Unternehmensschädigendes Verhalten
Durch unternehmensschädigendes, kontraproduktives Verhalten wird entweder eine Organisation an sich, also beispielsweise ein Unternehmen geschädigt, oder einzelne Mitarbeiter haben darunter zu leiden. Gemeint ist nicht, dass ein Mitarbeiter zufällig mit dem Gabelstapler ein Regal rammt; es geht vielmehr um bewusstes, vorsätzliches Handeln, z. B. das vorsätzliche Beschädigen eines Arbeitsgerätes, um so eine Pause zu bekommen. Allerdings beginnt kontraproduktives Verhalten nicht erst dann, wenn ein tatsächlicher Schaden eintritt. Es reicht schon aus, dass ein Schaden eintreten könnte: Der betrunkene LKW-Fahrer handelt auch dann kontraproduktiv, wenn er keinen Unfall baut. Varianten des unternehmensschädigenden Verhaltens sind:
- Diebstahl,
- Beschädigung,
- Missbrauch von Informationen (z. B. Fälschung von Akten oder Weitergabe von Interna),
- Missbrauch von Arbeitszeit und Ressourcen (z. B. Erledigung von privaten Angelegenheiten während der Arbeitszeit, Manipulation von Zeiterfassungssystemen),
- Vernachlässigung der Sicherheitsvorschriften,
- Absentismus, also unentschuldigt nicht zur Arbeit zu kommen oder sich verspäten,
- schlechte Arbeitsqualität,
- Drogenvergehen (Besitz, Verkauf und Konsum von Drogen),
- unangemessenes verbales oder körperliches Verhalten (z. B. aggressive Ausbrüche oder sexuelle Belästigung).
„Kontraproduktives Verhalten verletzt die legitimen Interessen einer Organisation, wobei es prinzipiell deren Mitglieder oder die Organisation als Ganzes schädigen kann.“
Kontraproduktives Verhalten kann auf einer Skala eingeordnet werden, die von geringfügig bis ernsthaft und von organisations- bis personenbezogen reicht. Um eine geringfügige Schädigung der Organisation handelt es sich z. B., wenn ein Arbeitnehmer zu lange Pausen macht oder öfter zu spät kommt. Eine ernsthafte und personenbezogene Schädigung liegt dagegen bei sexueller Belästigung vor, oder wenn Kollegen beschimpft werden.
Zahlen für Deutschland und die USA
Der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft führt rund 40 % aller Betrugs-, Diebstahls- und Unterschlagungsfälle in deutschen Firmen auf die firmeneigene Belegschaft zurück. Und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young hat herausgefunden, dass zwei Drittel aller befragten Unternehmen in der Zeit von 2000 bis 2003 mindestens einen internen Diebstahls- oder Unterschlagungsfall aufgedeckt haben. Wirtschaftskriminelle Delikte scheinen nach einer KPMG-Studie vermehrt große Firmen zu treffen, nämlich 76 % von ihnen.
„Aus der motivationalen Perspektive versucht man zu erklären, wie es zur Entscheidung für kontraproduktives Verhalten kommt (Richtung), mit welchem Aufwand es betrieben (Intensität) und ob es auch angesichts von Widerständen aufrechterhalten wird (Ausdauer).“
Auch im Mittelstand (46 %) und in Kleinfirmen (36 %) gibt es Opfer. Andere Untersuchungen melden, dass sich 30 % der Befragten von Zeit zu Zeit ohne Grund krank melden, zwei Drittel dehnen die Pause über Gebühr aus, kommen unentschuldigt zu spät oder nutzen die Arbeitszeit, um Privates zu erledigen. Die Hälfte der Befragten trinkt bei der Arbeit Alkohol, 10 % sogar täglich. Besonders hoch scheint die Wirtschaftskriminalität übrigens in der Bau- und Immobilienwirtschaft, im Handel und in der Finanzdienstleistungsbranche zu sein.
„Auf der einen Seite kann eine extreme Kontrolle kontraproduktives Verhalten unterdrücken, sie kann aber auch zu Gefühlen der Überwachung und damit verbundenen Protestaktionen – möglicherweise in Form versteckter Sabotageakte – führen.“
In den USA wird unternehmensschädigendes Verhalten schon lange und ausführlich erforscht. So gibt es Schätzungen, wonach die finanziellen Schäden durch von Mitarbeitern begangene Diebstähle im zwei- bis dreistelligen Milliardenbereich liegen. Eine weitere Untersuchung hat ergeben, dass 79 % der Befragten mindestens einmal im Jahr die Beherrschung bei der Arbeit verlieren und dass sich 58 % ohne medizinischen Anlass krank melden.
Gründe für kontraproduktives Verhalten
Unternehmensschädigendes Verhalten kann verschiedenste Gründe haben. Bekommt ein Mitarbeiter beispielsweise die erhoffte Prämie nicht und führt er das auf seine eigene Unfähigkeit zurück, so könnte er aus Scham zum Absentismus oder zu Alkoholmissbrauch neigen, also zu selbstzerstörerischen Schädigungen. Hält er hingegen den Chef für ungerecht, geht es ihm eher um Vergeltung und Rache. Die Folgen können Diebstahl, Sabotage oder Betrug sein. Ungerechtigkeit wird häufig einem Vorgesetzten mit autoritärem Führungsstil zugeschrieben.
„Die Kultur einer Organisation kann erheblichen Einfluss auf die Werte der Mitarbeiter und damit auch auf die Motivation zu kontraproduktivem Verhalten ausüben.“
Ein weiterer möglicher Grund: Ständige Unterbrechungen oder Arbeitsbehinderungen können Frust auslösen, der sich in Form von Aggressionen Luft macht. Nicht alle arbeiten unter Zeitdruck am besten, manche nehmen dies als negative Spannung wahr. Es hängt von der Persönlichkeit eines Mitarbeiters ab, wie er eine bestimmte Situation einschätzt. Es gibt Menschen, die unangenehme Gefühle wie Angst und Ärger stärker empfinden als andere. Sie halten sich bei Misserfolgen immer für schuldig, sind häufiger depressiv und neigen zu selbstzerstörerischem Verhalten.
Die verschiedenen Typen des Fehlverhaltens
Grundsätzlich unterscheidet man Fehlverhalten, das der betreffenden Person (Typ S) oder der Organisation (Typ O) einen Nutzen verschaffen soll. Daneben gibt es Fehlverhalten, das rein destruktiv ist (Typ D). Zum Typ-S-Fehlverhalten zählen Diebstahl oder die Übervorteilung von Kollegen. Auch wer Daten absichtlich fälscht, um dadurch einen Vorteil zu bekommen, wird zum Typ S gezählt. Das Typ-O-Fehlverhalten kann darin bestehen, firmeneigene Daten zu fälschen, um so für das Unternehmen einen Vorteil zu schaffen. Dazu zählt Bestechung. Typ D hat andere Ziele: Hier geht es um Aggression und Sabotage. Rache steht im Vordergrund, beispielsweise für ungerechte Behandlung.
So kontrollieren Sie kontraproduktives Verhalten
Kontrolle ist eine Möglichkeit, um unternehmensschädigendes Verhalten einzuschränken: Überwachungen durch Testkunden, Drogentests, Fahrtenbücher, Zeituhren oder Mitarbeitertrainings. Ist die Kontrolle zu wenig abschreckend, regt sie erst recht zu unternehmensschädigendem Verhalten an. Hören die Angestellten hingegen, dass ein Kollege, der Material mit nach Hause genommen hat, abgemahnt wird, werden sie selbst wahrscheinlich seltener stehlen. Kontrolle ist also gut, aber Achtung vor Übertreibungen: Eextremes Misstrauen kann kontraproduktives Verhalten bei der Belegschaft sogar fördern. Die Folgen reichen bis zu Sabotageakten.
„Integrity-Tests sind im Rahmen der Möglichkeiten eignungsdiagnostischer Verfahren durchaus in der Lage, einen beachtlichen Beitrag zur Prognose kontraproduktiven Verhaltens von Bewerbern zu leisten.“
Wie häufig schädigendes Verhalten auftritt, hängt nicht zuletzt von der Kultur eines Unternehmens ab. Betriebsvereinbarungen, in denen Strafen für sexuelle Belästigung und gewalttätiges Verhalten festgelegt sind, sind sinnvoll. Außerdem spielen ethische Richtlinien eine wichtige Rolle. „Corporate Governance“ ist hier das Schlagwort: Ethische Werte wie z. B. Ehrlichkeit, die nicht nur auf dem Papier stehen, sondern im Unternehmen von den Führungskräften vorgelebt werden, können kontraproduktives Verhalten minimieren. Eine wichtige Rolle spielt der Gruppenzusammenhalt: Ein geschlossenes Team, das ethische Werte innerhalb der Firma vertritt, wird den Einzelnen stark in diese Richtung beeinflussen. Ist ein Team eher unternehmensschädigend eingestellt, dann wird auch der neue Kollege eher in diese Richtung tendieren.
Tests beim Einstellungsgespräch
Um Mitarbeiter, die sich kontraproduktiv benehmen, aus dem Unternehmen herauszuhalten, sollte die Kontrolle bereits beim Einstellungsgespräch beginnen: Ehrlichkeits- und Integritätstests können helfen, mehr über einen Bewerber herauszufinden. In den USA werden diese Tests schon seit mehr als 60 Jahren angewendet. Der Bewerber wird im Laufe des Vorstellungsgesprächs mit Fragen konfrontiert, deren Beantwortung seine Einstellung beispielsweise zu Diebstahl zeigen soll. Insgesamt werden mit diesen Tests fünf wesentliche Persönlichkeitseigenschaften abgefragt: Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Neurotizismus, Verträglichkeit und Offenheit für Erfahrung. Mit diesen so genannten „Big Five“ wird überprüft, ob eine Person nachlässig ist – oder aber gewissenhaft, hart arbeitend, ehrgeizig. Gewissenhafte Mitarbeiter stehlen seltener und sind kooperativer.
„Die Attraktivität der Unternehmen für bestimmte Personen führt zu einem relativ homogenen Pool von Bewerbern, aus dem Organisationen diejenigen auswählen, die für die Stelle geeignet sind und die zur Kultur der Organisation passen.“
Andere Charaktereigenschaften, auf die Sie achten sollten: Ist der Bewerber gesellig, optimistisch, energisch, gesprächig? Oder ist er unsicher und ängstlich, lässt sich leicht stressen und wirkt emotional labil? Kann der Kandidat kooperieren? Ist er harmoniebedürftig? Ist er offen für Neues, wissbegierig und kreativ? Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Selbstkontrolle: Je stärker sie bei einem Bewerber ausgeprägt ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er sich kontraproduktiv verhalten wird.
„Stellensuchende bewerben sich bevorzugt bei solchen Organisationen, von denen sie annehmen, dass sie in ihnen die eigenen beruflichen Wünsche realisieren können, und die vermeintlich zu ihrer Wertorientierung passen.“
Um möglichst viel über einen Kandidaten zu erfahren, empfiehlt sich eine Mischung aus strukturierten und unstrukturierten Interviews. Stellt sich der Bewerber in einer kurzen Präsentation selbst vor, zeigt das, wie gut er sich ausdrücken kann – ein wichtiger Punkt, wenn er häufig Kontakt zu Kunden haben soll. Ob er teamfähig ist und sein Verhalten kontrollieren kann, geht ebenfalls aus einer solchen Vorstellung hervor.
„Das Gefühl der Ungerechtigkeit ist ein ganz besonders starkes Motiv menschlichen Handelns.“
Anhand der Biografie des Bewerbers, sollten Sie folgende Fragen stellen: Hat sich der Kandidat im Lauf seiner Karriere schon einmal ungerecht behandelt gefühlt? Wie hat er darauf reagiert? Interessant ist, was als ungerecht wahrgenommen wird und vor allem, wie der Betreffende darüber spricht: Will er sich revanchieren? Dann sollte der künftige Arbeitgeber vorsichtig sein.
„Allein der Eindruck, an Entscheidungen nicht beteiligt zu werden, bzw. die Wahrnehmung, dass Anweisungen nicht schriftlich festgelegt sind, kann bereits ein Gefühl der Ungerechtigkeit auslösen.“
Trotz aller Kontrollen und Tests muss Ihnen klar sein, dass sich kontraproduktives Verhalten niemals komplett verhindern lässt.
Der Einfluss der Arbeit
Ob sich ein Mitarbeiter kontraproduktiv verhält, hängt zum Teil von seiner Arbeit ab. Fühlt er sich verantwortlich und kennt er die Qualität seiner Arbeit, wird er weniger leicht unternehmensschädigend handeln. Wichtig ist darum, dass Sie Ihrem Mitarbeiter Aufgaben, übertragen, die möglichst viele seiner Fähigkeiten in Anspruch nehmen. Es wirkt sich positiv aus, wenn er ein zusammenhängendes Produkt und nicht nur ein kleiner Teil davon fertigen kann.
„Charismatische Führer dienen als Rollenmodell ethischen Verhaltens – sie leben den Mitarbeitern die ethischen Werte der Organisation in ihrem Verhalten vor.“
Wenn den Mitarbeitern klar ist, was ihre Tätigkeit den Kunden oder Kollegen nützt, trägt dies zum erwünschten, kooperativen Verhalten bei. Fördern Sie Selbstständigkeit und Eigenverantwortung; das wirkt sich positiv aus. Außerdem sollten Sie Ihren Mitarbeitern Rückmeldungen zu den erledigten Aufgaben geben. Sind all diese Punkte gewährleistet, können zumindest hohe Fluktuationen und Krankheitsausfälle eingedämmt werden.
„Wer Vertrauen in andere Menschen zeigt, vermutet bei diesen zunächst einmal gute Absichten. Und wer sich so verhält, wird auch selbst als vertrauenswürdig eingeschätzt.“
Firmen ohne ethische Grundregeln, die sich nicht um ihre Mitarbeiter kümmern, leiden häufiger unter Produktionsschädigungen wie langsamer Arbeit oder überlangen Pausen. Gerüchte über Kollegen, Aggressionen, Eigentumsschädigungen wie Diebstahl oder falsche Spesenrechnungen treten häufiger auf. Fazit: In einer guten Unternehmenskultur hat unternehmensschädigendes Verhalten geringe Chancen.
Prof. Dr. Friedemann W. Nerdinger hat in München Psychologie studiert. Seit 1995 lehrt er an der Universität Rostock als Professor für Wirtschafts- und Organisationspsychologie.