Marx trifft Marx
Wir sind wieder bei Marx angekommen: Viele extreme Entwicklungen des globalen Kapitalismus hat der 1883 verstorbene Philosoph vorhergesagt. Der Siegeszug des Kapitals, seine grenzenlose Vermehrung und seine Konzentration in immer weniger Händen scheinen unaufhaltsam. Fast bekommt man den Eindruck, als wäre die soziale Marktwirtschaft nur ein kurzer Traum gewesen – zumindest behaupten das viele Protagonisten der Globalisierung. Stimmen aber auch die Prognosen, die Karl Marx bereits im 19. Jahrhundert aus seinen Erkenntnissen ableitete? Muss der Kapitalismus an sich selbst scheitern?
Soziale Spannungen nehmen zu
Die zunehmende Ungleichheit, der wachsende Gegensatz zwischen wenigen Superreichen und einem Heer von Armen bedroht heute die Stabilität vieler Länder. Unternehmen wählen ihre Standorte danach, wo die Arbeitskräfte am billigsten sind. Ladenketten verdrängen individuelle Geschäfte. Staaten werden unter Druck gesetzt, um ihre Märkte für globale Konzerne zu öffnen, die anschließend mit den kleinen lokalen Konkurrenten leichtes Spiel haben. In Deutschland erhielten im Sommer 2008 fünf Millionen Menschen Sozialhilfe – weitere zwei Millionen haben ebenfalls Anspruch darauf, setzen ihn jedoch aus Scham, Stolz oder mangelnder Kenntnis nicht durch.
„Wirtschaftliche Stabilität ist unbestreitbar wichtig, soziale Stabilität ist aber mindestens genauso wichtig.“
Zugleich bedient sich das kapitalistische System ungehemmt aus öffentlichen Quellen, wenn es zu Pannen kommt: Die Bankenkrise, verursacht von wenigen Managern, kommt uns alle teuer zu stehen. Soziale Unruhen, politischer Extremismus und Terrorismus sind die negativen Folgen dieser scheinbar irreversiblen Entwicklung.
Revolution bedeutet noch mehr Ungerechtigkeit
Wer jetzt mit den Schriften des Philosophen Marx den nahen Untergang postuliert, irrt. Denn Marx hat nicht zu Ende gedacht, er hat die Natur des Menschen außer Acht gelassen. Seine Utopie des Kommunismus als Alternative zum Privateigentum an Produktionsmitteln kann nicht funktionieren. Es kommt auch gar nicht darauf an, das System umzustürzen, wie es nach Marx unabwendbar schien – solche Wege führen in der Realität regelmäßig in die Diktatur und damit zu noch mehr Ungerechtigkeit.
Christliche Sozialwissenschaft
Marx und seinen Lehren steht die christliche Sozialwissenschaft entgegen, die den Kapitalismus nicht abschaffen, wohl aber reformieren will. Sie lehnt die Gier als Sünde ab, weil sie den Wert der Freiheit missbraucht. Kirchliche Repräsentanten haben die Auswüchse des Kapitalismus sogar schon lange vor Marx benannt und auch öffentlich kritisiert. Ihnen schwebte und schwebt das vor, was viele heute offenbar wieder zu Grabe tragen wollen: die soziale Marktwirtschaft mit verbindlichen Regeln für das Kapital. Eine bessere Gesellschaftsordnung hat auf Erden bisher nicht existiert.
„Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, und die ehemals breite, sozial abgesicherte Mittelschicht gerät unter Druck.“
Die Würde des Menschen ist unantastbar – dieses elementare Menschenrecht ist hoch aktuell angesichts einer wirtschaftlichen Entwicklung, deren Protagonisten mit der Freiheit im Munde die Würde vieler Menschen mit Füßen treten – und damit auch die Freiheit, denn Armut ist das Ende jeder Freiheit. Die christliche Sozialwissenschaft wird heute an den meisten theologischen Fakultäten gelehrt und weiter entwickelt.
Wirtschaftliche und persönliche Freiheit
Die Aufklärung hat den Begriff der Freiheit nicht ausreichend definiert. Darum wurde und wird oft vergessen, dass Freiheit ohne materielle Absicherung eine rein theoretische Größe ist. Mehr noch: Die Befreiung der Wirtschaft, eine Errungenschaft der Moderne, hat sukzessive zur Bedrohung der individuellen Freiheit geführt. Am Anfang stand die von Adam Smith entwickelte und bis heute immer wieder vorgebrachte Theorie, dass der ausschließlich nach Eigeninteressen handelnde Homo oeconomicus durch seinen Egoismus unbewusst auch den besten Beitrag für die Allgemeinheit leiste. Was für ein Unsinn: Nicht erst Fälle wie Enron oder Worldcom haben gezeigt, dass ungezügelte wirtschaftliche Freiheit mitnichten zu einem Gewinn für die Allgemeinheit führt. Der starke Staat, von den Wirtschaftsliberalen stets misstrauisch beäugt, ist als Kontrolleur der Wirtschaft unerlässlich.
Der Wettbewerb
Es ist jedoch falsch, jede Form von sozialer Not und Ungleichheit dem Kapitalismus vorzuwerfen. So waren etwa zu Zeiten von Adam Smith Armut und Elend auch in Ländern verbreitet, die bis dahin keinerlei kapitalistische Entwicklung durchgemacht hatten. Daher ist der Vorstoß des Staates, Mindestlöhne per Gesetz festzuschreiben, nicht grundsätzlich zu bejubeln. Viele Faktoren spielen bei der Lohnfindung eine Rolle, und wenn Unternehmen aufgrund zu hoher Arbeitskosten im Wettbewerb nicht bestehen können, werden durch solche Maßnahmen von oben am Ende sogar Arbeitsplätze vernichtet, was die Armut nur vergrößert. Wettbewerb an sich ist nicht schlecht, doch er muss letztlich allen nützen. Bereits 1931 hat Papst Pius XI. in einer Enzyklika verkündet: „Die Wettbewerbsfreiheit – obwohl innerhalb der gehörigen Grenzen berechtigt und von zweifellosem Nutzen – kann unmöglich regulatives Prinzip der Wirtschaft sein.“
Wirtschaft muss den Menschen dienen
Ein Kennzeichen der zunehmenden Armut ist die hohe Verschuldung einer wachsenden Anzahl von Haushalten. Immer mehr Menschen sitzen in der Schuldenfalle. Was viele nicht wissen: Bis in die frühe Neuzeit haben die katholische Kirche und maßgebliche Reformatoren das gewerbliche Zinsnehmen verurteilt, um die Unfreiheit zu bekämpfen. Heute bezweifelt auch innerhalb der Kirche niemand mehr, dass die Kreditaufnahme für unternehmerisches Handeln essenziell ist, doch immer mehr Finanzierungsangebote grenzen an Betrug. Auf der Jagd nach dem Geld der Leute wenden die Banken geradezu abenteuerliche Methoden an: Hauskäufern werden Schrottimmobilien angedreht, Anleger werden zum Kauf von wertlosen Unternehmensaktien überredet. Die kurzfristige Profitmaximierung steht im Vordergrund. Folge: Statt Nachhaltigkeit und Vertrauen nur noch Angst und Skepsis.
„Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste werden sozialisiert.“
Das darf nicht sein, die Wirtschaft muss stets dem Nutzen aller Menschen dienen. In der katholischen Soziallehre ist vom „Sachziel der Wirtschaft“ die Rede. So wie in der freiheitlichen Demokratie radikale Strömungen notfalls ihrer Freiheit beraubt werden dürfen, damit sie die Demokratie nicht schädigen, müssen in einer freien Wirtschaft diejenigen, die diese Freiheiten missbrauchen, unschädlich gemacht werden.
Der Kapitalismus ist familienfeindlich
Der ungehemmte Kapitalismus schadet vor allem Familien. Denn wo Menschen nur dann einen Wert besitzen, wenn sie zur Wertschöpfung beitragen, haben Kinder keine Zukunft. Diese menschenfeindliche Sichtweise ist bereits tief im politischen System verwurzelt: Auch für den Staat zählt vor allem der Steuerzahler – wer dazu nicht in der Lage ist, wird vernachlässigt. Dabei ignoriert das System völlig, dass es sich damit von seinem Lebenselixier abschneidet. Immer weniger Menschen haben heutzutage den Mut, eine Familie zu gründen und damit das Risiko einzugehen, sich durch zusätzliche Kosten und drohende Arbeitslosigkeit in die Armut zu stürzen. Und gerade für Kinder ist Armut mehr als eine vorübergehende Belastung. Sie bedeutet zumeist einen Mangel an Bildung und damit an Perspektiven und Chancen. So wird Armut zum Fatum für das ganze Leben.
„Das Beste, was Bildung leisten kann, ist Menschen in klaren Werthaltungen zu verwurzeln, sie zu beziehungsfähigen, innerlich reichen Persönlichkeiten zu bilden.“
Immer mehr Kinder in Deutschland leben in Armut – und werden sie voraussichtlich ein Leben lang nicht mehr loswerden, denn Chancen- und Perspektivlosigkeit werden vererbt. Es geht in der heutigen Gesellschaft gar nicht mehr so sehr um oben und unten, sondern um drinnen und draußen. Die Armen sind draußen und wissen es. Für niedrig Qualifizierte gibt es immer weniger Jobs. Mehr als 10 % der Jugendlichen in Deutschland gehen ohne Abschluss von der Schule ab – ein Skandal. Es darf allerdings auch nicht zugelassen werden, dass Bildung in der öffentlichen Diskussion nur als Mittel zur Qualifikation gesehen wird. Kinder sollen nicht zur Schule gehen, um baldmöglichst optimal zu funktionieren und Gewinn zu bringen, sondern um ihre Persönlichkeit zu entwickeln und sich sozial entfalten zu können.
Ein neuer New Deal
Unser bisheriger Gesellschaftsvertrag war erkennbar an Dingen wie sicheren Arbeitsplätzen, festen Lohnsteigerungen, Chancen auf Wiedereinstellung nach Jobverlust. Diese Garantien fallen heute weg. Zum Teil ist die Globalisierung dafür verantwortlich, dass der Vorsprung der westlichen Industriestaaten dahinschrumpft. Doch auch Solidarität und Vertrauen schwinden in einem System, dass sich der Kontrolle immer mehr entzieht und verrückt zu spielen scheint. Aus dem Vertrauensverlust resultieren Krisen wie die derzeitige, die Unternehmen und Existenzen verschlingt.
„Nach wie vor gelten Kinder vielfach als bloßes ‚Privatvergnügen‘ und die familienpolitischen Leistungen des Staates als Subventionen von Familien.“
Manche Politiker begehen heute den gleichen Fehler wie ihre Vorläufer zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise: Sie beschwören die Selbstheilungskräfte des Marktes und ignorieren die akuten Probleme der Menschen. Damals brachte Franklin D. Roosevelt als einziger etwas Neues, indem er den New Deal verkündete: Die wirtschaftliche und soziale Struktur wurde umkonstruiert, um bessere Bedingungen für jedermann zu schaffen. Heute stehen wir wieder vor einem Markt, der aus den Fugen geraten ist, und wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag, einen neuen New Deal.
Soziale Gerechtigkeit
Es geht um die soziale Gerechtigkeit, deren Gewährleistung überwacht werden muss. Auf globaler Ebene müssen Kontrollgremien mit mehr Kompetenz ausgestattet werden, damit die Macht der globalen Konzerne beschränkt wird. In Deutschland sollte eine Gruppe unabhängiger Experten – ähnlich wie die so genannten Wirtschaftsweisen, die den ökonomischen Zustand des Landes begutachten – ein Auge auf die soziale Entwicklung haben, Probleme benennen und die Regierung bei der Suche nach Lösungen beraten. Die Gesellschaft muss sich vermehrt der Aufgabe widmen, Arbeitslose neu zu qualifizieren, zu motivieren und anzuleiten. Und da Vollbeschäftigung am ersten Arbeitsmarkt auch in Zukunft eine Illusion bleiben wird, sollte Arbeitslosen mittels staatlich unterstützter Jobs Beschäftigung angeboten werden.
„Ohne den sozialstaatlichen Ausgleich der Klassengegensätze, die im Frühkapitalismus geherrscht hatten, hätte die Marktwirtschaft im Kampf mit dem Sozialismus sicher den Kürzeren gezogen.“
Unternehmen sollten an diesem zweiten Arbeitsmarkt ebenfalls teilnehmen dürfen. Erleichtert werden kann deren Engagement durch Zuschüsse für Integrationsarbeitsplätze oder Lohnkosten-Subventionen. Diese Subventionen fließen direkt in die Wirtschaft und fördern somit deren Wachstum. Durch diese Maßnahmen würde der Staat Arbeitslosengeld einsparen und zusätzlich Steuern und Sozialabgaben einnehmen. Zugleich würde das Gesundheitssystem entlastet, da Langzeitarbeitslose erheblich häufiger erkranken als Berufstätige. Und schließlich ließe sich so die Schwarzarbeit reduzieren.