wird ersetzt durch eine Bistrobestuhlung an runden Tischen zu je vier bis zehn Personen. Das setzt die Aktivität der einzelnen in der Geborgenheit der Gruppe frei. Jede Gruppe, deren Grösse 15 Personen übersteigt, zerfällt laut den Gesetzen der Gruppendynamik ohnehin in Untergruppen. Technik darf die Referate nicht dominieren und die frontalen Referate sollen auf ein Minimum beschränkt sein. Wichtiger sind Erlebnisse und Beziehungen, Pausen und Essen. Essen ist ein Ritual, das uns einander näher bringt, und ein liebevoll serviertes Essen vermittelt Wertschätzung.
Ganz unterschiedliche Modelle
Grossgruppenveranstaltungen können standardisiert oder massgeschneidert sein. Sie können stark oder kaum strukturiert angelegt sein und kurz oder lang dauern. Sie ermöglichen es Menschen, die dies für gewöhnlich nicht tun, auch einmal ins Rampenlicht zu treten und zwingen die Führung zu transparenter Information. Heute bekannte Modelle sind u. a.:
Zukunftskonferenz/Future Search (Marvin Weisbord, Sandra Janoff)
In Future-Search-Konferenzen werden die Gräben zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Experten und Laien, Führern und Geführten aufgehoben. Die Teilnehmer nehmen ihre eigene Zukunft in die Hand und übernehmen so wieder Verantwortung für sich selbst. Menschen mit ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft und mit verschiedenen Biographien lernen voneinander und arbeiten zusammen. Neue Beziehungen entstehen, wir entdecken Ressourcen bei uns und bei anderen, lernen tief greifende Zusammenhänge kennen. Future Search fördert das Systemdenken, hilft unterschiedlichen Gruppen, eine gemeinsame Basis zu finden und in der Folge Aktionspläne zu entwickeln. Die Grenzen von Zukunftskonferenzen: Führungsvakuum kompensieren, Skeptiker zum Handeln animieren, unterschiedliche Wertvorstellungen miteinander versöhnen, Teamdynamik verändern.
Open Space Technology OST (Harrison Owen)
OST entstand als Zufallsprodukt einer lang geplanten, durchgestalteten internationalen Konferenz: Da die Kaffeepausen nicht nur am beliebtesten waren, sondern sich auch als der effektivste Teil der Konferenz herausstellten, entwarf der amerikanische Organisationsberater Harrison Owen ein Konzept nach Art offener Kaffeepausen; die Teilnehmer sollten selbst Richtung und Verlauf der Konferenz bestimmen können. Hunderte von Teilnehmern arbeiten so selbstverantwortlich und simultan an Dutzenden von heissen Themen; Motivation und Gemeinschaftsgefühl, Erfolgserlebnis und Freude werden in oft ungeahnter Weise entfacht. OST kann im Profit- und Non-Profit-Bereich zur Anwendung kommen und hat sich als Meetingformat in den Fällen besonders bewährt, in denen sehr heterogene Gruppen zusammenarbeiten müssen und komplexe, potenziell konfliktreiche Fragen schnellstmöglich zu lösen sind, für die es noch keine Antwort gibt.
Zukunftsgipfel/Appreciative Inquiry Summit (David Cooperrider, Suresh Srivastva)
Der Zukunftsgipfel ist der Name für einen Vier-Phasen-Grossgruppenprozess, bei dem 50 bis über 2000 Menschen für zwei bis vier Tage zusammenkommen, um sich beispielsweise „fit für den Markt“ zu machen. Bei Appreciative Inquiry geht es nicht so sehr darum, Probleme zu lösen. Es ist eine Lebenseinstellung, mit der wir unsere Realität wahrnehmen, unsere Situation meistern, die Zukunft gestalten. Inspirierende Fragen in „wertschätzenden Interviews“ bilden das Herzstück dieser Methode, die Ende der 80er Jahre in den USA entwickelt wurde.
Community Building CB (Dr. M. Scott Peck)
CB baut authentische Beziehungen zwischen Personen auf. Die Teilnehmer lernen, authentisch zu kommunizieren, und werden so auf einer sehr emotionalen Ebene zu einer Gemeinschaft verbunden. Dabei durchlaufen sie zuerst die Phasen Pseudogemeinschaft, Chaos und Leere, bevor sie eine auf Vertrauen basierende Gemeinschaft bilden. Community Building kann in offenen Gruppen, aber auch als geschlossene Workshops stattfinden. Die Workshops dauern gewöhnlich drei Tage und die Teilnehmerzahl ist meist auf 50 Personen begrenzt. Die Teilnehmer arbeiten experimentell, beinahe selbstständig, indem sie kommunizieren, statt entlang bestimmter Aufgaben zu arbeiten. Die Peck-Methode erinnert an ein Labor, in dem man durch Versuch und Irrtum herausfindet, was funktioniert und was nicht. Die einzige Forderung an die Gruppe: Nur dann sprechen, wenn es einen dazu drängt, und lernen, was darunter zu verstehen ist.
Real Time Strategic Change RTSC (Dannemiller Tyson Associates)
Die Mitarbeiter lernen einander kennen und werden integriert. Es kann innerhalb kurzer Zeit eine auf Dienstleistungsunternehmen abgestimmte strategische Ausrichtung erfolgen, die von allen Mitarbeitern getragen wird. Es entsteht ein Netzwerk von fachlichen Kontakten, um Informationen auszutauschen. Das gesamte Unternehmen wird mobilisiert.
Organisationsworkshop
Die Methode wurde für die Arbeit mit Dorf- und städtischen Basisgruppen in den 70er Jahren in Lateinamerika entwickelt. Organisationsworkshops finden mit 40 bis 2000 Leuten statt. Dabei sind alle Teilnehmer gleich. Das Training findet während der Arbeit statt, am Arbeitsplatz, im Dorf. Die Teilnehmer werden um produktive Aufgaben herum organisiert und übernehmen innerhalb von vier bis sechs Wochen die gemeinschaftliche Verantwortung sowie das Recht und die Fähigkeit, Ressourcen zu bewirtschaften und zu erarbeiten.
Künstlerische Interventionen
Künstlerische Interventionen sind Handlungen, Aktionen und Darstellungen von Künstlern mit dem Ziel, mit einer Gruppe in Interaktion zu treten. Der Einsatz von künstlerischen Interventionen als Methode in Grossgruppenveranstaltungen hat Experimentalcharakter. Im gemeinsamen Erleben und Gestalten wird v. a. die emotionale Ebene der Menschen angesprochen. Positive wie auch negative Gefühle und Stimmungen werden ausgelöst. Ein standardisiertes Design gibt es nicht, es besteht Bedarf an massgeschneiderten Angeboten.
Dr. Roswita Königswieser, geschäftsführende Gesellschafterin der Beratergruppe Neuwaldegg, Wien, und Dr. Marion Keil, Gesellschafterin der Beratungsfirma synetz, Rösrath, zeichnen als Herausgeberinnen von Das Feuer grosser Gruppen verantwortlich. Die Texte stammen von rund 25 mehrheitlich deutschsprachigen Autoren und Autorinnen.