Die Macht der kulturellen Strömungen
Wer das herrschende globale Finanzsystem verstehen will, wirft am besten einen Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen. Denn das, was die Menschen in den führenden Industrienationen derzeit bewegt – der Zeitgeist –, schlägt sich auf den Finanzmärkten nieder. Themen wie Bildungsnotstand, Werteverfall, mangelnde Verantwortung der Eliten, Egozentrik, Verlangen nach Spaß, Herunterspielen von Tatsachen, Streben nach kurzfristigem Erfolg oder Sucht nach Anerkennung bestimmen die Entwicklungen in Gesellschaften wie z. B. der deutschen ebenso wie auf den Wertpapier- und Geldmärkten. Sie heizen sogar die Krise des weltweiten Finanzsystems weiter an und gefährden die Demokratie.
„Zuerst sterben die freien Märkte, dann stirbt die Demokratie.“
Der Zeitgeist ist getrieben von Manipulationsversuchen und dem Wunsch nach Macht. Einen großen Anteil daran haben die Medien. Aus der ursprünglichen Meinungsvielfalt ist längst ein Monopol einiger weniger Fernsehanstalten und Verlage geworden. Statt Aufklärung und öffentlicher Diskussion dominiert eine Berichterstattung, die hauptsächlich Emotionen auslösen möchte, um Marktanteile zu gewinnen. Nutznießer sind vor allem die Politiker und die Vertreter der Zentralbanken. Sprachlich geschult, ergreifen sie bereitwillig die Chance der öffentlichen Präsentation, um Tatsachen zu verschleiern und die Reaktionen der Öffentlichkeit zu beeinflussen. Das beste Beispiel dafür liefert der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, der im zweiten Halbjahr 2007 die US-Immobilienkrise herunterspielte. Statt die Menschen über die tatsächliche Situation aufzuklären, war es sein Ziel, heftige Marktreaktionen zu verhindern. Die fehlende Verantwortung der Eliten spiegelt letztlich das mangelnde Interesse der Bürger wider, demokratische Werte einzufordern. Die Folgen treten in der aktuellen Finanzkrise offen zutage. Werden die Ursachen nicht behandelt, ist die Stabilität der Industrienationen in Gefahr.
Angriff auf die politischen Rahmenbedingungen
Die globale Wirtschaft findet nur dann breite Unterstützung, wenn möglichst viele Menschen von ihr profitieren. Voraussetzung dafür sind nicht nur freie Märkte. Es muss auch ein System vorhanden sein, das die Freiheit der Individuen sicherstellt. In der Volkswirtschaft wird dies unter dem Begriff „Ordnungspolitik“ zusammengefasst. Die entscheidenden Institutionen des globalen Ordnungssystems sind u. a. die NATO, die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation, der internationale Strafgerichtshof, die Weltbank, der internationale Währungsfonds und die nationalen Zentralbanken.
„Der Finanzmarkt ist nur einer von vielen Spiegeln der Gesellschaft.“
In der Wissenschaft wird allgemein davon ausgegangen, dass demokratische Strukturen in diesen Organisationen und deren Mitgliedstaaten die Freiheit der Märkte gewährleisten. Die Realität sieht jedoch anders aus. Die USA dominieren die Entscheidungen der Institutionen, indem sie sich das Recht vorbehalten, eigene politische und wirtschaftliche Wege zu gehen. Seit den Terroranschlägen im Jahr 2001 und den folgenden Afghanistan- und Irakkriegen nehmen es die Amerikaner mit der Demokratie auch im eigenen Land nicht mehr so genau, was sich etwa in der Beschneidung bürgerlicher Rechte, dem Umgang mit den Guantánamo-Häftlingen oder den Unregelmäßigkeiten bei den letzten beiden Präsidentenwahlen zeigte.
„In meinen Augen kann unter dem Banner des Humanismus Wirtschaft nur dazu dienen, den allgemeinen Wohlstand zu mehren.“
Wer sich zudem die angeblich so freien Märkte in der Welt anschaut, wird sofort mit unzähligen Einschränkungen konfrontiert. Agrarsubventionen, Zollschranken, Eintrittshürden für Unternehmen oder Beschneidungen des freien Währungsflusses sind nur einige Beispiele. Außerdem werden Angebot und Nachfrage längst nicht mehr im freien Verkehr zwischen den Marktteilnehmern festgelegt. Vielmehr sind es die mächtigen Großkonzerne und Spekulanten, die über die Preise entscheiden. Auch ist zunehmend weltweit die Unabhängigkeit der Zentralbanken von den Begehrlichkeiten der Politik bedroht. In allen Industrienationen versuchen die Regierungen seit Jahren, ihren Einfluss auf die Zentralbanken auszuweiten, um selbst den Kurs bei Zinsentwicklungen, der Geldversorgung oder den Goldinterventionen bestimmen zu können. Ein Paradebeispiel dafür ist die vom Ex-US-Präsidenten Ronald Reagan ins Leben gerufene Working Group on Financial Markets. In diesem Arbeitskreis berät der Finanzminister gemeinsam mit Vertretern der Zentralbank und der Börsenaufsicht über Maßnahmen an den Finanzmärkten.
„Das Verhalten vieler Mitmenschen ist im individuellen Umgang, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene, von rücksichtsloser Egozentrik als ultimativer Form des Egoismus geprägt.“
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die Arbeit der US-Zentralbank seitdem kontinuierlich gewandelt hat. Inzwischen ist eine – vom ehemaligen Notenbankchef Alan Greenspan vorangetriebene – Zentralbankpolitik zu beobachten, die immer weniger auf die Stabilität von Preisen und Wachstum ausgerichtet ist. Krisen werden mit Zinssenkungen und Kapitalzuflüssen bekämpft. Zudem tut die US-Zentralbank alles, um in Schwierigkeiten geratene Finanzinstitutionen über Wasser zu halten. Die Marktteilnehmer können daraus nur eines lernen: Es lohnt sich, Risiken aller Art einzugehen, da die Zentralbank sie schon auffangen wird.
Amerikanisches Ungleichgewicht
Der Aufstieg der USA als weltweit führende Wirtschaftsmacht begann mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die meisten Nationen hatten sich im Krieg bei den Amerikanern verschuldet. Die USA exportierten mehr Waren, als sie importierten. Bei der Rohstoffversorgung waren sie dank eigener Erdölfelder unabhängig. Folglich wurde der Dollar als internationale Leitwährung akzeptiert. Diese starke Stellung der USA hat sich bis heute komplett umgekehrt. Inzwischen sind die Amerikaner der größte Nettoschuldner der Welt. Das Land importiert mehr, als es ausführt. Es ist abhängig von den großen Ölerzeugern, etwa Saudi-Arabien. Trotz seiner militärischen Vormachtstellung hat es durch den Krieg im Irak weltweit an Ansehen verloren. Und der Status des Dollars wird zunehmend durch den Euro infrage gestellt.
„Insbesondere am Finanzmarkt wirkt sich der Zeitgeist des Nivellierens aus.“
Ausdruck dieser Entwicklung ist die derzeitige globale Finanzkrise. Anders als in früheren Fällen wurden die Turbulenzen an den Märkten diesmal nicht von Problemen in Ländern der Zweiten Welt wie Argentinien ausgelöst. Diesmal nahm die Krise ihren Anfang direkt im Zentrum des weltweiten Finanzsystems, in den USA. Die amerikanische Wirtschaft zeichnete sich in den vergangenen Jahren durch Bilanzbetrug, eine zu laxe Kreditvergabe und vor allem durch eine von Spekulationen angeheizte Konjunktur aus. Normalerweise bestimmt in jeder Volkswirtschaft das Wirtschaftsgeschehen, welchen Wert die einzelnen Vermögensgegenstände besitzen. In den USA verhält es sich inzwischen anders: Statt regelmäßiger Einkommen haben Kredite auf nicht realisierte Gewinne die Konjunktur befeuert. Seit sie das nicht mehr tun, versuchen Politiker und Zentralbanker Einfluss auf die Preise von Vermögenswerten wie etwa Immobilien zu nehmen, was die Voraussetzungen freier Märkte aushebelt. International hat diese Politik z. B. zu überbewerteten Aktien und zur Unterbewertung von Währungen wie dem japanischen Yen geführt.
Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung
Das einstige Wirtschaftsmusterland Amerika befindet sich auf dem Abstieg. Um diese Entwicklung zu verschleiern, greifen US-Politiker zu einem Trick, der auch bei diktatorischen Regierungen hoch im Kurs steht: Sie manipulieren die Statistiken. Ziel ist es, alle Marktteilnehmer so zu steuern, dass die Schieflage nicht offensichtlich wird und die Regierenden ihre Macht nicht verlieren.
„Die Glaubwürdigkeit unseres internationalen Finanzsystems steht und fällt zu wesentlichen Teilen mit dem Status der USA als Zentrum dieses Systems.“
Eine wichtige Kennzahl, die in den USA gern verschleiert wird, ist die Verschuldung des öffentlichen Haushalts. Hier konzentrieren sich die Politiker und folglich die Medien nur auf die Defizite der Zentralregierung in Washington und klammern alle Verluste der einzelnen Bundesstaaten und Kommunen aus. Der Betrag verringert sich so um knapp die Hälfte, ist also in Wirklichkeit doppelt so hoch wie angegeben. Auch was die Arbeitsmarktdaten betrifft, lassen die führenden Köpfe des Landes die Öffentlichkeit im Dunkeln tappen. Da sich die Regierung nur auf zwei Umfragen verlässt, beruhen alle Arbeitsmarktdaten auf Schätzungen, die leicht zu beeinflussen sind. So geht z. B. das staatliche Statistikamt trotz der heftigen Immobilienkrise und den zahlreichen Insolvenzen weiterhin von einem Stellenwachstum in der Baubranche aus.
„Eine Vielzahl der US-Daten bietet die Qualität der Daten der Sowjetunion im Jahr 1985. Die Daten sind politisch korrekt – sie spiegeln jedoch nicht notwendigerweise die ökonomischen Realitäten.“
Besonders dreist gehen die Politiker bei der Berechnung der Verbraucherpreise vor. Um die tatsächliche Inflation nicht offenzulegen, wird der als Basis angesetzte Warenkorb willkürlich geändert oder reale Preissteigerungen werden einfach weggelassen. Ähnlich geht man seit Jahren auch bei der Bestimmung des Wachstums und der Produktivität vor. Besonders offensichtlich werden die Manipulationsversuche der amerikanischen Regierung bei der Information über die Ausweitung der gesamten Geldmenge in der Wirtschaft. Deren schnelles Wachstum weist auf erhöhte Inflationsgefahr hin. Um aber zu verbergen, dass die US-Regierung und die Zentralbank seit Jahren leichtfertig Geld in die Märkte pumpen und damit die Preissteigerungen anheizen, verzichteten die Verantwortlichen im März 2006 darauf, die umfassendste Kennzahl M3 weiterhin zu berechnen.
Ausweg aus der Krise
Die aktuellen Probleme der globalen Finanzmärkte haben eine neue Dimension erreicht. Erstmals ging die Krise von einem Mitglied der führenden Industrienationen aus. Und der Auslöser war kein unerwartetes Ereignis wie ein Terroranschlag, sondern bewusstes Fehlverhalten der Finanzbranche. Die Hauptursachen dafür sind im Zeitgeist, in der Machterhaltung der Amerikaner und im wachsenden Einfluss Asiens zu suchen. Diese drei Faktoren haben den umfangreichen Spekulationen und Manipulationsversuchen an den Märkten Tür und Tor geöffnet. Darüber hinaus haben die Finanzinstitutionen durch leichtfertige Kreditvergabe, unverantwortlichen Umgang mit dem Verbriefen von Forderungen und durch den ausgeuferten Einsatz von Derivaten, so genannten Risikoabsicherungen, die Entwicklung begünstigt.
„,There is no free Lunch!‘ – es gibt nichts umsonst – gilt auch für den Hegemonialstatus der USA. Der Preis ist die weltweite Finanzkrise.“
Es gibt nun mehrere Szenarien, wie die globale Finanzkrise weiter verlaufen könnte. Im besten Fall stabilisiert sich die Entwicklung ab Herbst 2008. Da es allerdings noch keine starken konjunkturellen Auswirkungen gegeben hat, die Krise aber den Märkten weiter Kapital entziehen wird, ist eher mit langfristigeren Auswirkungen bis Sommer 2009 zu rechnen. Dieser Fall ist umso wahrscheinlicher, als sich derzeit weltweit die Rezessionstendenzen verstärken. Im schlimmsten Fall führt die Situation wie 1929 in eine Weltwirtschaftskrise.
„Der Sprint und der gedopte Sprint in der Fokussierung auf kurzfristige Gewinnmaximierung, mit denen wir heute an den Finanzmärkten konfrontiert sind, stehen meines Erachtens im Widerspruch zu den Anforderungen an nachhaltiges Wirtschaften.“
Auch bei Eintritt des günstigsten Szenarios werden die Finanzmärkte künftig weiterhin von einigen gravierenden Auswirkungen geprägt werden. Die bedeutendste ist ein Klima des Misstrauens. Da die Banken ihre tatsächliche wirtschaftliche Situation nicht offenlegen, bleibt die Gefahr weiterer Krisen bestehen. Die Zentralbanken werden ihre Politik der Finanzspritzen für strauchelnde Märkte aufrechterhalten. Jedoch werden die Banken Kredite nicht mehr so leichtfertig vergeben und Risiken realistischer bewerten. Gleichzeitig sorgt die abnehmende konjunkturelle Entwicklung in der Welt für sinkende Inflationsraten. Als vierte wichtige Auswirkung wird die Anlage in Gold wieder zu einer risikosicheren Investition. Ob aber die Ursachen und nicht nur die Symptome der aktuellen Finanzkrise tatsächlich behoben werden, hängt vor allem von den USA ab. Mit der Wahl des nächsten US-Präsidenten könnte das Land den Startschuss für eine ganz neue globale Finanzstruktur geben.