Wie Starbucks den Amerikanern Kaffeehauskultur beibrachte
Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Gerade erfolgreiche Unternehmen sind oft so mit dem Tagesgeschäft beschäftigt, dass sie den Innovationszug verpassen, der mit viel Getöse direkt vor ihren Augen vorbeirattert. Manchmal genügt ein Blick über den Tellerrand, um Innovationen zu finden, wo man nie welche vermutet hätte. Beispiel Starbucks: Gründer Howard Schultz gelang mit seinem Unternehmen ein Kunststück. Er schaffte es, den Amerikanern eine Kaffeehauskultur beizubringen, die er auf seinen Reisen durch Italien kennen gelernt hatte. Dem Durchschnittsamerikaner war sie aber völlig fremd. In Metropolen wie New York gibt es so viele Möglichkeiten, sich einen Kaffee zu ziehen, dass es fast wie ein Wunder anmutet, dass Starbucks es in einem solchen Wettbewerbsumfeld geschafft hat. Und nicht nur das: Binnen kurzer Zeit wurde das Unternehmen zum Platzhirsch. Liegt es am Kaffee? Nein, es liegt in erster Linie an einem konsequent kundenorientierten Marketing. Jede Starbucks-Filiale ist ein „third place“, ein Ort zwischen Büro und Wohnung, den Amerikaner gerne aufsuchen, um dort nicht nur Kaffee zu trinken, sondern auch Freunde zu treffen, per WLAN E-Mails zu checken oder einfach zu entspannen. Schultz hatte erkannt, dass es in Italien zum Ritual des Alltags gehört, seinen Espresso in einem Kaffeehaus zu trinken. Er gab den Amerikanern dieses Ritual weiter. Er holte sie in ihrem Alltag ab.
Der episodische Verhaltenscode
Den Kundenalltag beobachten: Das ist das zentrale Motiv einer Marktforschung, die es sich zum Ziel gemacht hat, den episodischen Verhaltenscode der Kunden zu erforschen. Episodischer Verhaltenscode bedeutet, dass Sie den Alltag Ihrer Kunden kennen lernen müssen. Fragen Sie sich also, wann Ihre Kunden welchen Aktivitäten nachgehen, warum sie es tun und in welchem Kontext dies geschieht. Alles was Menschen tun, nimmt eine bestimmte Zeit in Anspruch. Es sind Episoden in ihrem täglichen Leben. Sie machen das Frühstück, bringen die Kinder zur Schule, kaufen Lebensmittel für das Mittagessen ein, gönnen sich unterwegs einen Snack usw. Wenn Sie dem Alltag Ihrer Kunden auf die Spur kommen wollen, sollten Sie sich die Episoden ihres Lebens anschauen. Die Segmentierung nach Lebensstil, regionalen und sozialen Kriterien, die von der Marktforschung üblicherweise verwendet werden, können Sie hingegen getrost vergessen. Versuchen Sie, die bereits existierenden Angebote Ihres Unternehmens auszublenden. Schließlich geht es bei dieser Marktforschungsmethode darum, innovative Lösungen zu finden, die vielleicht gar nichts mit Ihren aktuellen Produkten zu tun haben. Wenn Sie immer nur durch die Brille Ihres bereits vorhandenen Produktportfolios schauen, werden Sie nie auf neue und ungewöhnliche Ideen kommen.
Dem Kundenalltag auf die Schliche kommen
Episodisches Verhalten besteht aus drei Basiselementen:
- Ziele sind die Dinge, die Menschen (mit Produkten) erreichen wollen, beispielsweise soll der Spülgang in der Waschmaschine den Geruch des Waschmittels aus der Kleidung verringern.
- Aktivitäten sind die Tätigkeiten, um diese Ziele zu erreichen. Sie können vielfältig sein: Kleidung wird beispielsweise nicht nur getragen, sondern auch gewaschen, getrocknet, gebügelt und aufbewahrt. Hier offenbaren sich schon einige mögliche Dienstleistungen oder Produktideen.
- Prioritäten schließlich geben an, wie wichtig Verbraucher Ziele oder Aktivitäten nehmen. Entscheidend ist, welche Prioritäten sich im Handeln zeigen. So wünschen sich z. B. die meisten Amerikaner laut Umfragen eine gesunde Ernährung, stopfen aber in Wirklichkeit dann doch Fastfood in sich hinein.
„Neue Möglichkeiten liegen direkt vor der eigenen Nase, man schaut darauf, aber man sieht sie nicht.“
Am Beginn der Marktforschung müssen Sie diese drei Elemente identifizieren. Dafür steht Ihnen die gesamte Bandbreite der Marktforschungsmethoden – von Tiefeninterviews bis zum Rollenspiel – zur Verfügung. Besonders wichtig sind Tagebuchaufzeichnungen, bei denen die Probanden genau festhalten, was sie wann mit wem tun. Hierbei wird vor allem der Kontext ihrer Verhaltensweisen deutlich. Beispielswiese kann so herausgefunden werden, wann Kunden am liebsten eine bestimmte Biersorte trinken.
Wie man aus Verhaltenscodes Marktchancen macht
Die gefundenen Verhaltenscodes verdichten Sie zu Nachfrageclustern. Ein solches Cluster könnte z. B. „sich gesund ernähren“ sein, das mehrere entsprechende Verhaltensweisen in sich vereint. An dieser Stelle kommt auch die traditionelle Marktforschung zum Zug: Die Nachfragecluster können mit den Kundendaten gefüttert werden, die meist ohnehin im Unternehmen vorhanden sind. Schließlich untersuchen Sie die Cluster auf ihren strategischen Wert: Wie attraktiv sind die Märkte? Welche Produkte werden von welchen Kunden bevorzugt? Wo herrscht eine direkte Konkurrenz zu anderen Produkten? Der amerikanische Knabberwaren-Produzent Frito-Lay fand auf diese Weise beispielsweise heraus, dass seine Kartoffelchips insbesondere in kleineren Geschäften die Konkurrenz von Plätzchen und Fleischsnacks zu fürchten hatten. Außerdem musste das Unternehmen nach der Auswertung von Videoaufnahmen am Point of Sale eine fest zementierte Marketing-Hausregel umstürzen: Viele Kunden kauften Knabbersachen gar nicht spontan – so die Annahme –, sondern geplant und systematisch. Das hatte Folgen vor allem für die Platzierung der Waren.
Neue Märkte finden und Wachstumsfelder entwickeln
Der episodische Verhaltenscode ist eines von drei Elementen des DIG-Wachstumsmodells. DIG steht für „Demand-first Innovation and Growth“, also Wachstum, dass von der Nachfrage ausgeht und durch Innovationen angestoßen wird. Die beiden weiteren Bestandteile des DIG-Modells sind Wachstumsfelder und Erfolgsstrategien. Manchmal erkennen Kunden selber nicht, ob sie einen Bedarf für etwas haben, bis Ihnen plötzlich eine neue Möglichkeit offeriert wird und sie sofort darauf eingehen. Unternehmen müssen also aktiv werden und Produktchancen dort auftun, wo selbst der Kunde noch keine sieht. Im DIG-Modell werden solche Chancen als Wachstumsfelder beschrieben. Wachstumsfelder können Sie aus verschiedenen Perspektiven ermitteln. Mit den Augen der Kunden lassen sich beispielsweise neue Produktideen in angrenzenden Aktivitätsfeldern finden. So fand die Allianz Versicherung heraus, dass viele Privathaftpflicht-Kunden mit Kindern häufig Erste-Hilfe-Kurse besuchen und noch dazu eine Wohngebäudeversicherung wünschen. Was lag also näher, als entsprechende Kurse mit einer intensiven Versicherungsberatung zu kombinieren?
Üben Sie den Perspektivenwechsel
Mit den Augen des Marktes eröffnen Sie sich ebenfalls neue Perspektiven. Fragen Sie sich z. B., was Ihre Kunden machen würden, wenn es Ihr Produkt gar nicht gäbe. Ein Bierhersteller erkannte auf diesem Wege, dass Kunden nicht nur andere Biersorten, sondern auch Wein oder gar Mineralwasser als Ersatzgetränke nannten, und wusste nun genau, gegen welche Konkurrenten er sich besonders wappnen musste. Auch die Branchenperspektive kann zu Wachstumsfeldern führen. Der Einzelhändler Lidl stellte beispielsweise die branchenübliche Annahme infrage, dass Discounter nur Hausmarken und No-Name-Produkte anbieten dürften. Lidls eigene Mischung aus bekannten Marken und Eigenmarken kam bei den Kunden toll an. Ein anderes Beispiel: Als General Electric die finnische Medizintechnikfirma Instrumentarium übernahm, erfolgte dies vor allem aus einem Grund: Die Medizinsektion von GE wollte die Methoden, Kompetenzen, Produkte und Dienstleistungen des erworbenen Unternehmens dazu nutzen, um Wachstum innerhalb des Medizinsektors voranzutreiben. GE ging es nicht in erster Linie um die fertigen Dienste, sondern man sah die Akquisition als Wachstumsplattform für zukünftige Dienstleistungen. Eine solche Plattform bewahrt das Unternehmen davor, kurzfristige Einzelaktionen durchzuführen, und fokussiert es stattdessen auf ein ganzes System von Lösungen, die nahtlos ineinander greifen und gleichzeitig Raum für weitere Innovationen bieten.
Entwerfen Sie Erfolgsstrategien
Es genügt nicht, kontinuierlich Ihre vorhandenen Produkte zu optimieren und verschiedene Wachstumsfelder zu bestimmen. Sie müssen zur Tat schreiten und Erfolgsstrategien aufstellen, die Ihr zukünftiges Handeln leiten sollen. Mithilfe eines „Strategic Blueprint“ können Sie Ihre Wachstumsplattformen gewichten und ausrichten. Wenn Sie bereits wissen, wie Ihre Kunden ticken und in welchen Märkten Sie wachsen wollen und können, benötigen Sie nicht nur eine Strategie, sondern auch einen Aktivierungsplan, der entsprechende Schritte vorsieht. Die State Street Bank kam auf diese Weise zu einer strategischen Neuausrichtung des Vertriebs, der grundlegend reorganisiert wurde. Verärgerte Kunden, die früher innerhalb kurzer Zeit mehrfach wegen verschiedener Produktangebote angerufen wurden, gehörten bald der Vergangenheit an.
Erfinden Sie sich immer wieder neu
Hinterfragen Sie stets aufs Neue Ihre Annahmen. Ihre Strategie ist überarbeitet, der Markenaufbau geht flott voran, die Marktforschung rotiert und die Produktion ist angelaufen? Dann sind Sie gut aufgestellt. Aber richten Sie sich im Status quo nicht allzu gemütlich ein. Sie sollten immer wieder Ihre Marken und Produkte hinterfragen. Wie der Computerspiel-Produzent Electronic Arts: Das Unternehmen ist hochprofitabel und konnte vor allem mit seinen Sportsimulationen große Erfolge feiern. Doch die Branche der elektronischen Unterhaltung verändert sich ständig, daher muss der Betrieb permanent überprüfen, ob seine Geschäftsmodelle noch funktionieren. Ist das Unternehmen ein Games-Produzent, oder doch ein Sporthersteller? Oder ein Medienunternehmen? Oder gar alles zusammen? Das Unternehmen muss nicht nur seine Branche hinterfragen, sondern auch seine Funktion im Leben der Menschen, in ihrem episodischen Verhaltenscode. So gesehen verkauft Electronic Arts nicht Spiele, sondern Freizeitvergnügen und sportliche Herausforderungen.
„Auf der Suche nach einer neuen Innovation- und Wachstumsstrategie muss ein Unternehmen alle drei Teile des DIG-Modells anwenden.“
Eine Marke ist nur etwas wert, wenn es gelingt, sie zum Erlebnis zu machen und fest in der Kultur zu verankern. BMW hat die Zeichen der Zeit erkannt und tut alles, damit auch die Mitarbeiter des Automobilkonzerns erfahren, wie sich die Marke entwickelt. Dafür wurde die Brand Academy im Münchner Hauptquartier geschaffen. Die einzelnen Marken und Produkte präsentieren sich hier in Räumen, die so eingerichtet sind, dass sie den Stil der jeweiligen Zielgruppe abbilden. Manager, Händler und Mitarbeiter können hier selbst erfahren, welche Markenwerte die BMW-Gruppe in ihrem „House of Brands“ vereint.
„Es gilt, Produkte und Dienstleistungen für die Kunden zu suchen und nicht umgekehrt.“
Um eine Marke zu einem Kulturgut zu machen, müssen Sie sich vom klassischen Marketingtrichter verabschieden, bei dem oben eine große Menge Menschen hineinfällt und mit Marketingbotschaften traktiert wird, bis unten die paar herauskommen, die letztlich kaufen. Erreicht werden sollen nicht Massen mit einer einzigen Botschaft für alle (z. B. über TV-Spots, Plakataktionen, Anzeigen), sondern Individuen, und zwar mit zahlreichen gezielten Botschaften. Das kann über Werbung per Newsletter, Werbe-Pop-ups, Viral Marketing, Mobile Marketing, Mundpropaganda usw. geschehen. Hauptsache: Die Botschaft kommt da an, wo die Kunden sind, und kann in ihren Alltag integriert werden.
Dr. Erich Joachimsthaler ist Gründer und CEO von Vivaldi Partners, einer auf Strategiefindung, Innovationsmanagement und Marketing spezialisierten Unternehmensberatung. Er ist auch Koautor des Buches Brand Leadership.