Das Kapital

Buch Das Kapital

Ein Plädoyer für den Menschen

Pattloch,


Rezension

Der Titel ist etwas hochtrabend: Die Na­mensgle­ich­heit zwischen dem Verfasser des berühmten Kapitals von 1867 und ihm selbst nimmt Bischof Reinhard Marx zum Anlass, sein eigenes Buch ebenso zu nennen. Der etwas fade Gag könnte manchen dazu bewegen, das Werk gleich wieder wegzulegen. Zu Unrecht: Nach einer ziemlich bemühten Ansprache des Autors an den ver­stor­be­nen Na­mensvet­ter zeigt sich, dass Reinhard Marx zu mehr in der Lage ist, als aus seinem Namen Kapital zu schlagen. Aus seiner Stre­itschrift spricht ein christlicher Glaube, der mitten im Leben steht und dessen Fragen ungewohnt offen angeht. Marx sieht die wirtschaftlichen Verhältnisse mit klarem Blick, und er zieht daraus ebenso klare Schlüsse. Etwas unklar bleibt nur, wie es nach der Analyse weitergehen soll. Revolution ist wohl keine Lösung, doch als Alternative zu Marx (Karl) hätte man von Marx (Reinhard) etwas konkretere Ideen erwartet. Trotzdem: BooksInShort empfiehlt das Buch allen, die sich für die sozialpoli­tis­che Position der Kirche in­ter­essieren – eine durchaus be­denkenswerte Position, jenseits von Marxismus und blinder Marktgläubigkeit.

Take-aways

  • Das Christentum bietet eine Alternative zu den gängigen Wirtschaft­s­the­o­rien: die christliche Sozial­wis­senschaft.
  • Marxismus und Christentum stimmen in ihrer Kritik am ungehemmten Kap­i­tal­is­mus, der die Freiheit des Einzelnen bedroht, überein.
  • Sie gehen jedoch auseinander in der Frage, wie die Probleme zu lösen sind.
  • Armut ist das Einfallstor für Unfreiheit.
  • Gerade für Familien und Kinder bedeutet Armut oft dauerhafte Chan­cen­losigkeit.
  • Der Kommunismus ist keine Lösung, weil er die menschliche Natur missver­steht.
  • Die Kirche steht der freien Mark­twirtschaft grundsätzlich positiv gegenüber – sofern sie dem Wohl aller dient.
  • Damit die Freiheit erhalten bleibt, müssen diejenigen bekämpft werden, die den Markt miss­brauchen.
  • Ein Ex­perten­gremium, ähnlich den fünf Wirtschaftsweisen, sollte über die soziale Entwicklung wachen.
  • Die Macht der globalen Konzerne braucht ein Gegengewicht: globale In­sti­tu­tio­nen.
 

Zusammenfassung

Marx trifft Marx

Wir sind wieder bei Marx angekommen: Viele extreme En­twick­lun­gen des globalen Kap­i­tal­is­mus hat der 1883 verstorbene Philosoph vorherge­sagt. Der Siegeszug des Kapitals, seine grenzenlose Vermehrung und seine Konzen­tra­tion in immer weniger Händen scheinen unaufhalt­sam. Fast bekommt man den Eindruck, als wäre die soziale Mark­twirtschaft nur ein kurzer Traum gewesen – zumindest behaupten das viele Pro­tag­o­nis­ten der Glob­al­isierung. Stimmen aber auch die Prognosen, die Karl Marx bereits im 19. Jahrhundert aus seinen Erken­nt­nis­sen ableitete? Muss der Kap­i­tal­is­mus an sich selbst scheitern?

Soziale Spannungen nehmen zu

Die zunehmende Un­gle­ich­heit, der wachsende Gegensatz zwischen wenigen Su­per­re­ichen und einem Heer von Armen bedroht heute die Stabilität vieler Länder. Unternehmen wählen ihre Standorte danach, wo die Arbeitskräfte am billigsten sind. Ladenketten verdrängen in­di­vidu­elle Geschäfte. Staaten werden unter Druck gesetzt, um ihre Märkte für globale Konzerne zu öffnen, die anschließend mit den kleinen lokalen Konkur­renten leichtes Spiel haben. In Deutschland erhielten im Sommer 2008 fünf Millionen Menschen Sozialhilfe – weitere zwei Millionen haben ebenfalls Anspruch darauf, setzen ihn jedoch aus Scham, Stolz oder mangelnder Kenntnis nicht durch.

„Wirtschaftliche Stabilität ist unbe­stre­it­bar wichtig, soziale Stabilität ist aber mindestens genauso wichtig.“

Zugleich bedient sich das kap­i­tal­is­tis­che System ungehemmt aus öffentlichen Quellen, wenn es zu Pannen kommt: Die Bankenkrise, verursacht von wenigen Managern, kommt uns alle teuer zu stehen. Soziale Unruhen, politischer Extremismus und Terrorismus sind die negativen Folgen dieser scheinbar ir­re­versiblen Entwicklung.

Revolution bedeutet noch mehr Un­gerechtigkeit

Wer jetzt mit den Schriften des Philosophen Marx den nahen Untergang postuliert, irrt. Denn Marx hat nicht zu Ende gedacht, er hat die Natur des Menschen außer Acht gelassen. Seine Utopie des Kommunismus als Alternative zum Pri­vateigen­tum an Pro­duk­tion­s­mit­teln kann nicht funk­tion­ieren. Es kommt auch gar nicht darauf an, das System umzustürzen, wie es nach Marx unabwendbar schien – solche Wege führen in der Realität regelmäßig in die Diktatur und damit zu noch mehr Un­gerechtigkeit.

Christliche Sozial­wis­senschaft

Marx und seinen Lehren steht die christliche Sozial­wis­senschaft entgegen, die den Kap­i­tal­is­mus nicht abschaffen, wohl aber reformieren will. Sie lehnt die Gier als Sünde ab, weil sie den Wert der Freiheit missbraucht. Kirchliche Repräsentanten haben die Auswüchse des Kap­i­tal­is­mus sogar schon lange vor Marx benannt und auch öffentlich kritisiert. Ihnen schwebte und schwebt das vor, was viele heute offenbar wieder zu Grabe tragen wollen: die soziale Mark­twirtschaft mit verbindlichen Regeln für das Kapital. Eine bessere Gesellschaft­sor­d­nung hat auf Erden bisher nicht existiert.

„Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, und die ehemals breite, sozial ab­gesicherte Mit­telschicht gerät unter Druck.“

Die Würde des Menschen ist unantastbar – dieses elementare Men­schen­recht ist hoch aktuell angesichts einer wirtschaftlichen Entwicklung, deren Pro­tag­o­nis­ten mit der Freiheit im Munde die Würde vieler Menschen mit Füßen treten – und damit auch die Freiheit, denn Armut ist das Ende jeder Freiheit. Die christliche Sozial­wis­senschaft wird heute an den meisten the­ol­o­gis­chen Fakultäten gelehrt und weiter entwickelt.

Wirtschaftliche und persönliche Freiheit

Die Aufklärung hat den Begriff der Freiheit nicht ausreichend definiert. Darum wurde und wird oft vergessen, dass Freiheit ohne materielle Absicherung eine rein the­o­retis­che Größe ist. Mehr noch: Die Befreiung der Wirtschaft, eine Er­run­gen­schaft der Moderne, hat sukzessive zur Bedrohung der in­di­vidu­ellen Freiheit geführt. Am Anfang stand die von Adam Smith entwickelte und bis heute immer wieder vorge­brachte Theorie, dass der ausschließlich nach Eigen­in­ter­essen handelnde Homo oeconomicus durch seinen Egoismus unbewusst auch den besten Beitrag für die All­ge­mein­heit leiste. Was für ein Unsinn: Nicht erst Fälle wie Enron oder Worldcom haben gezeigt, dass ungezügelte wirtschaftliche Freiheit mitnichten zu einem Gewinn für die All­ge­mein­heit führt. Der starke Staat, von den Wirtschaft­slib­eralen stets mis­strauisch beäugt, ist als Kontrolleur der Wirtschaft unerlässlich.

Der Wettbewerb

Es ist jedoch falsch, jede Form von sozialer Not und Un­gle­ich­heit dem Kap­i­tal­is­mus vorzuwerfen. So waren etwa zu Zeiten von Adam Smith Armut und Elend auch in Ländern verbreitet, die bis dahin keinerlei kap­i­tal­is­tis­che Entwicklung durchgemacht hatten. Daher ist der Vorstoß des Staates, Mindestlöhne per Gesetz festzuschreiben, nicht grundsätzlich zu bejubeln. Viele Faktoren spielen bei der Lohnfindung eine Rolle, und wenn Unternehmen aufgrund zu hoher Ar­beit­skosten im Wettbewerb nicht bestehen können, werden durch solche Maßnahmen von oben am Ende sogar Arbeitsplätze vernichtet, was die Armut nur vergrößert. Wettbewerb an sich ist nicht schlecht, doch er muss letztlich allen nützen. Bereits 1931 hat Papst Pius XI. in einer Enzyklika verkündet: „Die Wet­tbe­werb­s­frei­heit – obwohl innerhalb der gehörigen Grenzen berechtigt und von zweifel­losem Nutzen – kann unmöglich regulatives Prinzip der Wirtschaft sein.“

Wirtschaft muss den Menschen dienen

Ein Kennzeichen der zunehmenden Armut ist die hohe Ver­schul­dung einer wachsenden Anzahl von Haushalten. Immer mehr Menschen sitzen in der Schulden­falle. Was viele nicht wissen: Bis in die frühe Neuzeit haben die katholische Kirche und maßgebliche Re­for­ma­toren das gewerbliche Zinsnehmen verurteilt, um die Unfreiheit zu bekämpfen. Heute bezweifelt auch innerhalb der Kirche niemand mehr, dass die Kred­i­tauf­nahme für un­ternehmerisches Handeln essenziell ist, doch immer mehr Fi­nanzierungsange­bote grenzen an Betrug. Auf der Jagd nach dem Geld der Leute wenden die Banken geradezu aben­teuer­liche Methoden an: Hauskäufern werden Schrot­tim­mo­bilien angedreht, Anleger werden zum Kauf von wertlosen Un­ternehmen­sak­tien überredet. Die kurzfristige Prof­it­max­imierung steht im Vordergrund. Folge: Statt Nach­haltigkeit und Vertrauen nur noch Angst und Skepsis.

„Die Gewinne werden pri­vatisiert, die Verluste werden sozial­isiert.“

Das darf nicht sein, die Wirtschaft muss stets dem Nutzen aller Menschen dienen. In der katholis­chen Soziallehre ist vom „Sachziel der Wirtschaft“ die Rede. So wie in der frei­heitlichen Demokratie radikale Strömungen notfalls ihrer Freiheit beraubt werden dürfen, damit sie die Demokratie nicht schädigen, müssen in einer freien Wirtschaft diejenigen, die diese Freiheiten miss­brauchen, unschädlich gemacht werden.

Der Kap­i­tal­is­mus ist fam­i­lien­feindlich

Der ungehemmte Kap­i­tal­is­mus schadet vor allem Familien. Denn wo Menschen nur dann einen Wert besitzen, wenn sie zur Wertschöpfung beitragen, haben Kinder keine Zukunft. Diese men­schen­feindliche Sichtweise ist bereits tief im politischen System verwurzelt: Auch für den Staat zählt vor allem der Steuerzahler – wer dazu nicht in der Lage ist, wird vernachlässigt. Dabei ignoriert das System völlig, dass es sich damit von seinem Lebenselix­ier abschneidet. Immer weniger Menschen haben heutzutage den Mut, eine Familie zu gründen und damit das Risiko einzugehen, sich durch zusätzliche Kosten und drohende Ar­beit­slosigkeit in die Armut zu stürzen. Und gerade für Kinder ist Armut mehr als eine vorübergehende Belastung. Sie bedeutet zumeist einen Mangel an Bildung und damit an Per­spek­tiven und Chancen. So wird Armut zum Fatum für das ganze Leben.

„Das Beste, was Bildung leisten kann, ist Menschen in klaren Werthal­tun­gen zu verwurzeln, sie zu beziehungsfähigen, innerlich reichen Persönlichkeiten zu bilden.“

Immer mehr Kinder in Deutschland leben in Armut – und werden sie vo­raus­sichtlich ein Leben lang nicht mehr loswerden, denn Chancen- und Per­spek­tivlosigkeit werden vererbt. Es geht in der heutigen Gesellschaft gar nicht mehr so sehr um oben und unten, sondern um drinnen und draußen. Die Armen sind draußen und wissen es. Für niedrig Qual­i­fizierte gibt es immer weniger Jobs. Mehr als 10 % der Ju­gendlichen in Deutschland gehen ohne Abschluss von der Schule ab – ein Skandal. Es darf allerdings auch nicht zugelassen werden, dass Bildung in der öffentlichen Diskussion nur als Mittel zur Qual­i­fika­tion gesehen wird. Kinder sollen nicht zur Schule gehen, um baldmöglichst optimal zu funk­tion­ieren und Gewinn zu bringen, sondern um ihre Persönlichkeit zu entwickeln und sich sozial entfalten zu können.

Ein neuer New Deal

Unser bisheriger Gesellschaftsver­trag war erkennbar an Dingen wie sicheren Arbeitsplätzen, festen Lohn­steigerun­gen, Chancen auf Wiedere­in­stel­lung nach Jobverlust. Diese Garantien fallen heute weg. Zum Teil ist die Glob­al­isierung dafür ve­r­ant­wortlich, dass der Vorsprung der westlichen In­dus­tri­es­taaten dahin­schrumpft. Doch auch Solidarität und Vertrauen schwinden in einem System, dass sich der Kontrolle immer mehr entzieht und verrückt zu spielen scheint. Aus dem Ver­trauensver­lust resultieren Krisen wie die derzeitige, die Unternehmen und Existenzen verschlingt.

„Nach wie vor gelten Kinder vielfach als bloßes ‚Privatvergnügen‘ und die fam­i­lien­poli­tis­chen Leistungen des Staates als Sub­ven­tio­nen von Familien.“

Manche Politiker begehen heute den gleichen Fehler wie ihre Vorläufer zu Zeiten der Weltwirtschaft­skrise: Sie beschwören die Selb­s­theilungskräfte des Marktes und ignorieren die akuten Probleme der Menschen. Damals brachte Franklin D. Roosevelt als einziger etwas Neues, indem er den New Deal verkündete: Die wirtschaftliche und soziale Struktur wurde umkon­stru­iert, um bessere Bedingungen für jedermann zu schaffen. Heute stehen wir wieder vor einem Markt, der aus den Fugen geraten ist, und wir brauchen einen neuen Gesellschaftsver­trag, einen neuen New Deal.

Soziale Gerechtigkeit

Es geht um die soziale Gerechtigkeit, deren Gewährleistung überwacht werden muss. Auf globaler Ebene müssen Kon­troll­gremien mit mehr Kompetenz aus­ges­tat­tet werden, damit die Macht der globalen Konzerne beschränkt wird. In Deutschland sollte eine Gruppe unabhängiger Experten – ähnlich wie die so genannten Wirtschaftsweisen, die den ökonomischen Zustand des Landes begutachten – ein Auge auf die soziale Entwicklung haben, Probleme benennen und die Regierung bei der Suche nach Lösungen beraten. Die Gesellschaft muss sich vermehrt der Aufgabe widmen, Arbeitslose neu zu qual­i­fizieren, zu motivieren und anzuleiten. Und da Vollbeschäftigung am ersten Ar­beits­markt auch in Zukunft eine Illusion bleiben wird, sollte Ar­beit­slosen mittels staatlich unterstützter Jobs Beschäftigung angeboten werden.

„Ohne den sozial­staatlichen Ausgleich der Klas­sen­ge­gensätze, die im Frühkap­i­tal­is­mus geherrscht hatten, hätte die Mark­twirtschaft im Kampf mit dem Sozialismus sicher den Kürzeren gezogen.“

Unternehmen sollten an diesem zweiten Ar­beits­markt ebenfalls teilnehmen dürfen. Erleichtert werden kann deren Engagement durch Zuschüsse für In­te­gra­tionsar­beit­splätze oder Lohnkosten-Sub­ven­tio­nen. Diese Sub­ven­tio­nen fließen direkt in die Wirtschaft und fördern somit deren Wachstum. Durch diese Maßnahmen würde der Staat Ar­beit­slosen­geld einsparen und zusätzlich Steuern und Sozial­ab­gaben einnehmen. Zugleich würde das Gesund­heitssys­tem entlastet, da Langzeitar­beit­slose erheblich häufiger erkranken als Berufstätige. Und schließlich ließe sich so die Schwarzarbeit reduzieren.

Über den Autor

Reinhard Marx ist Erzbischof von Freising und München. Er hat außerdem den Vorsitz der Deutschen Kommission Justitia et Pax sowie den Vorsitz der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischof­skon­ferenz.