Geschmack aus dem Reagenzglas
Ein ganzer Industriezweig agiert im Verborgenen, ohne Pressestelle, ohne Werbeabteilung, und im Internet findet man auch nichts über ihn. Dabei machen diese Konzerne Milliardenumsätze. Sie bleiben aber so unsichtbar wie ihre Produkte: Aromen. Unser ganzes bunt verpacktes Essen wird damit geschmacklich auf natürlich getrimmt, „maskiert“, wie es im Fachjargon heißt. Die „Hühnersuppe mit Nudeln“ von Knorr z. B. wäre ohne Aroma eine sehr fade Angelegenheit, weil die enthaltenen zwei Gramm Trockenhuhn-Kügelchen in vier Tellern Suppe keinen Geschmack ergeben. Was dem kümmerlichen Geflügelrest nie gelingen würde, schafft das eine Gramm Aroma spielend.
„Wenn der Mensch nun, mit den Mitteln der Chemie, nur vorgespielt bekommt, er äße Bouillon, in Wahrheit aber isst er eigentlich nur Wasser mit chemisch erzeugten Geschmacksillusionen, dann fehlt ihm etwas, nämlich all das, was Kraft macht.“
Auch Bio-Produkte schützen vor Aroma nicht; deshalb darf der „Natur Joghurt mild“ der Bioland-Molkerei Andechs auch nach Erdbeere schmecken, obwohl keine Erdbeeren drin sind. Die Bio-Verordnung der EU verbietet das nämlich nicht. Es gibt weltweit auch gar nicht genug Erdbeeren, um all die Leckereien, vom Eis bis zur Mousse, damit herzustellen. Die Nachfrage nach Geschmack aus dem Chemielabor ist also groß. 170 000 Tonnen Aromen werden allein in der EU jährlich verbraucht. Hinzu kommen 95 000 Tonnen des Geschmacksverstärkers Glutamat. Dabei reichen bereits minimale Mengen für die „Geschmackslüge“: 70 Millionstel Gramm 2-Acetyl-1-Pyrrolin pro Kilo braucht man etwa, um der Weißbrotkruste ihren Geschmack zu verleihen. Der nämlich geht heute deshalb verloren, weil alles viel zu schnell gebacken wird. In der modernen Nahrungsmittelproduktion steht der Geschmack nicht an erster Stelle. Die Rohstoffe Obst, Gemüse und Fleisch müssen zunächst industrietauglich sein, lange halten, die Fließbandherstellung überstehen und billig sein. Der Geschmack kommt ganz zum Schluss. In Form einer Prise Aroma.
Künstliche Natur
Nun möchte der Kunde aber gerne natürliche Lebensmittel mit natürlichem Geschmack. In einem Päckchen Sauce hollandaise erwartet er darum Sauce hollandaise aus Butter und Eiern. Wenn stattdessen Pflanzenfett und Farbstoff E 160 F enthalten sind, darf auf der Packung laut höchstem europäischem Gericht trotzdem „Sauce hollandaise“ stehen, denn schließlich können Sie ja, wenn Sie Wert darauf legen, das Kleingedruckte lesen. Dass dort dann oft sehr fantasievoll formuliert wird, stört das Gericht nicht. Sogar das Wort „Natur“ darf verwendet werden, wenn der Kunstgeschmack z. B. von natürlichem Rizinusöl (Pfirsichgeschmack) oder einem natürlich im Boden lebenden Pilz (Kokosgeschmack) stammt.
„Die Sägespäne, aus denen die Künstler der Holzmindener Labors ihr Erdbeeraroma gewinnen, entstammen australischen Bäumen – sind also unzweifelhaft natürlichen Ursprungs.“
Symrise, eine Firma aus dem weserbergländischen Holzminden, scheffelt Milliarden. Bei ihr werden Sägespäne aus Australien mit geheimen Zutaten zu „natürlichem Erdbeeraroma“ verkocht. Das klappt auch mit Himbeere, Schokolade oder Vanille. Die Industrie ist glücklich mit dem synthetischen Verfahren, denn mit der wirklichen Natur kann sie nicht arbeiten. Echte Erdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren sind viel zu empfindlich, Zwiebeln zu unterschiedlich groß und verschieden scharf, Käse zu verderblich. Die Aromen aus der Retorte dagegen sind von stets gleichbleibender Qualität. Der Verbraucher merkt gar nicht, dass z. B. die hocharomatischen Himbeerstückchen in Wirklichkeit robuste Preiselbeeren sind, die von Chemiekünstlern der Firma Ocean Spray mit natürlichen Aromen umgepolt wurden. All das produziert die Nahrungsmittelindustrie inzwischen – vergleichsweise – spottbillig. Bis beispielsweise echte Vanilleschoten gepflückt, ausgepresst, getrocknet und zu Pulver gemahlen sind, kostet das Endprodukt pro Kilo etwa 2000 €. Synthetischer Vanillegeschmack ist für schlappe 10 € zu haben.
Zielgruppe Kind
Die oberste Priorität der Nahrungsmittelproduzenten heißt: Verkaufen. Dazu muss man diejenigen auf seine Seite bringen, die über Kaufkraft verfügen oder Kaufentscheidungen beeinflussen. Die Konzerne haben deshalb die Kinder im Visier. In Deutschland verfügen die 6- bis 19-Jährigen über 20,4 Milliarden Euro und bestimmen zudem, was die Eltern in den Einkaufswagen packen. Wenn man die Kleinen dazu bringt, dass sie das Kunstaroma dem natürlichen Geschmack vorziehen, stehen die Chancen gut, dass sie ein Leben lang daran festhalten. Deshalb wird jeder neue Erdenbürger gleich mit vanillinintensiver Fertignahrung empfangen, dann mit Gläschenkost verwöhnt und später mit Milchschnitte, Fruchtzwergen, Kinder-Ravioli und Softdrinks werbetechnisch manipuliert. Derart geprägt, schmecken frische Himbeeren ziemlich öd. Wo industrielles Fastfood zur Gewohnheit und Cola zur Sucht wird, beginnt es allerdings gefährlich zu werden. Phosphor in Softdrinks z. B. macht bei gleichzeitigem Kalziummangel brüchige Knochen.
Kontrolle ja, aber wie?
Wenn auf der Cola draufstehen würde, dass sie brüchige Knochen macht, könnte der Verbraucher selbst entscheiden, ob er die Brause trotzdem trinkt. Aber was aufs Etikett muss, entscheidet eben nicht der Verbraucher, sondern ein Gremium mit Sitz in Rom, die Welternährungsorganisation. An ihren Tagungen sind neben Vertretern der Regierungen auch Firmengesandte und Lobbyisten anwesend, nicht zuletzt, weil die Teilnehmer von Coca-Cola, Nestlé und Hoffmann-La Roche einigen Sachverstand mitbringen. Die stimmberechtigten staatlichen Vertreter holen sich von diesen Experten Rat ein. So verwundert es nicht, dass die weltweit gültigen Regeln für die Kennzeichnung von Lebensmitteln irgendwie industriell beeinflusst wirken.
„Wer will in den Fabriken schon mühsam Zitronen auspressen, wenn ein Schimmelpilz die Frische-Säure viel preisbewusster ausspuckt.“
Tatsächlich würden internationale Gremien den Verbraucher schon gerne schützen, nur hapert es noch an der Umsetzung. Die Lebensmitteltechnik entwickelt wie besessen Tausende von Substanzen; da ist es gar nicht möglich, alles jahrelang an Ratten zu testen, bevor es auf unseren Tellern landet. Dennoch hat ein Expertengremium der Vereinten Nationen mittlerweile 1500 von 2500 verschiedenen Kunstaromen untersucht. Das krebserregende Acetamid wollte das Berliner Verbraucherministerium danach sofort aus der Zutatenliste der Geschmacksstoffe verbannt wissen – worauf die Aromaindustrie beteuerte, Acetamid überhaupt nicht zu verwenden. Was sie aber verwendet, bleibt nach wie vor geheim, man lässt sich nicht in die Töpfe gucken, die Hexenküche bleibt versperrt.
„In den USA, wo die Kinder noch dicker sind und gar nichts anderes kennen als Industriekost, fanden Kardiologen schon 1990 bei jedem dritten Kind Ablagerungen an den Gefäßwänden – und das im Alter von unter fünf Jahren.“
Die Überwachung von staatlicher Seite scheitert schon allein deshalb, weil der finanzielle Aufwand zu hoch wäre. Wenn keiner die genauen Rezepturen kennt, ist es vergebliche Liebesmühe, die Tütensuppe auf ihre Aromastoffe hin zu untersuchen. Die Lebensmittelchemiker müssten nach Tausenden von Rohsubstanzen fahnden, von denen mit Glück einige in einem Produkt enthalten sind. Eine Maus in der Küche lässt sich aufstöbern, aber chemische Substanzen, die unseren Geschmack hinters Licht führen, bleiben unentdeckt.
Geschmack als Orientierungshilfe
Für viele ist Geschmack einfach ein tolles Erlebnis – die Natur hingegen hat das anders geplant: Der Geschmackssinn ist wichtig für unser Überleben, um Genießbares von Verdorbenem oder Giftigem zu unterscheiden. Schon Neugeborene können zwischen süß, bitter und sauer unterscheiden. Das nutzt die Nahrungsmittelindustrie geschickt aus, indem sie die Winzlinge mit ihrer Fertignahrung an synthetisches Vanillin gewöhnt. Das Fatale daran: Wird dem Körper mittels Aroma vorgemacht, er bekomme z. B. Rind zu essen, stellt sich der gesamte Verdauungsapparat darauf ein. Nur kommt dann kein Rind in den Magen, sondern der Kunstgeschmack Ribotide. Mit dem kann der Verdauungstrakt nicht so viel anfangen und signalisiert deshalb: Bitte weiteressen. Irgendwann, so hofft der betrogene Körper, wird das Rind schon noch kommen.
„Auch mit modernsten Methoden ist es nicht möglich, eine Tütensuppe oder ein Kartoffelpüree ins Analysegerät zu kippen und auf der Anzeigetafel die Ingredienzien aufleuchten zu lassen.“
Die Täuschung funktioniert auch bei Tieren. Ferkel fressen deutlich mehr – und nehmen schneller zu –, wenn ihr Fraß nach Erdbeeren und Sahne schmeckt. Von Natur aus würden Schweine, Kälber, Pferde, Hühner ebenso wie Hund und Katze das ihnen vorgesetzte Kunstfutter gar nicht anrühren. Schmeckt es dagegen nach Vanille, Kräuterwiese, Regenwurm oder Maus, lässt sich auch die Tierwelt darauf ein. All das mit ein wenig Aroma, das aus dem gleichen Labor stammt wie das für unsere Joghurts. Der Instinkt wird ebenso lahmgelegt wie das Gefühl für Sättigung.
„Nach der Tortur mit Enthauptungsmaschine und Schraubenpresse können die zum Standard-Block mutierten Meeresbewohner, gleichsam als Dank und Ausgleich, zu einer Karriere antreten, die sie sich ursprünglich nie hätten träumen lassen.“
Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie nicht mehr in Ihre Jeans passen, obwohl Sie Produkte mit Süßstoff statt Zucker konsumieren. Ferkel, die mit Aroma und Süßstoff gefüttert wurden, waren die Testsieger im Mastversuch. Die Nahrungsmittelindustrie schüttet die synthetischen Süßstoffe auch nicht aus Sorge um die Volksgesundheit in ihre Produkte. Sie sind schlichtweg billiger als Zucker und werden deshalb großzügig eingesetzt, auch in Essiggurken oder Rollmöpsen etwa. Die Kunstsüße aber fordert im Körper Insulin an, welches jedoch mangels echten Zuckers keine Arbeit hat und den Körper zum „cephalischen Insulinreflex“ treibt, zu Deutsch: Heißhunger erzeugt.
Essen kann eklig sein – und tödlich
Resteverwertung ist per se nicht verkehrt, das machen wir auch im Haushalt. Anders als die Lebensmittelindustrie wirft die Hausfrau Abfall aber in die Mülltonne. Schade um diese billigen Grundstoffe, finden die Lebensmittelingenieure und erfinden einen Fleischersatz aus Klärschlamm und Sojaproteinen, einen Gesundtrunk aus dem Käseabwasser Molke, Kaviar aus Schlachtblutplasma oder eine Pralinenfüllung aus Erbsen. Zu dieser Art Fakefood gehören auch Surimi, geschmacklose Blöcke aus zerkleinertem und gepresstem Fischfleisch, angereichert mit jeder Menge Zusatzstoffen (Enzyme, Formaldehyd, Fischfett, Polyphosphat etc.). Und das Fischfleisch ist nicht etwa Seelachs, sondern der eher unattraktive Mintai und das Bartwalfutter Krill.
„Fragt sich nur, ob die künstlichen PUFA-Gaben wirklich helfen. Immerhin essen die Eskimos ja echte Fische und nicht den geruchsfreien Hoffmann-La-Roche-Fischöl-Erdbeerjoghurt.“
Für den Verbraucher wichtig wäre vor allem die Kennzeichnung dessen, was er da herunterschluckt. Ersatzstoffe können krank machen, wie z. B. der Fettersatzstoff Olestra. Andere Inhaltsstoffe sind u. U. sogar lebensbedrohlich. Warnhinweise fehlen jedoch. Einem Fischallergiker etwa kann ein Zitronenplätzchen zum Verhängnis werden, wenn es mit Vollei zubereitet wurde: Schließlich wird Batteriehühnern oft Fischmehl vorgesetzt. Sollten Sie eine Milchallergie haben, ist der Batida de Coco riskant, weil auf dem Etikett das im Likör enthaltene Milcheiweiß nicht aufgeführt ist.
Gesundheit aus dem Labor
Die Lebensmittelbranche ist angeblich gezwungen, solche Wege zu gehen, der Profitabilität wegen. Auf der Suche nach neuen Märkten hat sie deshalb angefangen, der Natur ins Handwerk zu pfuschen. Degussa erfand Eier ohne Cholesterin, Monsanto bietet das Hühnerprodukt mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren an. Hoffmann-La Roche wiederum quetscht die so gesunden PUFAs (Polyunsaturated Fatty Acids, die mehrfach ungesättigten Fettsäuren) aus Fischabfällen heraus, damit sie in Brot, Kekse, Joghurt und Babynahrung gemischt werden können.
„Angesichts des undurchsichtigen Dschungels neuer Nahrungsmittel und widersprüchlicher Informationen bezüglich ihres Nutzens neigen neuerdings viele Menschen dazu, den Hering einfach als Hering zu essen, das Huhn als Huhn – und das auch noch möglichst aus natürlicher, artgerechter Haltung.“
Gibt es überhaupt noch Möglichkeiten, sich gesund zu ernähren? Ja, indem Sie Ihre Nahrung selbst zubereiten, und zwar möglichst aus Öko-Lebensmitteln. Letztere sind allerdings ein wenig teurer, und viele Konsumenten trauen mangels Kenntnis weder den Versprechungen noch den Bezeichnungen der Biobranche. Naturnahe Lebensmittel sind uns leider schon ein wenig fremd geworden. Wohl deshalb lief die Schweizer Detailhandelskette Migros 2003 mit ihrem Angebot an Fleisch aus artgerechter Haltung ins Leere: Die Verbraucher wollten schlicht kein rosafarbenes Kalbfleisch. Kalbfleisch hatte für sie von den blutärmeren, schlecht gefütterten Kälbern zu stammen. Guten Appetit.